Eine Kurzgeschichte

Richtig bedacht, ist es nicht verwunderlich, dass Jean-Paul Sartre der Erste ist, der Jesus besucht. Ohne Umschweife eröffnet er das Gespräch: „Ich glaube an nichts und ich glaube nicht. Ich glaube nicht einmal an das Nichts.“ Jesus schaut ihn schmunzelnd an und bietet ihm einen Platz an. „Das gefällt mir. Du glaubst also, dass du nichts glaubst? Das ist ganz köstlich. Ich frage mich nur: Wer glaubt das?“

Sartre: Wer glaubt was?…………
Jesus: Wer glaubt demjenigen, der nichts glaubt?

Sartre verschluckt sich am viel zu heißen Tee. Hustend stellt er die Tasse zurück auf den Tisch: „Bravo!“ Irgendwie ist ihm danach, in die Hände zu klatschen. Er besinnt sich gerade noch rechtzeitig und schaut sich stattdessen seine gepflegten Fingernägel an. Aus dieser Bedächtigkeit heraus gibt er unumwunden zu: „Diese Frage lässt sich ganz unmöglich beantworten. Alles, was ich sagen kann, ist – ich war und bin ein Nihilist. Und ich werde immer Nihilist sein.“

J: Ja, das habe ich verstanden. Aber was ist ein Nihilist? Was macht ihn aus?
S: Ihm fehlt die Möglichkeit, an irgendetwas zu glauben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich aus freien Stücken Nihilist bin oder ob ich dazu gezwungen bin, das Leben eines Ungläubigen zu führen. Mir ist alles relativ. Auch ich selbst. Wenn ich es recht bedenke, erscheine ich mir immer wieder neu. Tag für Tag. So wie du gerade jetzt. Ich würde mich nicht zu der Behauptung versteigen, zu wissen, wer ich bin.
J: Du bist klug genug, um das Unwahre zu durchschauen. Aber dir fehlt die Demut, die Wahrheit zu schauen. Das ist alles.
S: Demut – so ein erbärmliches Wort kommt in meinem Wortschatz nicht vor!
J: Das ist es, was ich meine. Für deine Ohren muss es wie eine Demütigung klingen, und das, weil deine Ohren die stolzen Ohren eines Nihilisten sind. Wie lange willst du dieses überaus langweilige Spiel noch spielen?

Sartre fühlt sich plötzlich unwohl: Ich habe dir gleich gesagt, dass ich an nichts glaube. Das habe ich dir nicht verschwiegen. Und jetzt verschweige ich dir ein Weiteres nicht: Ich glaube auch nicht an dich. Du bedeutest mir nichts!

J: Das ist der Grund, warum du mich besuchen darfst. Ohne es zu wissen, bist du überaus bescheiden. Zumindest bescheiden genug, um aus mir keinen Heiland zu machen.
Sartres Gesicht hellt sich auf: Jetzt erstaunst du mich. Eine solche Antwort hätte ich dir nicht zugetraut.
J: Das ist die Voraussetzung. Wer mich verstehen will, sollte mir nichts zutrauen – nicht das Geringste.
S: Ich habe nicht gesagt, dass es mir darum geht, dich zu verstehen. Aber es gefällt mir, dass du keine Position zu haben scheinst.
J: Natürlich nicht. Ich bin kein Positionslicht auf hoher See. Ich biete den Seefahrern keine Orientierung an. Wenn es nach mir ginge, dann sollen ihre Schiffe an den Felsen zerschellen.
Verdutzt schaut Sartre Jesus an: Du willst die Welt nicht erretten? Hältst du dich denn nicht für den von Gott gesandten Erlöser?
J: Wie bitte? Welche Welt? Wovon sprichst du eigentlich?
S: Von der Welt, in der wir leben. Von diesem unseligen Meer aus Trübsinnigkeit.
J: Du sprichst von deiner Welt. Sie besteht aus sich ständig wiederholenden und im Kreis drehenden Gedanken. Darin kannst du das Neue nicht entdecken. Nur die Entdecker sind offen genug, um zu mir aufzubrechen. Ihnen geht es nicht mehr darum, sich an den willkürlich aufgehängten Positionslampen zu orientieren. Statt sich in die scheinbare Sicherheit der Häfen geleiten zu lassen, wollen sie die Häfen der Welt ein und für alle Mal hinter sich lassen – und leben.

Jesus schaut Sartre an und schenkt ihm auf sein Nicken hin neuen Tee ein. Bevor wir weiter sprechen, sollten wir uns auf Folgendes einigen: Ich sehe in mir keinen Hirten und in dir kein Schaf. Lasse die Schafe bei den Hirten und dann lasse die Hirten mit ihren Schafen allein.

S: Das ist ganz in meinem Sinne. Einsichtig und deutlich leiser fügt er hinzu: Und doch – ich werde von einer unglaublichen Dummheit verfolgt. Oder angezogen.
J: Natürlich! Es ist einfach dumm, stolz auf die eigenen Gedanken zu sein. Und es hat überaus weitreichende Konsequenzen. Du fängst an, an dich selbst zu glauben, und vergisst, dass Du die Auferstehung und das Leben bist. Du bist niemand, an dem du dich festhalten kannst. Da ist nur Leben! Verstehst du?
S: Und wie ist das bei dir? Bist du Jesus oder bist du’s nicht?
J: Ich bin es. Aber nicht so, wie du Jean-Paul bist. Für mich ist das keine persönliche Angelegenheit …
Sartre versucht sich zu retten und bemerkt aufmüpfig: Das hört sich wenig originell an!
J: Vergiss dein Bemühen um Originalität! Du bist ein Original und hast dich von Anfang an in Gottes Hand befunden. So ist das.

Selig lächelnd erwacht Sartre aus tiefem Schlaf …

Über den Autor

Avatar of Daniel Herbst

ist spiritueller Lehrer und Autor zahlreicher Bücher. Er lässt sich ganz direkt vom Leben inspirieren, in dem er den einzig wahren Meister sieht. Auf seinen Seminaren geht es nicht um abstrakt-religiöse Konzepte, sondern ganz unmittelbar um den Menschen, der verwirklichen will, dass er selbst das Gewünschte ist.

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