In unserer Aprilausgabe forderten wir die Sein-Leser auf, Christian Meyer Fragen zu stellen, die ihnen am Herzen liegen. Hier nun die Antworten. Wir bedanken uns für alle Einsendungen.

 

1. Wie kann ich in meinem Alltag die Weichen zum „Aufwachen“ stellen? Wie kann ich in den Ablenkungen und Komplexitäten des Alltags  im Kontakt mit meinem Wunsch, „aufzuwachen“ bleiben?

Christian Meyer: Der Alltag und das Aufwachen sind kein Widerspruch. Wenn das ich-hafte Denken aufhört (Schaffe ich das? Was sagen die anderen dazu? Sollte ich nicht lieber etwas ganz anderes tun? Bin ich gut genug?), dann wird das praktische Denken, das Denken, das für die Planung und Durchführung der Handlungen nötig ist, viel klarer, zielgerichteter, wirksamer und auch anmutiger.

Für deinen Weg zum Aufwachen ist es am besten, dass du allen Gefühlen Raum gibst – der Freude ebenso wie den Ängsten – und so den Weg zu dir selbst immer tiefer findest. Und genau das erleichtert deinen Alltag: Wenn du deinen Gefühlen wirklich Raum gibst statt sie beiseite zu schieben, dann beginnst du aus deiner Mitte zu handeln. Dann bist du nicht mehr blockiert und auch deine Handlungen nicht. Ein Gefühl, das während der Arbeit auftaucht, hat dort vielleicht nicht genügend Zeit und Platz. Aber dann kannst du ihm in der Mittagspause Zeit und Raum geben. Mit der Zeit wird es dir immer leichter fallen, ganzheitlich präsent zu sein.

2. Du sprichst viel über Angst und die sieben Schritte. Welchen Stellenwert hat die Liebe im Prozess des Aufwachens?

Christian Meyer: Es dreht sich nur um die Liebe. Du selbst, deine wahre Natur ist Liebe. Wenn du alles loslässt, die Gedanken, die Konzepte, die Ich-haftigkeit, dann erscheinen von alleine die Liebe, die Freude und reines Bewusstsein als deine wahre Natur. Liebe bedeutet, alles so anzunehmen und sein zu lassen, wie es ist. Das ist die Liebe, die nichts will und nichts braucht, die bereits die vollständige Erfüllung ist. Aber es stimmt, ich spreche nicht so viel von der Liebe. Wir sprechen mehr von dem, was im Wege steht. Wir machen keine Übungen, Mitgefühl oder Liebe zu erlernen. Liebe geschieht von allein. Liebe ist das Geschenk. Überströmend. 

3. Wenn ich die Advaita-Lehre richtig verstanden habe, gibt es nichts, was außerhalb von mir ist. Aber was spiegelt die Welt wider? Was ist mit meinen Handlungen, Plänen, Zielen? Habe ich überhaupt noch Einfluss auf mein Leben?

Christian Meyer: Die Psychologie hat das Unterbewusste entdeckt, das unser Leben mehr bestimmt als die bewussten Vorstellungen. Die Familienforschung deckt immer mehr auf, wie viel deines Handelns von den Verstrickungen aus mehreren Generationen bestimmt wird. Die Enneagramm-Arbeit zeigt, nach welchen vorherbestimmten Mustern deiner Charakterfixierung dein Leben abläuft, ob du nach Sicherheit, nach Anerkennung oder Kontrolle strebst, ob dir die Selbsterhaltung oder die Beziehung wichtiger ist – all das und noch viel mehr ist rein mechanisch.

Sogar ganz unspirituelle Wissenschaftler kommen immer mehr zu der Auffassung, dass das Ich nichts anderes als ein mental geschaffenes gedankliches Konstrukt ist. Es ist nur ausgedacht, eingebildet. Über alle grundlegenden Determinanten des menschlichen Lebens hast du ohnedies keine Kontrolle: wann und wie du stirbst, welchen Menschen du begegnest, wie lange sie bei dir sind, auch welche Krankheiten du bekommst, ob es dich zur alternativen Heilkunde oder zur konventionellen Medizin zieht – all das liegt nicht in deiner Hand. Auch diese Verhaltenstendenzen werden von deinem Charakter, der Konditionierung, gesellschaftlichen Werten und anderem bestimmt. All das zusammen wird im Osten das Karma genannt. Wir im Westen haben psychologische Begriffe dafür.

