Heilung durch Selbsterkenntnis – im Westen nichts Neues, denkt man. Doch wenn wir wirklich den zentralen wunden Punkt unserer Persönlichkeit erkennen und uns diesen auch im Alltag bewusst machen, dann werden die Abwehrmechanismen des Egos transparent. Und fallen mit der Zeit um wie Dominosteine – Stück für Stück. Venus Sequence heißt ein Selbsterkenntnis-System, das sich aus dem Human Design System entwickelt hat und durch seine Einfachheit und Schlichtheit besticht.

Während nach jahrelanger Beschäftigung mit dem Enneagramm der eigene Typus trotz der Unterstützung eines qualifizierten Lehrers immer noch im Nebel der eigenen Blindheit verborgen bleiben kann, weiß man bei der Venus Sequence vom ersten Augenblick an, was Sache ist. Der eigene Typus erklärt sich nämlich aus dem Geburtszeitpunkt wie in der Astrologie. Doch während es in der Astrologie zwölf Tierkreiszeichen und jede Menge Planeten mit ihren unterschiedlichen Arten des Zusammenspiels gibt und im Enneagramm neun unterschiedliche Typen mit Flügeln, verschiedenen Ebenen und Integrations/Desintegrations-Richtungen auch bei Profis noch Verwirrung stiften können, kommt die Venus Sequence in ihrer Essenz mit sechs unterschiedlichen Arten aus, wie Menschen in der Welt agieren und reagieren. Diese Fokussierung auf das absolut Wesentliche macht dieses System so einfach handhabbar und wirkungsvoll und ermöglicht es, sich die Grundzüge der eigenen Persönlichkeit in einem Tagesseminar klarzumachen.

Der eigene Typus entspricht gleichzeitig dem eigenen tiefsten wunden Punkt.
Dieser Punkt ist nicht etwas, was andere uns angetan haben, sondern das, womit wir ins Leben getreten sind, unsere Lernaufgabe und gleichzeitig in seiner erlösten Form unser Potenzial. Ihn zu kennen kann unsere sämtlichen Abwehrstrategien bloßlegen und die Masken unserer Persönlichkeit Stück für Stück enttarnen. Um den Prozess etwas verständlicher zu machen, erläutere ich ihn am Beispiel meiner eigenen Erfahrung.

 Die Abwehr enttarnen

Venus_Schnecke.jpgEs geht bei der Venus Sequence zwar um das Erkennen unseres wunden Punktes, aber dieser ist bei den meisten Menschen naturgemäß sehr unbewusst. Daher nähert man sich diesem Ort erst einmal über den sogenannten Auslösepunkt, das heißt den Punkt, an dem wir unser Abwehrverhalten aktivieren, um die Wunde nicht zu spüren. Auch er leitet sich aus dem Geburtszeitpunkt ab, wie alles in diesem System. Bei mir ist der Auslösepunkt die Vier, das heißt, ich habe Angst, abgelehnt zu werden, lehne daher vorsorglich schon selbst ab, bewerte also andere sehr stark, schaffe eine emotionale Mauer um mich und zeige nur meine nette oder souveräne Maske. Das damit zusammenhängende Gefühl, nicht so in Ordnung zu sein, wie ich bin, ist aber ebenfalls noch eine Abwehrschicht, die über der eigentlichen Wunde, dem Kernproblem, liegt. Denn es ist weniger Gefühl als Gedanke, mentales Konstrukt.

Das Kernproblem, der wunde Punkt, ist das, was wir absolut nicht fühlen wollen, womit wir aber ins Leben getreten sind, um eben genau das zu spüren und zu erforschen. Es ist unsere zentrale Lernaufgabe im Leben, das Tor, durch das wir hindurch müssen, wenn wir lebendig werden, wenn wir tiefer gehen, wenn wir zu uns selbst, unseren tiefen Seelenqualitäten kommen wollen. Was uns seit dem Zeitpunkt der Empfängnis geschehen ist, ist nur dazu da, diese Lernaufgabe vorzubereiten und das Thema in die Sichtbarkeit zu bringen.

Keiner hat Schuld

Jeder Mensch, der diesen wunden Punkt in uns berührt hat, jeder, der uns verletzt hat, war quasi nur ausführendes Organ einer höheren Bestimmung, um uns zu unserer Aufgabe hinzuführen.

