Improvisationstheater ist mehr als eine Theaterform, es ist eine Lebensphilosophie – und es anzuschauen reine Faszination. Die Schauspieler auf der Bühne liefern sich dem Moment total aus, nicht wissend, wie sich die aktuelle Szene entwickeln wird. Dabei stolpern sie ständig über Missverständnisse und unterschiedliche Interpretationen. Doch es gibt keine Fehler beim Improvisieren, nur Unachtsamkeit und die Gefahr, dass das Ego sich zu wichtig nimmt. Im Grunde zeigt sich hier spirituelles Leben, verdichtet auf einem Stück Bühne: Der Entstehungsprozess einer Sache wird wichtiger als das ­Ergebnis, Ideen werden einfach weitergesponnen statt sie zu analysieren, das Unvorhergesehene ist das Einzige, was vorhersehbar ist – also üben die Spieler sich darin, es sich zum Freund zu ­machen, und entdecken dabei die pure Lust am Spiel. Ein Interview mit den „Gorillas“ Ramona Kroenke und ­Michael Wolf von Jörg Engelsing. Über die Schönheit des Ungewissen.

 

Ich habe euch im Ratibor-Theater gesehen und war äußerst beeindruckt von eurer Improvisationskunst und Spontanität. Ich habe irgendwann gemerkt: Wenn einer von euch anfängt zu denken, was er jetzt sagt, dann ist alles verloren. Du kannst das nur machen, wenn du nicht denkst. Und das ist ja letztendlich das Ziel der meisten spirituellen Traditionen, nämlich im Moment zu sein, nicht zu reflektieren und zu denken, sondern einfach offen für den spontanen Impuls, der sich gerade zeigen will. Wie erlebt ihr das und wie seid ihr dazu gekommen?
Ramona: Ich mache Impro seit 18 Jahren, und seit zwei Jahren meditiere ich – und entdecke immer mehr Gemeinsamkeiten. Vom Meditieren zum Improvisieren. Es geht allerdings nicht darum, gar nicht zu denken, sondern Platz zu machen für ein Denken, das nicht kommen würde, wenn ich es herholen wollte. Es geht darum, dem Unbewussten Platz zu machen.

Wenn du aber gucken würdest, wie du auf das Publikum wirkst, dann könntest du deine Improvisation vergessen, oder?
Ramona: Ja, es geht komplett darum, das Ego, das immer in der Vergangenheit oder der Zukunft ist, aber nicht im Moment, außen vor zu lassen.
Michael:  Es geht auch um Akzeptanz, also im Moment zu sein und das Angebot des Partners auf der Bühne einfach zu akzeptieren, Ja dazu zu sagen, ohne das Angebot zu bewerten.
Was meinst du mit „das Angebot ­bewerten“?
M: Wenn Kinder mit Holzklötzchen spielen, nimmt vielleicht das eine Kind einen Klotz und sagt: „Hier ist mein Polizeiauto.“ Das andere Kind nimmt ein anderes Holzklötzchen und sagt: „Hier kommt die Feuerwehr.“ Wenn ein Erwachsener ein Holzklötzchen nähme und sagte: „Das hier ist mein Polizeiauto“, dann würden andere Erwachsene sagen: „Du spinnst, das ist ein Holzklötzchen.“ Indem wir alles einordnen, bewerten, korrigieren und überprüfen, verlieren wir unsere Spontanität und Phantasie. Beim Impro sagen wir Ja zu den Angeboten des Partners, wir spielen so, als ob es wahr wäre – und dann kann eben ein Holzklötzchen auch wieder ein Polizeiauto sein. Indem du die Angebote annimmst, lässt du dich durch den Partner verändern – sonst entsteht keine Geschichte. Zu den Angeboten gehört dabei alles, was passiert, die Beleuchtung, das Licht, die Musik – alles sind Angebote der Beteiligten, die eine Szene in eine bestimmte Richtung lenken – und die Schauspieler reagieren darauf.