Aber: Du kannst etwas tun. Du hast die Macht, deinem Leben eine andere Richtung zu geben. Merkwürdigerweise liegt diese Macht darin, dass du anhältst und still wirst. All die vorherbestimmten Verhaltenstendenzen zeigen sich innerlich als bestimmte Gefühlszustände, auch Angst, die zur Vermeidung führt. Wenn du jetzt innerlich wirklich radikal anhältst, dann werden all diese Gefühle, die vorher das Verhalten bestimmt haben, bewusst. Die ganze Energie bekommt jetzt in dir einen Raum und du brauchst sie nicht in immer wieder gleichen quälenden oder unbefriedigenden Verhaltensmustern zu kompensieren. Indem du anhältst, dem Raum gibst, was ist, kann endlich Neues entstehen, wird das Verhalten nicht mehr von der Charakterfixierung bestimmt, sondern von der Stille und der Liebe.

4. Man sagt, im Universum wäre alles vorhanden – man muss nur wissen, wie man es bekommt. Stimmt das? Und gibt es Werkzeuge, um eigene Ziele zu erreichen?

Christian Meyer: Ich würde nie glauben, was die Leute sagen. Vertraue nur der Erfahrung, keinen Glaubenssätzen und keinen Konzepten. Das kleine Kind erlebt die Welt so, dass immer zu wenig Liebe und zu wenig Eiscreme da ist. Das Ich wünscht sich so sehr, dass endlich dieser erlebte Mangel aufhört. Darum gibt es die verschiedenen Konzepte und darum ist die Suche nach Werkzeugen und Instrumenten zur Wunscherfüllung so verführerisch. Aber mit diesen Wünschen, mit diesen Zielen wirst du nie wirklich glücklich werden. Sie werden immer äußerlich bleiben. Sie werden dich nie wirklich dauerhaft berühren und schon gar nicht erfüllen.

Wenn du in dir die Stille und die Liebe suchst und findest, dann findest du Erfüllung, die nicht von äußeren Umständen abhängt oder davon, ob bestimmte Lebensziele verwirklicht werden. Du kannst dein Leben dadurch beeinflussen, dass du anhältst. Damit all das, was dein Leben antreibt, zur Ruhe kommt und alle bisher verdrängten Gefühle Raum bekommen. Du läufst vor nichts mehr weg und dadurch findest du Frieden. Zuerst kann das sehr ungemütlich sein, aber dann entdeckst du immer mehr das tatsächliche Einssein, das tatsächliche Vollständig-Sein, die Liebe, die du selber bist.

5. Was hält das Ego davon ab zu sterben, wo doch offensichtlich das Leben ohne Ich viel einfacher ist und unserer eigentlichen Natur entspricht?

Christian Meyer: Die Angst. Die Angst vor dem Unbekannten, die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, obwohl du gar keine Kontrolle hast. Die Angst davor, dich in der Leere aufzulösen oder in der Bodenlosigkeit vernichtet zu werden, die Angst davor zu sterben. Und die Lösung? Bereit sein, der Angst zu begegnen und bereit sein zu sterben, wann und wie es dir zukommen wird. Das „Ich“ glaubt, dass alles zu Ende ist, wenn es mit dem „Ich“  zu Ende geht. Tatsächlich ist das „Ich“ nie da gewesen…

6. Wie ist das Verhältnis zwischen Vorbestimmung des eigenen Weges und freiem Willen?

Christian Meyer: Ramana Maharshi, der große indische Weise der Neuzeit – manche sagen, der größte spirituelle Lehrer, der je auf der Erde gelebt hat – sagte: „In Wirklichkeit gibt es weder freien Willen noch Schicksal“. Es gibt keinen freien Willen, weil es das Ich nicht gibt. Andererseits erleben viele die Möglichkeit zu wählen, ob sie der Konditionierung und den äußeren Verhaltensmustern folgen oder ihrem Herzen und sich nach innen richten und die Wahrheit suchen. Vielleicht ist aber auch das schon vorherbestimmt. Jeder kann entdecken, welche Erfahrung er macht, das ist ausschlaggebend, nicht irgendwelche Konzepte. Der Mensch und das ganze Dasein ist komplexer als – sagen wir mal – eine Waschmaschine.

