… ein schwieriges Thema, das zu einigen Missverständnissen führen kann. Allein dass es einen „spirituellen Weg“ gäbe, auf dem „jemand“ mächtig oder ohnmächtig (ohne Macht) sei! Schauen wir doch nur in die Natur: Hat der Vogel Macht, wenn er auf die Rose macht? Ist die Rose ohnmächtig? Über Macht und Ohnmacht auf dem spirituellen Weg.

 

Wenn wir uns diesen Fragen stellen, werden wir schnell merken: Nicht „Macht“ oder „Ohnmacht“ sind das Problem und die Herausforderung, sondern „Ich“. Rose und Vogel haben kein Ich-Bewusstsein, es geschieht spontan, was eben geschieht – von „Macht oder „Ohnmacht“ kann keine Rede sein. Der Vogel wird sich kein Denkmal erbauen, weil er so viel Macht hat, und die Rose wird keinen Krieg mit dem Vogel beginnen oder sich als „ohnmächtiges Opfer“ in Therapie begeben. Der Mensch aber hat dieses Ich-Bewusstsein, das ihm einflüstert: „ICH habe Macht über andere (etwas edler: über mich)“ bzw. „ICH kann“ – oder „ICH habe keine Macht, bin ohnmächtig“ bzw. „ICH kann nicht“. Beides sind Strategien der Kontrolle, um sich zu positionieren, um irgendwie mit dem Leben, mit der Welt umzugehen. Macht und Ohnmacht sind beide geboren aus Angst und Begierde, aus der scheinbaren Trennung „ICH und die Welt“. Wo es „mich und die anderen“ gibt, muss verteidigt und beschützt, vergrößert und verkleinert werden. Wenn wir nach „Macht und Ohnmacht auf dem spirituellen Weg“ fragen, müssen wir also als Erstes sehen, dass beidem ein ICH innewohnt – und uns mit dieser Struktur auseinandersetzen. 

 

Zwei Möglichkeiten, dem Leben zu begegnen

Macht und Ohnmacht kann man ge- und missbrauchen – der Verstand kann alles ge- und missbrauchen. Es ist wie mit einem Messer: Entscheidend ist, in wessen Hand es liegt, denn mit einem Messer kann man jemanden töten, aber auch jemanden befreien. Es sind die Motive und Ziele zu hinterfragen, denn ein Ich will immer etwas. Egal, ob es etwas macht oder ob es nichts macht, um etwas zu erreichen oder zu verhindern.

Es gibt zwei Möglichkeiten, auf das Leben zu reagieren, um sich von ihm nicht bedroht zu fühlen. Die erste Möglichkeit: Wir stellen uns darüber, glauben, dass wir es meistern können, dass wir Einfluss haben und die Dinge so lenken können, wie es uns gefällt – wenn wir es nur „richtig“ machen. Es ist die Variante der Macht, des „ich kann“, „ich mache etwas, um …“. Die andere Möglichkeit ist, sich dem Leben zu unterwerfen – vielleicht sogar unter dem Deckmantel der Hingabe, einem sehr verführerischen Konzept für „arme Opfer“. Es ist die Variante der Ohnmacht: „Ich kann nichts machen.“ Doch beide Varianten entspringen einem Kampf und darunter liegen Angst und Wut: Angst, dass das Leben, der Weg, uns nicht gibt, was wir wünschen; Wut, dass das Leben uns nimmt, was wir zu brauchen meinen. Erst wenn wir müde davon sind, diesen Kampf gegen das Leben zu kämpfen, sind wir wirklich bereit für Gott, für den Weg der Hingabe. An dieser Stelle beginnen oft die „spirituellen Wege“. Der vom Kampf des Lebens ermüdete Mensch wendet sich Gott zu, denn Gott hat die Macht.

 

Wem geben wir uns hin?

Hat Gott die Macht? Und wir Menschen sind ohnmächtig, spirituell machtlos? Ohne Zweifel ist es ein sehr wichtiger Schritt und erfordert große Ehrlichkeit, sich einzugestehen: „ICH kann es nicht – aber ES kann.“ Was auch immer wir unter „ES“ oder „Gott“ oder „höherer Macht“ verstehen, klären müssen wir für uns selbst, ob wir uns an eine liebevolle, fürsorgliche Macht wenden oder ob wir mit „höherer Macht“ Missbrauch und Ausgeliefertsein verbinden. Ein „ich kann nicht“ ohne Hinwendung zu einer liebevollen Instanz ist destruktiv und stärkt die Opferidentität. Es ist sehr wichtig, an dieser Stelle Ohnmacht und Machtlosigkeit zu unterscheiden.

