Als käme es nur auf die Gefühle an, ein Leben lang gemalt – hopsende Vorfreude, blasse Stellen von Langeweile, Schattierungen der Angst, Sehnsucht, gehüllt in ein Sonnenuntergangsorange, heiße Wut in rot, Freudenkleckse – Emotionen. Meine Großmutter stirbt und ich frage mich: „Was werde ich einmal mitnehmen? Was bleibt mir von all den Jahren?“ Ich glaube, es wird ein Gemälde sein. Meine Erinnerung wird in den Farben meiner Gefühle malen. Und alle Erfahrungen werden nur Gelegenheiten, zu fühlen. Vielleicht ist dies das Spiel.

Es gibt wenige Menschen, die mir dafür, wie sie ihre Emotionen leben, Modell sind. Die auch starke Emotionen authentisch kommunizieren – über den Blick, die Stimme, mit sprechendem Körper. Und dann passiert etwas Magisches: Im Kontakt mit den eigenen Gefühlen gewinnen sie eine Präsenz, die ausstrahlt und mich mit meiner Aufmerksamkeit in den Bann zieht. Wie Bildhauer schlagen sie aus ihrem inneren Erleben einen wahrhaftigen Ausdruck, wo sie in Menschlichkeit erstrahlen, und ihre Schönheit berührt mich. Emotionen sind der einzige Schlüssel zu den anderen. Menschen schließen sich auf über Gefühle: ein guter Redner oder Schauspieler, eine Fotografie, ein Bild, eine Geschichte – sie wirken über die Emotionen, die sie vermitteln. Und ich berühre das Herz eines Menschen, weil ich präsent bin, im Kontakt mit mir selbst. Menschen mit Charisma sind anziehend, weil sie spürbar sind, in ihrer emotionalen Kraft sind. Kleine Kinder sind noch einfach im Kontakt mit ihren Emotionen, sie kommunizieren über Gefühle. Auch wer mit Tieren oder Pflanzen spricht, übermittelt letztlich Emotionen.
Obwohl so gesehen keine Trennung existiert, ziehen wir uns häufig zurück, wenn wir getroffen sind oder verwirrt. In einem Kurs über Emotionen habe ich die folgenden vier Punkte als Orientierung gefunden, um im Kontakt zu bleiben. Eine Art „emotionales Übungsprogramm“:

•    sich nicht isolieren,
•    kommunizieren wollen (und sei es nonverbal),
•    „Die anderen sind wie ich“,
•    Du bist stark, wenn du sprichst.

Auf diesem Kurs, der in Damanhur in Oberitalien stattfand, wurde unterschieden zwischen Emotionen und „Emotivität“, also aus dem Affekt heraus handeln. Emotionen sind intelligent, der Affekt nicht. Er reißt uns zu unbedachten Handlungen hin. Sein Ursprung ist nicht kontrollierbar. Möglich ist es aber zu entscheiden, ob ich meine Gefühle leiten, in eine Richtung lenken möchte oder mich mitreißen lasse. Die Entscheidung liegt bei mir. Gegen den Fluß dieser Strömung können wir uns nicht stellen. Im besten Fall kämen wir nicht von der Stelle. Wir alle bewegen uns auf diesem Fluß, mit unterschiedlichen Mitteln. Häufig strampelnd, weggerissen, überspült – mancher vielleicht in einem kleinen Boot. Das Ziel liegt darin, auf dem Fluß der Emotionen segeln zu lernen – getragen von ihrer Kraft. Der Unterschied ist der Gebrauch des freien Willens. Ich habe Entscheidungsspielräume, wie ich meine Emotionen lebe. Ob ich im Affekt explodiere, alles „herauskotze“ oder runterschlucke, ob ich mich zumute mit dem, was ist.
Ich halte diese Arbeit für schwer, kompliziert – und befreiend. Nicht unsere Emotionen führen uns an Grenzen, sondern unsere mangelnden Fähigkeiten, sie auszudrücken. Emotionen sind niemals schlecht oder gut. Sie sind unser Leben. Emotionen sind intelligent. Daher funktionieren sie umso besser, je weniger wir versuchen, sie zu konditionieren und zu interpretieren. Ich dachte, meine Rationalität könnte mir dabei helfen. Irrtum. Rationalität hat keine Bedeutung für das Leben von Emotionen. Letztlich ist Rationalität ein Konstrukt, eine Aufstellung unserer Prioritäten. Es kann kein Konzept von Rationalität geben: Weil Erfahrungen sich nicht genau wiederholen, können logische Folgen nicht funktionieren.
Einen Ausdruck für unsere Emotionen zu finden über Kunst, über Sprechen, über was immer, hat eine große Bedeutung für die Evolution des Menschen. Die Alchemie der lebendigen Kräfte arbeitet mit Emotionen, in ihrer stärksten Ausprägung im Tantrismus. Da Alchemie praktische Magie ist, sind wir gefordert, als „Magier“ unsere Emotionen wahrzunehmen, zu verstehen, zu lenken. Dann hat diese Arbeit eine Bedeutung, die weit hinausgeht über eine (tiefen)psychologische Arbeit. Es tritt ein Akt der Schöpfung hinzu, ein zusätzlicher Wert, weil wir unseren freien Willen gestaltend einsetzen.

Die eigentliche Magie, die Veränderung der Welt, ist die Veränderung in uns. Die Bewegung der Emotion aufnehmen, ihr eine Richtung geben. So lange bei ihr bleiben, bis sie erkannt ist, für jetzt. Und dann weitergehen. Entscheiden. Segeln, wohin ich will, getragen von ihrer Kraft.

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