7. Ist das plötzliche totale Aufwachen wirklich der einzige Weg für alle Menschen? Oder kann für viele auch ein graduelles Sich-Erkennen als Bewusstsein zur Befreiung führen?

Christian Meyer: Zuerst machst du auf dem Weg Erfahrungen von Stille, Frieden und Unendlichkeit, Erfahrungen, die nur eine kurze Zeit andauern, und die auch noch nicht die ganze Tiefe ausschöpfen. Irgendwann kann es dann zum plötzlichen und vollständigen Aufwachen kommen, danach gibt es dann einen Prozess der weiteren Vertiefung. Es ist also sowohl ein Prozess als auch ein bestimmter Moment, in dem innerlich ein wirklicher Erdrutsch geschieht. Danach ist eine unbeschreibliche Stille im Verstand, die Erfahrung des Einsseins und ein grenzenloser Frieden. Für manche scheint dieser Erdrutsch in einigen Schüben zu kommen. Für ein einfach graduelles „Hinübergleiten“ kenne ich kein Beispiel, aber vielleicht gibt es auch das.

8. Kann ich Gott auch in mir selbst finden?

Christian Meyer: Nur in dir selbst. Es ist egal, welchen Namen du dem Absoluten gibst: Die Unendlichkeit, Gott, den Ursprung –niemals wirst du DAS irgendwo da draußen finden können. Das bedeutet jetzt nicht, dass Gott gewissermaßen auf dein inneres Seelenleben beschränkt ist. Gott ist immer DAS oder DER Größere. Wenn du wirklich den Weg nach innen beschreitest, wirst du zwar zuerst auf deine persönlichen Gefühle stoßen, aber darunter wird der Raum immer weiter und schließlich unendlich. Du erfährst dann sofort, das hat nichts mehr mit deiner Person zu tun, das ist viel größer – größer als das Universum. Aber es ist kein Gedanke oder Konzept, sondern deine direkte, unmittelbare, unbezweifelbare Erfahrung.

9. Obwohl ich „erwachen“ möchte, gibt es da auch die Wünsche nach einer erfüllten Partnerschaft, dem Traumhaus, Anerkennung – all diese „weltlichen“ Dinge. Wie gelingt es, dass diese Wünsche dem Wunsch zu erwachen nicht im Wege stehen?

Christian Meyer: Dies ist sicher eine grundlegende Frage für alle, die sich ernsthaft auf den Weg gemacht haben. Das Aufwachen wird nur geschehen, wenn dir das Aufwachen wichtiger geworden ist als alles andere. Dazu gehört auch die spirituell ungeheuer wichtige Frage: „Was soll mir das Aufwachen geben?“ Am besten bist du dran, wenn du ganz ehrlich darauf antworten kannst: „nichts“. Denn solange das Ich mit dem Aufwachen noch Wünsche verbindet, sogar den Wunsch, dass der Schmerz beendet wird, solange bleibt das Ich bestehen.

Auf dem Weg zum Aufwachen und auch danach können andere Wünsche auftauchen. Solange die vielfältigen Wünsche des Menschen unterbewusst bleiben, wird er in 20 oder 30 verschiedene Richtungen gezogen, sein Leben hat keine Energie, keine Dynamik, keine Richtung. Wenn das Aufwachen wichtiger geworden ist als alles andere, dann ist es so, als wenn alle Segel des Schiffes in eine Richtung gesetzt sind und dann das Schiff des Lebens Fahrt aufnehmen kann.