R: Dabei gibt es eine Regel, die heißt: Akzeptiere alles. Wenn ich auf die Bühne komme und denke, ich spiele eine Prinzessin, aber Micha gibt mir vor, dass ich ein Besen bin, dann bin ich ein Besen – aber vielleicht ein Besen, der königliche Attitüden hat, weil in meinem Unterbewusstsein ja noch die Prinzessin war. Wir streiten also nicht darüber, sondern sagen Ja zu dem, was uns angeboten wird – und tun etwas dazu. Es geht nämlich beim Impro nicht nur darum, das Vorgegebene zu akzeptieren, sondern auf dieser Basis auch darum, etwas Neues zu gestalten. Aber das kannst du nur, wenn du erst einmal Ja sagst zu dem, was dir angeboten wird. Sonst kommt nichts in die Gänge und der Zensor meckert pausenlos. Am besten ist, du fokussierst dich auf deine Aufgabe und lässt den Zensor plappern, der immer sagt: „Sei gut, sei gut.“

Fühlt ihr euch auch manchmal blockiert und habt Angst, dass auf einmal überhaupt nichts kommt?
M: Wir sind ja routiniert darin, auf die Bühne zu gehen, ohne etwas zu wissen. Es ist im Grunde auch eine Routine, sich einfach aufzugeben, sich auf die Partner und auf sich selbst  zu verlassen und zu sagen: Es kommt was, es kommt immer was. Beim ersten Mal ist natürlich eine große Angst da.
R: Es geht darum, diese Angst zu bemerken und nicht so zu tun, als wäre sie nicht da. Und dann mit der Angst umzugehen. Das kannst du üben. Mit den Jahren haben wir gelernt, darauf zu vertrauen, dass alles in uns ist, was gerade gebraucht wird.
M: Wir veranstalten auch Kurse in Improvisation. In den letzten Jahren haben viele große Firmen erkannt, dass man von dieser Arbeit profitieren kann, denn wir stehen alle in unserem Leben vor Publikum, ob das auf einer Vollversammlung ist oder in einem Meeting. Dabei müssen wir oft auf unvorhergesehene Fragen antworten. Die Ruhe zu haben, diese Frage wirklich zu hören und sich Zeit zu lassen für die Antwort, statt mit  vorgefertigten Worthülsen zu kommen und alles runterzubügeln – das hat viel zu tun mit dem, was wir im Impro machen, denn die Worthülsen kommen ja aus einer unbewussten Angst, aus dem Versuch, Sicherheit herzustellen.

Offenheit und Spontanität gehen ja mit Entspannung einher – sonst blockiere ich mich ja selbst. Steht ihr auf der Bühne auch unter Spannung?
R: Manchmal. Impro ist wie das Leben. Gestern beispielsweise haben wir gespielt und Micha hatte tierische Zahn- und ich Halsschmerzen. Wir haben eine wunderschöne Show gespielt und danach waren die Schmerzen weg. Spielen löst einfach ganz viel blockierte Energie. Denn Spielen an sich ist ja etwas, was keinen Sinn hat – deshalb ist es ja so heilsam.
M: Der Schauspielberuf hat die niedrigste Krankheitsrate, weil ein Ausfall für jeden das Schlimmste ist, was passieren kann. Wenn in einem großen Theater bis zu 500 Leute nach Hause geschickt werden, weil einer krank ist, dann ist das fatal. Krankheit gibt es in diesem Beruf so gut wie nie.

Wenn ich einmal eine Zeit lang mein Ich etwas vergessen habe, entsteht manchmal eine Art Ekstase. Gibt es bei euch nach einer Vorstellung so eine Art High? 
M: Ja, es gibt Abende, an denen wir eine wunderbare Vorstellung machen, bei der alles floss. Wir sagen manchmal: Die Geschichte hat sich alleine erzählt. Dann sind wir hinterher sehr berührt und haben ein Hochgefühl.
Bestenfalls ist also Impro ein Einsteigen in einen Fluss und mit diesem mitzugehen…
R: Aber nicht nur einsteigen – du schaffst den Fluss ja auch, du gestaltest ihn. Auch wenn es nur ein stehender Tümpel ist, dann hast du den auch gestaltet. Du lernst beim Improvisieren auch zuzuschauen, warum es nicht fließt. Und dann veränderst du es und bringst es zum Fließen. Alle zusammen sind in diesem hierarchielosen Rahmen gefordert, die Geschichte ins Fließen zu bringen und am Fließen zu halten. Du bist Teil einer Gruppe, die sich gemeinsam durch den Abend schlängelt. Du bist ein wichtiges Element und übernimmst Verantwortung, aber ohne zu kontrollieren, was passiert.