Ohnmacht ist lähmend und macht handlungsunfähig. Ohnmacht ist keine wirkliche Akzeptanz, sondern eine Erduldung des Zustandes und der Glaube, es könnte anders sein. Die Ohnmacht würde formulieren: „Ich bin machtlos gegenüber der Sonne – wann endlich regnet es wieder?“ In der Machtlosigkeit ist dagegen kaum eine Spur von „es könnte anders sein“, weil das Ich, das probiert, etwas in den Griff zu kriegen, sich selbst eingestanden hat: „Egal wie – ich kann es nicht. Ich bin machtlos gegenüber dem Leben, den Gefühlen, den Gedanken – ganz klassisch: dem Wetter.“ Die Machtlosigkeit legt im Endeffekt weder Wert auf Regen noch auf Sonne, sondern akzeptiert, wie es ist. Machtlosigkeit gibt Raum für die eigene Kraft: Zwar kann ich nicht machen, dass der Regen aufhört, aber ich kann mir eine Jacke anziehen, hinausgehen und im Regen tanzen. Machtlosigkeit in diesem Sinne öffnet ein großes Tor: das Tor zum Vertrauen. Es bedeutet die Anerkennung eines größeren Vollzuges: Das Leben geschieht zu seinen Bedingungen, ich kann es nicht allein nach meinem Willen gestalten und lenken. Ohnmacht dagegen verschließt die Türen und schützt uns scheinbar vor Unsicherheit, Handlung und  Lebendigkeit. Machtlosigkeit aber ist Neuanfang – das Herz ist offen und wir lassen uns ein auf das, was das Leben mit uns vorhat. 

 

Ohnmacht und Machtlosigkeit: das Gegenteil von Macht?

Es kann allerdings zu einer Falle werden, Machtlosigkeit als etwas Erstrebenswertes anzusehen; zu meinen, es sei besser, machtlos zu sein, als über etwas Macht zu besitzen. Hier begegnet uns der „Wolf im Schafspelz“, jene Instanz, die in dem Versuch, die Kontrolle zu behalten, lediglich die Seiten wechselt. Es ist immer noch der „Rausch des Ichs“. Es ist wie bei einem Boxkampf: Wir treten in den Ring und glauben anfänglich, den Kampf gewinnen zu können, das Leben hinzubekommen. Nun kann es geschehen, dass wir an einem Punkt des Kampfes erkennen, dass wir ihn nicht gewinnen können, und wir geben auf. Dieses Aufgeben schließt jedoch nicht automatisch das Verstehen ein, dass es darum geht, überhaupt nicht mehr in den Ring zu steigen.

Denn: Machtlosigkeit, von der ich spreche, ist vor Macht und Ohnmacht – sozusagen die „Mutter“ von mächtig und machtlos. Wirkliche Machtlosigkeit besteht darin, den Ring zu verlassen und sich den Kampf von der Tribüne aus anzuschauen. Beobachten, das Zeugen-Bewusstsein. Kein Eingreifen. Anhaltende Aufmerksamkeit. Bereits in dem Moment, in dem wir uns die Frage stellen: „Ist das jetzt Machtlosigkeit oder nicht?“ stehen wir schon im Ring.

Ramana Maharshi nannte dieses Beobachten: vor dem Ich-Gedanken verweilen. Dort ist das Selbst realisierbar. Immer wieder zu fragen: „Wer bin ich?“  ist gleichbedeutend damit, aus dem Ring zu steigen. Das Selbst schaut zu. Nicht involviert, sondern als offener, unvoreingenommener Zeuge, als Zuschauer auf der Tribüne. Im Zeugenbewusstsein zu verweilen heißt, sich immer wieder das Spiel anzuschauen, im ICH BIN zu verweilen – zurück zur Machtlosigkeit. Zeugenbewusstsein ist Machtlosigkeit. Es ist das Verweilen in dem, was die Quelle von Macht und Machtlosigkeit ist.