Andere Wünsche können da sein, es ist aber wichtig, dass sie bewusst werden. Sie stehen dem Aufwachen nicht im Wege, wenn du dich für sie nicht verkaufst und wenn sie gleichzeitig zu größerer Lebendigkeit, Ehrlichkeit und Liebe führen.

10. Ich habe während eines offenen Abends bei Christian bei einer Partnerübung interessante Erfahrungen gemacht. Ich bin in verschiedene Gefühle reingegangen bis zum Abgrund. Die Angst vor dem Abgrund war unbeschreiblich, das Schlimmste, was man sich vorstellen kann… Ich habe die Übung unterbrochen. Jetzt weiß ich, dass ich noch tiefer gehen sollte. Die Angst ist aber noch größer, auch die Angst vor der Angst. Muss man wirklich diese schmerzhafte Erfahrung machen?

Christian Meyer: Ja. Solange du irgendeiner inneren Erfahrung aus dem Weg gehst, sie vermeidest oder ablehnst, ist das ein Hindernis zum Aufwachen. Aber es macht dich auch unlebendiger: Du bist verspannter, weil immer die Angst ist, irgendwann könnte das doch hochkommen. Für alle Menschen spielt der Tod, die innere Akzeptanz und die Begegnung mit der Angst vor dem Tod diese Rolle. Aber solange du ein Gefühl, das hochkommt, ablehnst, verkrampfst du dich, und das führt zu zusätzlichen Schmerz. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Sobald du das Gefühl annimmst, gewissermaßen einlädst, ist es wesentlich weniger schlimm, als du vorher erwartet hast. Lass dich auf das Abenteuer ein, du hast nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen.

Vielen herzlichen Dank dem Restaurant Buddha-Haus und dem Liquidrom für das Sponsoring der Hauptpreise.

4 Responses

  1. Werner Erthissen

    Mit 69 Jahren ,ein ganzes Leben verbracht in teiweise Furcht Zorn Neid auf
    die wohlhabenden u. inkompetenten sogenannten Experten.Hab selber trixxen
    müssen um wenigstens einen Krümel vom Kuchen der Habenden zu bekommen.
    Ständig lief ich mit einem schlechten Gewissen herum und habe mir Selbstvorwürfe gemacht.Bin ich ein Arsch ? Mein katholich geprägtes
    Selbstbild war verwirrend, und immer auf der Suche nach Änderung.Nun habe
    ich (nach Millionen Änderungsversuche und Wünsche)den taoistischen Vorstellungen des Wu Way durchdacht,ebenso habe ich Eckhard Tolle gelesen
    und gehört auf CD.Genau dies scheint mir der richtige sinnvolle Weg zu sein.
    Nichts machen und bewusst die Stille wahrnehmen die hinter allem steht.Auch wahrnehmen
    in mir, bewusst die unendliche Kraft aus der alles kommt und wieder zurück geht.(dieStille).Jeder trägt dieses Licht in sich, wenn dies einem bewusst ist,
    so ist er erwacht im Leben .Schon das Streben nach einem bewussten Leben,ohne was zu wollen, sondern nur zu Sein ,verändert unser Bewusstsein.

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  2. irene felske

    ich habe für mich selbst nachgeforscht,durch viele erfahrungen aus mein em leben,und habe festgestehlt das deine teorie ist eins mit meine.ich freue mich für dich,liebe grüsse irene

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  3. Dinu Gherman

    Ich habe versucht, im Kino am Ufer (39 Plätze, in Wedding) eine Vorführung zu organisieren: http://www.kino-am-ufer.de – Gescheitert ist das wohl letztlich an der Inflexibilität des Betreibers und dessen Beharren auf 100,- Euro Betriebskostenerstattung für zwei Stunden Vorführung. Ich glaube, selbst wenn ich die vorgestreckt hätte, hätte er doch nicht mehr mitgemacht. Es ist schon erstaunlich, wie schwer sich manche Leute damit tun, die Welt zu verbessern, selbst wenn das zu ihrem „Programm“ gehört, wie in diesem Fall mit dem Zeigen von „Filmen für Herz, Geist und Seele“.

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