Bei mir ist der wunde Punkt innerhalb der Venus Sequence die Eins, die Unsicherheit, womit auch sehr stark das Thema Angst verbunden ist. Das Schöne: Wenn man diesen Punkt kennt, dann kann man einerseits alle Schuldprojektionen fallen lassen, weil ja alles nur Mittel zum Zweck für unser Wachstum war und ist, andererseits kann man durch die immer wiederkehrende Bewusstmachung des wunden Punktes im täglichen Leben den Weg zu seiner Integration gehen. Bei mir heißt das, erstens immer wieder meine Angst vor Ablehnung einfach als ein Muster und nichts Persönliches zu sehen und sie zuzulassen und mich dann zweitens immer wieder auch der Unsicherheit zu stellen, denn Heilung geschieht, wenn ich diese Unsicherheit spüre, da sie ja das Tor zu meiner Tiefe ist. Dahinter wartet das Geschenk, die Verletzlichkeit, die Weichheit, das offene Herz. Vor dieser Unsicherheit habe ich natürlich große Angst und versuche sie zu verbergen, ja, sie möglichst aus meinem Bewusstsein zu verbannen. Aber in meiner tiefsten Wunde liegt auch das Potenzial, ein echter Fels in der Brandung zu werden, der auch anderen Sicherheit bietet. Um mein Muster zu transformieren, bedarf es der Offenheit, Direktheit, des Zu-mir-selbst-Stehens und des Mutes, mich auch verletzlich zu zeigen.

Zu-mir-selbst-Stehen

Irgendwie war mir das alles schnell klar, weil nicht neu, aber ich hatte es richtiggehend vergessen. Vor allem das Zu-mir-selbst-Stehen konnte ich in diesem Zusammenhang erst gar nicht wieder einordnen. Doch zwei Tage später rasteten die Zahnräder ein. Ein Bekannter hatte mir von sich bearbeitete Texte geschickt und ich las sie durch. Dabei fiel mir einer auf, der absolut schlampig redigiert war, was ich ihm auch schrieb. Ich überlegte mir dann, ob ich nicht zu heftig gewesen war, aber ich sah es einfach so. Er schrieb dann etwas angefressen zurück und rechtfertigte sich und ich überdachte noch einmal, ob mein Verhalten korrekt war, aber ich stand zu meiner Sicht der Dinge. Und da merkte ich: In dem Moment, in dem ich bereit bin, alle Gefühle zu fühlen, also in meinem speziellen Fall Unsicherheit, die Angst abgelehnt, kritisiert und nicht mehr gemocht zu werden, wenn ich mich mit meiner Meinung zeige, wenn ich also bereit bin, die Folgen meiner Handlungen zu fühlen, bin ich frei zu mir zu stehen und aufzuhören, mich zu verbiegen. Wenn ich also fähig bin, auch mir sagen zu lassen, dass ich schlampig gearbeitet habe und die dabei in mir auftauchenden Gefühle auszuhalten, dann kann ich das auch anderen ohne taktisches Rumeiern, Pseudo-Verständnis, falsche Liebenswürdigkeit und Drumherum-Lavieren mitteilen, falls ich dieser Überzeugung wirklich bin. Ich sage, was ich sagen will, und spare mir die ganze Energie, ewig vorauszuschauen, was meine Handlungen wohl auslösen, wie sich das auf mich auswirkt und ob ich das Echo auch aushalte.

Energie-Tankstelle

Zu mir zu stehen gibt mir allein schon Energie, weil das eine Form der Selbstliebe ist, und ich kriege noch extra einen Energieschub, weil ich dann, wenn ich zu mir selbst stehe, die ganzen Wie-wird-es-wohl-werden-Szenarien in meinem Kopf beenden kann, weil ich mich dann nicht mehr schützen muss (natürlich geht auch das nicht von heute auf morgen, sondern ist ein Prozess). Dadurch kann ich mich auf das Jetzt einlassen – und da fließt die Lebensenergie. Denn wovor ich mich ja letztlich schützen will, sind nicht die anderen, also davor, von den anderen verletzt zu werden (das habe ich bisher geglaubt), sondern vor den Gefühlen, die durch die anderen, durch ihr Verhalten, durch den Kontakt zur Welt in mir entstehen (und das ist ein feiner Unterschied). Wenn ich keine Angst mehr vor den tiefsten Gefühlen Angst und Unsicherheit habe (und darüber liegen natürlich noch weitere Schichten der Abwehr wie Peinlichkeit, sich abgelehnt fühlen, Scham, sich nicht in Ordnung fühlen, nicht zu genügen usw., die der Verstand alle konstruiert, um von der Wunde abzulenken), wenn ich also alles zu fühlen bereit bin, dann habe ich in dieser Bereitschaft paradoxerweise die Sicherheit gefunden, die ich immer gesucht habe, und kann aufhören, mich zu schützen. Alles zu fühlen und zu mir selbst zu stehen ist das Erreichen eines höheren Grades an Freiheit, als ich bisher gelebt habe, weil ich damit mein zentrales einengendes Lebensmuster verlasse.

