Diagnose: Krebs. Nach anfänglicher Angst: Einverstandensein. Der Beginn einer immer tieferen Begegnung mit mir selbst und dem Leben.

 

Nach 30 Jahren Berlin macht das Leben einen Sprung und katapultiert mich in den südlichsten Schwarzwald, von der Friedenauer Dachwohnung in ein Haus mit verwildertem Garten am Ende eines winzigen Bergdorfs – mit Blick auf Wald, Berge, Weiden, das weite Tal, und dahinter, bei guter Sicht, die schneebedeckten Gipfel der Alpen. Ich sitze auf der Terrassenstufe zum Garten. Ich habe viel Zeit: Fast auf den Tag genau ein Jahr, nachdem ich hier angekommen bin, hat das Leben mir einen Knoten in der Brust beschert. Diagnose: Brustkrebs. Erst fühlt es sich an wie ein Schlag in die Magengrube, nächtelang wache ich von diesem Gefühl auf. Zittern, Schwindel, Übelkeit. Und zugleich ist sofort klar – es ist ein Segen. Völliges Einverstandensein. Im Verstand taucht eine Zeitlang die Frage auf, was ich hier eigentlich mache, doch das Herz weiß von Anfang an und zeigt das durch ein starkes Gefühl, jetzt hier sein zu müssen. Das Herz, das bis zum Hals schlug, als der Zug sich zum ersten Mal Basel und Prem Buddha näherte. 

Ich habe es satt

Hier muss ich etwas weiter in die Vergangenheit ausholen: In den letzten sieben Jahren in Berlin geschahen unerwartet viele, zum Teil überwältigende spirituelle Erfahrungen – doch alles ging wieder verloren. Es erschienen spirituelle Lehrer, was mit viel Ausprobieren und Sich-Umschauen verbunden war. Dann begegnete ich einer wirklichen, wie mir schien, endgültigen, ja, MEINER Lehrerin. Doch auch diese Begegnung mündete in eine – schmerzhafte – Trennung, in Verzweiflung und Ratlosigkeit. Anschließend zwei Jahre Psychoanalyse, all die Geschichten anschauen. Es ist noch lange nicht fertig, sagt die Therapeutin nach den zwei Jahren, aber ich habe es satt, so satt. Ich will nicht mehr, kann nicht mehr, es ist genug, es gibt keine Heilung darin, Schluss. Ich muss selbst herausfinden, was von mir bleibt, wenn alles Gewohnte wegfällt, wenn ich mich auf niemanden mehr beziehe, außer auf mich selbst. Kein Buch mehr, keine klugen Worte, niemanden, der irgendetwas über mich besser weiß, weiß, wie es richtig zu sein hat. Auch der Körper braucht eine Pause: von der Arbeit als Schwester im Hospiz, von der Stadt. Er braucht frische Luft und Regelmäßigkeit und gutes Essen. Die Seele braucht Ruhe, Stille, Einsamkeit, Nahrung. Sehnsucht nach dem Land, nach dem Duft der Erde, nach Nebel, Regen, Wind, Sonne, Wald, nach Einfachheit vor allem. Das Herz ist bereit, alles loszulassen.

Rückzug in die Einsamkeit

Pfingsten komme ich hier an. Das Dorf besteht aus zwanzig Häusern, deutlich mehr Kühen, das nächste Städtchen mit Einkaufsmöglichkeit ist elf Kilometer entfernt bergab. Hier gibt es nicht einmal ein einziges Werbeplakat, nur Berge, Bäume, Kühe, Pferde, Ziegen, Vögel und große moosbewachsene Steine. Alles ist neu – ich kenne niemanden, jeder Weg, den ich gehe: unbekannt.

Nicht nur äußerlich bin ich scheinbar am Ende der Welt angekommen, auch in mir ist Ende, nichts mehr wollen außer der Wahrheit, ohne Schnörkel, ohne Ausflüchte, was auch immer das mit mir tun wird. Alles ist ausprobiert worden, überall wurde versucht, Glück und Frieden zu finden – vergeblich. Doch da ist das Wissen, schon seit der Kindheit, dass es da ist, jenseits von allem und von allen Vorstellungen, das Wissen, dass alles ein Segen ist.