 

Hingabe und Meditation

Je mehr sich bei den Boxern diese Hinwendung der Aufmerksamkeit nach innen vertieft, desto ausgeprägter wird paradoxerweise ihr Bemühen im Ring, eine eindrucksvolle Show hinzulegen. Das Ich gibt nicht so schnell auf. An diesem Punkt kann ich der amerikanischen Zen-Lehrerin Joko Beck nur Recht geben, die sinngemäß äußerte, dass es nur starken Menschen gelingt, sich dieser Spannung immer wieder zu stellen. Woher kommt diese Stärke, die über das Menschliche hinausgeht? Sie speist sich nur aus der Stille. Die Stille ist unsere „Tankstelle“. In der Stille wetzen wir unser „Skalpell“ der Unterscheidungsfähigkeit. Oder wie Suzuki Roshi sagte: „Das Sitzen ist nichts anderes, als das Kämpfen mit sich selbst Schritt für Schritt zu lassen.“

Nach meiner Erfahrung gibt es nur einen Weg, auf tiefer Ebene zu heilen oder aufzuwachen: Hingabe. Viele Menschen haben sehr viel Wissen, doch sie wissen nicht, was Hingabe ist. Ich kann auch nicht sagen, was Hingabe ist. Hingabe ist Gnade. Sie überkommt einen, geboren aus dem Erkennen, dass ich es nicht kann.

Nun gibt es viele Menschen, deren Konditionierung es ist, die Kontrolle – oder ihre Macht als Mensch – abzugeben. Von solchen Menschen werde ich mitunter gefragt, ob denn nicht Hingabe an das, was ist, „Wasser auf die Mühlen ihrer Konditionierung“ sei. Das ist eine Frage, die viele Menschen beschäftigt, die auf dem Weg zu Gott sind: Wie kann ich unterscheiden, ob ich nur aus der Konditionierung heraus abgebe oder ob ich in „echter“ Hingabe bin? Ich halte das nicht nur für schwierig, sondern für unmöglich! Wir müssen diese Unterscheidung nicht leisten können. Wir können nur aus dem Herzen heraus darum bitten, dass es uns gezeigt wird. Das meint das Gelassenheitsgebet: „Gott gebe mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Nichtwissen ist immer eine gute Haltung. Es wird aber zur Ohnmacht, wenn wir nicht gleichzeitig darum bitten: „Zeig du es mir, was ist dein Vorschlag?“ Und dann lauschen – vielleicht kommt in der Meditation die Antwort, in der Stille. Letztendlich kann nur jeder für sich in Stille, in Meditation herausfinden, dass alles nur Begrifflichkeiten sind: Macht – Ohnmacht – Machtlosigkeit. In Wirklichkeit gibt es so etwas wie Machtlosigkeit nicht. Die Gnade, von der ich spreche, ist die Gnade, dass alles aufhört: Macht, Machtlosigkeit – das Denken. Das Ich. Das Selbst ist frei von Macht und Machtlosigkeit, frei von Suchen und Finden. Man spricht davon auch als Glückseligkeit. Die Lösung IST das Sich-selbst-Erkennen in der Stille, in der Meditation.

 

Lehrer-Schüler-Hierarchie? Wer spricht und wer hört zu?

Ich möchte noch auf ein paar Aspekte verweisen, mit denen wir uns auf dem spirituellen Weg auseinandersetzen müssen – ob als „Lehrer“ oder „Schüler“. In den fast zehn Jahren als „Satsang-Lehrer“ habe ich Einblick bekommen in diese besondere Szene. Da gibt es viele Ego-Spiele um Macht, Missbrauch und Scheinheiligkeit. Unter dem Deckmantel der Hingabe an einen Lehrer, einen Weg, eine Praxis entsteht ein spirituelles Ich. Was wir jedoch brauchen, ist Ehrlichkeit, nicht Heiligkeit. Die Ich-Struktur durchschauen, mit Bewusstheit durchdringen. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe es selbst durchlebt. Ganz früher habe ich mich verloren gefühlt, dann erleuchtet, dann als Lehrer – und jetzt eigentlich nur noch als „Trottel“. Ich stehe mit leeren Händen da und lade andere Menschen dazu ein, ihre Hände auch zu öffnen, damit wir gemeinsam empfangen können.