Aggression ist Abwehr

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Gerade heute morgen erlebte ich noch einmal ein Beispiel für das Ausweichen vor den tieferen Gefühlen: Ich fuhr auf dem Fahrrad, und vor mir verhielt sich ein Autofahrer unachtsam, so dass ich ihm fast an die Stoßstange fuhr. Ich begann sofort, auf ihn zu schimpfen. In dem Moment bemerkte ich, dass meine Aggression nur von meiner Unsicherheit und dem Schreck und der Angst ablenkten, die mir die Aktion des Fahrers eingejagt hatte. Und ich konnte sehen, dass unter jeder Aggression ein anderes Gefühl liegt, das wir mit der Aggression abwehren, weil es bedrohlich ist, weil es das Überleben auf irgendeine Weise zu gefährden scheint. Die Energie, mit der wir nach innen und tiefer in uns hineinschauen könnten, verschleudern wir beispielsweise durch das Ausagieren der Aggression. Wer meint, dass es berechtigte Aggression und Ausnahmen gibt: Ich behaupte – nein, es ist immer ein Ablenken von tieferen, als unangenehm eingestuften Gefühlen.

Training ist überall

Wir haben gelernt, das Vermeiden unangenehmer Gefühle, die mit unserem wunden Punkt zusammenhängen, auf jede erdenkliche Weise zu rechtfertigen. Eine Freundin fragte mich gestern, ob ich ihre Tochter vom Kindergarten abholen und auf sie aufpassen kann. Meine erste Reaktion war nein, denn eine Woche vorher hatte ich genau das gemacht und die Dreijährige schrie und heulte zwei Stunden nach Mami, was mich wirklich an meine Grenzen brachte, weil ich nichts machen konnte. Warum sollte ich mir das noch mal antun? Auf einmal verstand ich aber, dass eine Ablehnung ihrer Bitte genau der Einstieg in mein altes Muster wäre, denn ich will ja, wenn ich ihre Bitte ablehne, für mich unangenehme Gefühle vermeiden, vor allem Ohnmacht und darunter wieder Unsicherheit, denn es macht mich schon sehr unsicher, wenn das Kind gar nicht mehr zu schluchzen und weinen aufhört, egal, was ich sage und mache. Mit dieser Erkenntnis kann ich das Babysitting jetzt als Training verstehen, die entsprechenden Gefühle einfach auszuhalten.

Ohne Verletzlichkeit keine Tiefe

In seiner eigenen Energie, man selbst zu sein, heißt anfangs nicht unbedingt, mit voller Power durchs Leben zu preschen, sondern es bedeutet erst einmal, immer mehr weich, offen und verletztlich zu sein, es bedeutet, sich dem Leben und allen damit zusammenhängenden Gefühlen zu öffnen. Das gibt unglaublich Kraft, aber eine, die vor allem den eigenen Kern stärkt, die Ruhe, Frieden und Zentriertheit bringt (wobei man diese Energie natürlich auch verschleudern kann).
Eine Eigenschaft, die ich früher total abgelehnt habe, weil ich sie lebensbedrohlich empfand, fange ich an, jetzt bei Menschen immer höher einzuschätzen: die Verletzlichkeit. Denn Verletzlichkeit ist nicht nur das Tor zu uns selbst, sondern auch zu echter und immer tieferer Begegnung mit anderen und damit zu wirklichem Zusammensein. Ohne Verletzlichkeit keine Berührbarkeit, man kann sie nicht einfach umgehen oder überspringen auf seinem Weg zu echter Lebendigkeit.