Das Bedürfnis, Wahrheit zu hören, führt mich zu Prem Buddha, der in Basel Satsang gibt. Ich finde ihn übers Internet. Seine Sprache ist einfach, klar, präzise. Fast altmodisch anmutende, poetische Worte, die immer, ausnahmslos auf DAS JETZT HIER verweisen, das, was näher ist als der Atem, der Herzschlag. Worte, die der Stille angehören und die in dem Moment das auslösen, worauf sie hinweisen. Eine tiefe Stille ist um ihn spürbar, eine sehr klare starke Energie.

Jetzt ist er da und als wäre das selbstverständlich, begleitet er mich durch allerhand Tiefen, die das neue Leben mir beschert. Am Anfang ist da, besonders nachts, das Gefühl, vor Einsamkeit verrückt zu werden, die Arbeit als Schwester in der Klinik ist schwierig. Prem Buddha lotst mich immer wieder geduldig aus den Geschichten heraus, lehrt, alles zu lieben, was sich zeigt. „Kannst du das nehmen“, fragt er oft, „kannst du damit sein, kannst du ohne Idee sein, kannst du ohne ABER dastehen, dumm dastehen, mit Verlassenheit, mit Angst, mit Schmerz, mit alledem? Und wenn du das Etikett Angst wegnimmst, was ist es dann?“ Dann ist es zwar nicht immer leicht, und doch ist darin eine Schönheit, eine Zuneigung, egal, was sich gerade zeigt. Und er sagt: „Die Story – du kannst sie sofort stoppen. Es hört sonst nie auf. Denn ein Verstehen zieht sofort neue Fragen und neues Verstehen nach sich, es endet nie.“ 

Alles bist du

Sein Angebot: es ans Ende kommen zu lassen. Es gut sein lassen. Diesen Gedanken zu Ende denken. Das Gefühl zu Ende fühlen. Nullpunkt. Nicht wieder von Neuem anfangen. Er lehrt es, indem er es lebt. Seine Worte sinken in mich hinein und arbeiten dort, wie von selbst – es ist eine Operation am offenen Herzen, sagt er, nur endlich ohne Narkose, und genauso fühlt es sich an. Es erscheint so sanft, so absolut einfach, und es ist das Radikalste, was ich je gehört habe. Es nimmt mir alles fort und schenkt mir mich selbst zurück.

In seinen Satsangs geschieht mit mir etwas, das jenseits aller Worte ist und das auch nur zum Teil durch Worte vermittelt wird, ein Erkennen, ein Erfahren, das nicht vom Verstand oder etwas anderem Bekannten erfasst werden kann. Und dennoch geschieht es, wird eher mit dem ganzen Körper erfahren, mit allen Zellen. „Ich“ ist nicht vorhanden, der Verstand wehrt sich und bleibt dann staunend zurück.

„Hier“ ist jenseits aller Konzepte, jenseits aller klugen Worte. Endlich. Größtmögliche Einfachheit. Keine Fragen mehr. Er sagt: “Du bist völlig allein. Es gibt nur dich. Alles bist du. Das ist äußerste Heimat. Völliger Friede.“ Und: „Erleuchtung heißt zu sehen, dass es den, der die Erleuchtung anstrebt, um sie zu erleben und zu genießen und sich damit über andere zu erheben, dass es den nicht gibt. Somit sind alle Geschichten eines imaginären Ichs über Erleuchtung – Geschichten. Den Rest kannst du als Erleuchtung bezeichnen, wenn du willst. Aber die ist für niemanden zugänglich, denn dieser Niemand ist nicht da. All die Leute, die hierher kommen, glauben, etwas ganz Großes zu suchen. Nein! Sie suchen den Moment, an dem sie nicht mehr suchen müssen.” 