Auch beim gemeinsamen Praktizieren in einer Sangha kann die Frage aufkommen, ob es eine Hierarchie, ein Macht-Ohnmacht-Gefüge ist, wenn ich spreche und die Besucher zuhören. Ist es mit einer Hierarchie verbunden, wenn Menschen automatisch ihr eigenes Wissen und ihre Erfahrungen zurücknehmen, um das aufzunehmen, was ein „Lehrer“ oder „Guru“ vermittelt? Wo fängt eine hierarchische Struktur an? Was bedeutet eine Einteilung in Lehrer/Schüler? In meinem Fall war es so, dass ich, als ich die Rolle des Lehrers annahm, mich tiefer in das Schüler-Sein bewegte. Für mich ist das Lehren der eigentliche Lehrer.

 

Gratwanderung zwischen Ego und Selbst

Es ist für jeden von uns eine große Herausforderung, all diese Autoritätsspiele zurückzulassen, denn wir lieben unsere Identitäten: die des Suchers, des Schülers, des Lehrers, desjenigen, der gefunden hat. Sie aufzugeben ist ein Risiko. Für mich bedeutet Sangha nicht, dass dort ein fertig gebackener Lehrer sitzt, der immer weiß, wo es entlanggeht. Suzuki Roshi sagte einmal, es sei besser, einem ernsthaften entschlossenen Schüler zu folgen als einem überheblichen Meister. Da ich selbst die Tendenz zur Überheblichkeit, zur „Meister-Attitüde“ kenne, ist für mich die Sangha so kostbar und ich bin dankbar dafür, dass wir den Weg gemeinsam gehen dürfen. Bis heute habe ich Respekt vor den Tricks des spirituellen Egos. Ich weiß, wie das Ego sich zeigt, wenn es „im Namen Gottes“ die eigene Macht und Selbstgerechtigkeit rechtfertigt. All das ist eine weitere Einladung, jeden Anspruch auf Vollkommenheit und Wissen aufzugeben. Andererseits gilt es jedoch, dem Wissen, das aus der Tiefe kommt, zu vertrauen, es nicht zu verleugnen. Das ist eine Gratwanderung, die große Wachsamkeit erfordert. Diese Wachsamkeit wird ermöglicht durch eine disziplinierte spirituelle Praxis.

Erlauben wir uns, nicht zu wissen. Es ist völlig uninteressant, was wir wissen, was wir erkannt haben, bei welchen und wie vielen „Lehrern“ oder „Gurus“ wir schon gewesen sind – oder wie viele „Schüler“ bei „mir“ erwacht sind. Wichtig allein ist Weichheit, ein ständiges Hinterfragen: Ist es wahr, was Karim – oder wer auch immer – mir da erzählt? Ist es wahr, was ich gehört oder gelesen habe? Ist es wahr, dass ich ein „Lehrer“ bin? Ist es wahr, dass ich ein „Schüler“ bin?

Das ganze Thema „Macht und Ohnmacht“ ist in sich nicht lösbar. Es ist nicht dafür da, gelöst zu werden. Man kann es nicht aus der Welt schaffen mit einem Projekt „Wie baut man Hierarchien oder Machtstrukturen ab?“. Die Grundlage jeder Hierarchie, jedes Machtspiels ist das ICH. Das ist die Idee vom eigenständigen Handeln und von „mir“ als getrenntem Individuum. Das ist die Ur-Hierarchie – alles andere folgt daraus. Die Lösung IST Meditation.


Abb. : © Mahesh Patil – Fotolia.com
Abb. 2: © Mahesh Patil – Fotolia.com

Meditation mit Karim im „Sea of Joy“,
Stresemannstraße 21
(2. HH, 5.St.), 10963 Berlin-Kreuzberg:

Mo-Do  8.00-8.40
9.00-9.40 Uhr
Di (an diesem Abend sind gehörlose Besucher besonders willkommen. Karim kann sich in DGS verständigen)  18.00-18.40
18.50-19.20 Uhr
Do 18.00-18.40
18.50-19.10 Uhr
Fr 8.00-8.40 Uhr

Satsang/Vortrag mit Karim:
Do, 19.30-21 Uhr
Fr, 9-9.20 Uhr

Nächster Meditations-Sonntag (10-14 Uhr):
9.2.2013

Oster-Schweige-­Retreat 16.-21.4.14 in Dannenberg/Elbe (Wendland) zum ­Thema: „Die Kraft der Wertschätzung“.

Mehr Infos bei ­Susanne unter
Tel.: 030-661 88 96 oder 0174-299 95 07 oder karim@satsang-mit-karim.de
www.meditation-jetzt.de

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