Hat sich Impro auch auf euren Alltag ausgewirkt?
R: Ich bin von Natur aus ein extrem kontrollierter Mensch und glaube, dass ich mir deswegen auch Impro gesucht habe. Gerade im Schauspielberuf gibt es viele Menschen, die sehr kontrolliert sind und denen es darum geht, besonders gut zu sein, um Aufmerksamkeit zu bekommen und geliebt zu werden. Und genau mit diesen Teilen umzugehen und dabei zu lernen ist eine tolle Aufgabe.
Auf der Bühne sehen wir auch, dass immer etwas scheitern kann und dass trotzdem etwas Neues daraus entsteht – dementsprechend habe ich gelernt, dass private Beziehungen auch nicht immer perfekt laufen müssen. Das Element des Scheiterns ist allerdings etwas, das in Deutschland schlecht angesehen ist. Auf der Bühne gehen wir ein Risiko ein und ab und zu scheitern wir auch. Ich glaube, dass es mir durch Impro leichter fällt, mit Problemen im täglichen Leben umzugehen, denn das Leben verlangt ja Flexibilität und Improvisation. Durch Impro entsteht auch mehr Offenheit für die Impulse des Lebens.
M: Viele unserer Schüler sagen uns, dass der Improvisationsworkshop ihnen so gut getan hat, weil sie sich dadurch im Leben freier bewegen können und weniger Angst vor Fehlern haben.
R:  Wenn ich beispielsweise in Gesprächen in eine ablehnende Haltung rutsche, in ein Nein, dann fällt mir immer wieder ein, wie ich auf der Bühne reagiere, nämlich mit einem Ja und…  Ein Nein trennt, ein Ja schafft wieder Verbindung, bringt wieder Fluss. Durch Inpro habe ich auch gelernt zu gestalten, also bewusst ins Risiko zu gehen und zu definieren. Ich verstecke mich nicht hinter netten Fragen, mit denen ich mein Gegenüber in die Verantwortung dirigiere, sondern sage: Hier geht´s lang.

Was mache ich, wenn ich voller Spannung auf der Bühne stehe und dann kommt ein Angebot, auf das ich nicht zu reagieren weiß.
R: Das ist ja das Schöne am Impro: Du lernst in einer relativ komfortablen Situation – auf der Bühne kann dir nichts passieren –, wie es ist, in Krisensituationen zu handeln. Du kannst einfach mal andere Sachen ausprobieren. Wie ist es denn, wenn ich jetzt mal die Verantwortung übernehme, wie ist es denn, wenn ich mal ein Schwein bin, wie ist es denn, wenn ich mein Gegenüber jetzt mal einfach umarme?

Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie nicht in Ordnung sind, wie sie sind, dass sie nicht genügen, sie dürfen keine Fehler machen – verbunden mit der Erfahrung  aus der Kindheit, dass es sogar lebensgefährlich ist, wenn sie einen Fehler machen, weil sie ja auf das Wohlwollen ihrer Eltern und Mitmenschen angewiesen sind. Ich denke, dass da eine sehr große Verkrampfung in fast allen Menschen sitzt. Es ist wunderbar und heilsam,  in euren Aufführungen zu sehen, wie ihr nicht in der Falle der Selbstzensur hängen bleibt, sondern euch dem Fluss der „Angebote“ überlassen könnt. Aber kommt ihr nicht auch manchmal an eure Grenzen? Gibt es auch richtig unangenehme Szenen?
M: Ja, so etwas gibt es – bis hin zu dem Moment, dass ich mich wirklich geschämt habe, denn wir tun ja Dinge, bei denen es kein Zurück mehr gibt. Wenn ich einen Artikel schreibe, kann ich ihn immer noch umschreiben, aber was gesagt ist, ist gesagt. Und unter Umständen ist man auch nicht immer politisch korrekt.
R: Aber deswegen kommen die Leute. Sie kommen nicht, um etwas Perfektes anzuschauen, sondern sie wollen echte Menschen sehen, die sich ausliefern. Sie möchten  diese Menschen auch in Schwierigkeiten sehen und beobachten, wie sie mit Schwierigkeiten umgehen. Es ist wie beim Hochseilakt: Richtig spannend wird es erst dann, wenn das Seil wackelt. Und alle warten letztlich darauf, dass mal jemand fällt. Zu sehen, wie wir scheitern, das ist ein Genuss für das Publikum. Ich schäme mich eigentlich relativ selten auf der Bühne, weil ich es toll finde, dass das so ist.
M: Manchmal ist es schon heftig. „Geh auf die Bühne und denk nicht an eine lila Zitrone“ – und schon denkst du an lila Zitronen. Heißt: Wenn im Publikum in der ersten Reihe zum Beispiel ein kleinwüchsiger Mensch sitzt, dann löst dieser Anblick in dir etwas aus. Du wirst irgendwann in diesem Stück eine Zwergenrolle spielen. Du willst es nicht, aber es passiert einfach, weil du offen für jeden Impuls sein musst. Wenn du dem Impuls nicht folgst, bist du nicht mehr offen für den lebendigen Moment, sondern hängst fest.
R: Und während Michael diesen Zwerg spielt, wird er diesen kleinwüchsigen Menschen in der ersten Reihe angucken und dieser Mensch wird wissen, dass er gemeint ist.
M: Das sind Momente, in denen wir denken: Oh Gott. Oder wir spielen vor dem deutschen Legasthenikerverband, müssen in einer Szene einen Brief lesen und stottern herum. Und man denkt: Herrgott, muss das sein? Aber es muss genau so sein, weil wir nicht zensieren, wir dürfen uns nicht zensieren. Wenn wir uns zensieren würden, würden wir da oben auf der Bühne nicht existieren können, wir würden nicht frei sein.

Ich hätte richtig Angst davor, auf der Bühne zu stehen, auf einmal all meinen bewertenden Gedanken ausgeliefert zu sein und sie den Leuten vor die Füße zu schleudern, obwohl ich das gar nicht will.
R: Es ist einfach so, dass in jedem von uns jede Menge unbewusstes und unterdrücktes Material ist. Es geht einfach darum, das zu wissen und nicht zu bewerten. Der Erfinder von Impro hat gesagt, dass man beim Assoziieren – was wir als Training vor der Show machen – verschiedene Phasen durchläuft. Das erste ist die Fäkalphase, dann  kommt eine religiös-philosophische Phase und dann bist du im Prinzip erst frei. Es ist wie ein Entspeichern.

Lernt man dabei auch, sich mehr als Mensch zu akzeptieren? Kannst du leichter zu dir Ja sagen mit all deinen Anteilen?
R: Dein Blick für dich selbst wird weiter. Ich merke, was alles in mir ist, und lerne, milder damit umzugehen.
M: Wir unterrichten ja auch Impro. Dabei ist es immer wieder interessant zu sehen, dass die für uns einfachsten Dinge wie Spontanität und Fantasie für andere riesengroße Hürden sind. Jeder hat diese Spontanität ja mal in sich gehabt, aber sie wurde uns aberzogen oder sogar aus uns herausgeprügelt. Es ist sehr spannend zu sehen, wie schwer es unseren Schülern fällt und wie begeistert sie sind, wenn sie – aus unserem Blickwinkel – so ganz kleine Hürden nehmen, die für sie Riesenschritte bedeuten. Aber warum nicht mal einfach sein, wie man ist – das Gegenüber ist doch meist in dem gleichen Korsett gefangen wie man selber.
R: Für mich ist Impro ein Weg zu einem glücklichen Leben, weil das Ergebnis nicht so wichtig ist, weil es mehr um den Weg geht und um den Prozess, weil es ein Miteinander ist und weil es um Initiative geht, einfach mal etwas zu machen, aber auch mal auszuhalten, nichts zu tun.


Abb: © Klenk

Über den Autor

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ist seit sieben Jahren mit ihrem Solo »Cavewoman« deutschlandweit auf Tour. Sie improvisiert seit nunmehr 18 Jahren (Theatersport Berlin, Deutschlandradio, Quatsch Comedy Club…) und gibt ihre Liebe zum Improvisieren als Trainerin gern an Firmen, Theater und NPOs weiter, weil sie daran glaubt, dass ein lustvolles verspieltes Miteinander sinnstiftend für jeden Einzelnen und die Welt als Ganzes ist.

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