Die Heimat in allem finden

Noch nie hat mich ein Mensch so berührt. Es ist, als sei Prem Buddha eine einzige Verneigung vor allem, was ist. Die Art dieser Verneigung ist von großer Schönheit, Schlichtheit und Stille, weitab der üblichen Marotten der Esoterik, weitab von dem, was ich auf bekannten Internetforen oft gesehen habe. Er selbst sagt über sich: “Das Leben hat den hier durchgekaut, bis nichts mehr übrig war – und dann verschluckt.” 

Seine Art, mit Menschen zu arbeiten – so sanft, so geduldig, so absolut, ohne etwas zu tun und zu wollen, völlig wach und unbestechlich, es scheint ihm nichts zu entgehen. Manchmal glaubt mein Verstand, es müsste nun schneller gehen, mehr passieren, dann bemerke ich die sehr feinen Zwischentöne, Energien, den freien Raum – es geschieht mehr und tiefer und radikaler, als der Verstand es sich je ausmalen könnte, es kann nicht in seinen Einheiten gemessen werden.

Wenn da Schmerz ist, dann hat dieser Schmerz die absolute Priorität. Dann ist dieser Schmerz die Heimat. „Der Gedanke, es sollte anders sein, ist die Fremde“, sagt Prem Buddha. Allein diese Worte fühlen sich für mich wie Heilung an. Die Geschichten enden, es ist still geworden, und sehr einfach.

Und nun dieser sogenannte Krebs. Er muss ein Geschenk sein, sonst wäre er nicht bei mir, würde Prem Buddha sagen. Erst einmal: schmerzhafte Untersuchungen, Angst – und damit völliger Friede – und, ganz unerwartet: eine überwältigende Liebe, Zärtlichkeit. Ich möchte die Schwestern, Ärzte und alle, die mir begegnen, in den Arm nehmen und ihnen sagen, dass alles gut ist.
Die Nacht vor der ersten Operation: Still und behütet, ich liege lange wach und schaue auf die Sterne zwischen den Ästen der Tanne, höre den ersten Vogel rufen. Aus der Narkose aufgewacht, noch im OP, bin ich sofort hellwach und bleibe es auch. Da ist eine unendliche Dankbarkeit, ich verneige mich, lege die Hände vorm Gesicht zusammen, beobachte mich dabei, bedanke mich, streichle alle Arme, die ich zu fassen kriege. Am nächsten Morgen: So ein Glück, die frische Luft auf der Haut zu spüren, die Kinder auf dem Spielplatz zu hören, die Vögel.

Die zweite Operation, nun kenne ich schon alle im Operationssaal, weiß die Namen. In mir wiederholt sich von selbst immer wieder das Gedicht von Prem Buddha, das er mir am Tag zuvor geschenkt hat, meine Medizin:

Vollendung
Wo ist das Sein in Vollendung,
wo bin ich ganz
wo bin ich rund und gemeinsam
mit der Mutter aller Dinge?

Wieder die gleiche Freude und Liebe und Dankbarkeit beim Aufwachen aus der Narkose, zugleich das Gefühl, aus etwas sehr Feinem, Weitem in etwas Grobes, Enges gezwängt zu werden, wieder sofort hellwach, während neben mir alle im Tiefschlaf liegen. Ich möchte einen Witz erzählen, lasse es aber, denn ich weiß inzwischen, dass sie mich dann schnell wieder auf die Station bringen werden, und ich möchte noch hier bleiben. Es ist interessant hier, ich pruste hin und wieder vor Lachen, und sage zum OP-Pfleger: „Ich bin das, in dem das alles erscheint.“ Es sagt sich von selbst, denn es ist so offenbar. – „Ja ja, lacht er, und geht weiter. Völlige Zufriedenheit, auch später mit der Übelkeit, den Schmerzen, Prem Buddha sitzt am Bett, wie nach der ersten OP auch, so ein Glück, so eine Stille. „Du strahlst einen Frieden aus, als könntest du jetzt auch gehen”, sagt er. So fühlt es sich an.