Erkenntnis-Test

Wenn man das grundlegende Prinzip der Hinwendung zur Wunde verstanden hat, dann kommen die Tests, dann prüft das Leben, ob du dich auch entsprechend den Erkenntnissen verhältst. Das heißt nicht, dass vorher keine Tests da waren, aber jetzt kannst du sie erkennen, und dann schaffst du es entweder, dich auf eine neue Weise zu verhalten, oder du versinkst wieder in der Unbewusstheit. Oder du entscheidest dich auch mal bewusst für das alte Verhalten, weil du die Gefühle nicht haben willst. Aber jetzt siehst du, was du tust, es ist kein unbewusster Automatismus mehr, und du hast so lange die Chance, dich immer wieder für das Fühlen und das Wachstum zu entscheiden, wie du nicht wieder einschläfst.
Ich kam in das Venus Sequence Seminar und war sozusagen eingeschlafen. Zum wiederholten Male. Aber das passiert, und dann entdeckt man den Weg wieder und geht ihn wieder ein Stück, so weit es geht und die Abwehr nicht wieder alles überwuchert. Und bei jedem Wieder-Entdecken werden einem neue Aspekte des Weges klar. Von daher ist die Venus Sequence nicht nur etwas für Menschen, die ihren wunden Punkt zum ersten Mal entdecken wollen, sondern auch für solche, die ihn eigentlich schon kennen, sich aber nur wieder mal im Gestrüpp der eigenen Abwehr verlaufen haben.

Was willst du wirklich?

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Man kann zwar durchaus verschiedene Dinge tun, um seine Gesundheit wiederzuerlangen und seine Lebensqualität zu verbessern, wie Visualisieren, Wünsche ans Universum senden usw., allerdings bestimmt letztlich der Grad an Freiheit, den ich in meinem Leben erlangt habe, wie wohl ich mich fühle. Und meine Freiheit ist ersichtlichermaßen umso größer, je mehr ich mit den Dingen sein kann, wie sie sind, je mehr ich alle Gefühle, auch die unangenehmen, zulassen kann und nicht ständig versuche, die Umstände und meine Gefühle zu verändern und dabei auch noch in ein Falsch-Richtig und Gut-Böse-Muster reinrutsche, das wiederum Schatten schafft. Denn wer sagt denn, dass die Verzweiflung und der seelische Schmerz, die ich mir wegvisualisieren will, nicht genau der Schlüssel zu meinen tieferen Schichten und damit zu meinem Glücklichsein sind. Die in spirituellen Kreisen hochgeschätzte (und häufig missverstandene) Erkenntnis, dass das Denken unser Sein bestimmt, dass Gedanken und Worte Wirklichkeit manifestieren, kann schnell zum Bumerang werden. Wenn ich ständig positiv denke: Es geht mir gut, während ich mich mies fühle, affirmiere, dass ich gesund bin, während ich leide, dann verpflastere ich nur notdürftig wieder weiter die Wunde, verschließe das Tor zu den tieferen Schichten des Jetzt. Die Energie folgt der Aufmerksamkeit oder: worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, das lebt: Und zwar dann nicht die Gesundheit und das Glück, weil ich sie dauernd affirmiere, sondern die Abwehr, weil ich meine Energie darin investiere, zu meiner Wunde auf Distanz zu gehen. Das Ego, das die Wunde nicht spüren will, ist trickreich in seinen Verkleidungen. Aber auch daran ist nichts falsch, es ist einfach eine Spielebene, allerdings nicht die höchste, denn mit ihr geht nicht der höchste Grad an Freiheit einher.

Was den Prozess des Ent-Deckens enorm beschleunigt, ist Ehrlichkeit – bei der Steuer, gegenüber anderen Menschen, überall. Lügen, Vermeiden, Verstecken sind zwar auch in Ordnung – wie alle Spiele – aber sie bringen nur kurzzeitigen Gewinn. Sie dirigieren uns letztlich in die Abwehr gegen das Leben und geben uns das Gefühl, uns im Kreis zu drehen. Und sie machen auf Dauer lange nicht so viel Freude wie eine lebendige Offenheit und die Entdeckung, dass das Leben doch vertrauenswürdig ist und uns trägt. Oder?


Musik zum Text:

The Bosshoss – You´ll never walk alone


Abb.: © Nicolás Biglié-fotolia.com
Abb. 2: © Christopher Ursutti-fotolia.com

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