Auch ist da die Gewissheit: Das Leben, wie es bisher war, ist ein für allemal vorbei. Was das genau heißt? „Ich brüte das jetzt aus“, sage ich, „nein“, sagt Prem Buddha, „lass dich ausbrüten, sei absolut still damit“. Plötzlich rückt Chemotherapie in greifbare Nähe, weil ein Befund schlechter ist als erwartet. Zwei Wochen später das Ergebnis des Tests – es muss doch nicht sein, große Erleichterung.

Noch einmal aus dem Alltag herausgenommen – dieses Jahr nicht mehr arbeiten, Sommer, Herbst und Winter nun allein in diesem Haus in den Bergen, und wie es weitergeht, das weiß ich wieder einmal nicht. Und ich muss es auch nicht wissen.

Sein ohne Konzepte

Ich habe als Schwester im Hospiz so viele Menschen sterben sehen, so viele Menschen mit Krebs erlebt, es ist ein Abenteuer, zu spüren, wie es ist, wenn es den sogenannt eigenen Körper betrifft, eine sehr intensive Zeit. Was, wenn nichts benannt wird, wenn alle Konzepte fallengelassen werden, auch die Konzepte Krankheit, Gesundheit, Heilung? Wie ist all das ohne Geschichte?
Alle Ideen über Heilung, alles, was ich je darüber gelesen habe – und das war viel – stimmen für mich nicht mehr, die Sicht auf die Dinge hat sich radikal verändert.

„Schau nicht zurück zu den Ursachen”, sagt Prem Buddha. „Sobald du nach einer Ursache suchst, bekommst du die Wirkung gar nicht mehr mit! Nach Ursachen suchen ist Schuld zuweisen. Die Ursache ist egal! Wie ist die Wirkung?”

Wie ist die Wirkung? Ich fühle mich wie aufgerissen, völlig offen, völlig verletzlich, berührbar, zart und doch voller Kraft. Reglos und zugleich sprühend vor Leben. Der Körper ist schnell erschöpft, es ist ein Genuss zu liegen und nichts zu tun, außer zu lauschen. Ein neues Gefühl für den Körper entsteht, eine große Zuneigung. Er ist so entspannt wie noch nie, keine Widerstände mehr, unerwartet entsteht ein ganz neues Gefühl von Weiblichkeit, sehr selbstverständlich. ­Eine Stille, die immer tiefer wird, immer neue Dimensionen, „Geschmäcker” von Stille. Staunen und Freude, eine stille weite Freude, die allen Schmerz einschließt, ich möchte mich nur noch verneigen. 

Da ist nichts, was nicht heil ist

Alles Urteilen ist mir abhanden gekommen – urteilen darüber, wie man mit so einer Diagnose und allem, was damit zusammenhängt, umgeht, wie Krankenhäuser sein sollten, all das. Früher hielt sich der Verstand für so schlau, er wusste genau, wie alles zu sein hat. Nun sind auch noch die letzten Reste weggefegt worden, nichts ist mehr da, ich weiß nichts. Und ich sehe: Es geschieht sowieso bereits alles, egal, wie man es benennt. Es ist alles schon Heilung. Oder, genauer – da ist nichts, was der Heilung bedarf, da ist nichts, was nicht heil ist. Gelächter. Das schließt ein, dass das Beste für diesen Körper getan wird, gute Ärzte gesucht werden. In der Stille weiß der Körper sehr genau, was er braucht und was ihm nicht gut tut.

Es ist alles Liebe. Es gibt nichts anderes. Prem Buddha sagt: „Alles, was erscheint, ist das Lieben des einen großen Herzens.“ Und: „Die Krankheit ist zugleich das Medikament, ist die Gesundung.“ Das ist wahr, das erfahre ich nun direkt und am eigenen Leib. Und er sagt: „Von hier aus gesehen gibt es keine Krankheit, keine Gesundheit.“

Der Nebel unten im Tal ist zu kleinen Wolken geworden, die aussehen wie flinke Schiffe, die vor­überziehen. Die Schwalben haben sich in dem großen alten Kirschbaum versammelt, ihre runden weißen Bäuche schimmern in der Sonne, die wieder aus den Wolken hervorkommt.


Abb: © Dmytro Titov – Fotolia.com
Abb 2: © piccaya – Fotolia.com

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