Die indische Baukunst Vastu-Shastra: das Wissen vom gesunden Wohnen und Bauen

Ayurveda und Vastu Shastra haben beide ihre Wurzeln im indischen Kulturkreis. Beide Konzepte finden sich in Ansätzen bereits in den Upanishaden, vor allem aber in indischen Sanskrit-Lehrbüchern, welche im ersten Jahrtausend nach Christi verfasst wurden. Ähnlich wie in der Harmonielehre des chinesischen Feng Shui geht die indische Raumlehre davon aus, dass die Energien eines Raumes Heilung und Konstitution der darin Lebenden beeinflussen können: Du bist, wie du wohnst! Während die ayurvedische Lehre aber immer mehr Menschen in Europa fasziniert, fristet die Kunst des Vastu-Shastra noch ein relativ unbeachtetes Dasein. Ein Wissensschatz, den zu heben sich lohnt.

Bei der Beschäftigung mit Vastu-Shastra zeichnen sich spannende Parallelen zu anderen Hochkulturen und deren Bauprinzipien ab. In der ägyptischen, sumerischen, chinesischen und später dann der griechischen Kultur wurde bei Planung und Bau von Gebäuden der Ausrichtung nach den Himmelsrichtungen und auf bestimmte Proportionen eine ähnliche Aufmerksamkeit geschenkt. Ebenfalls ist belegt, dass auch die Bauplätze bewusst nach damals gültigen Vorgaben und Notwendigkeiten ausgewählt wurden, wobei neben geomantischen Vorkommnissen auch Astronomie, Geometrie, Topographie und Heilkunde als wichtig empfunden und einbezogen wurden. Schon immer spielten auch die benutzten Materialien für den Bau von Wohnhäusern, Tempeln und Palästen eine besondere Rolle. Nicht nur in Bezug auf die zu erbringende Stabilität von Raumkörpern, sondern auch im Hinblick auf ihre wärmenden oder kühlenden Eigenschaften, (Farb-)Schwingungen und auch auf Gesundheit, Hygiene und Körperverträglichkeit.

In den Schriften des Vastu-Shastra finden sich beispielsweise Erläuterungen, auf welchen – der Gesundheit zuträglichen oder abträglichen – Bewuchs und mineralische Vorkommen man beim Auswählen des Baugrunds achten sollte. Pflanzen mit bitteren milchigen Säften werden hier zum Beispiel als Indiz für einen zu reinigenden Baugrund gewertet. Braune, süß riechende Erde und Lehme wiederum gelten als günstig für das Fortkommen der Familie.

 

Bauen nach den Elementen

In der Lehre der indischen Baukunst spielt auch die Balance der Elemente eine entscheidende Rolle. Wie auch im Ayurveda gilt eine ausgewogene und vor allem richtig platzierte Verteilung der Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde als gesund. 

Die unten stehende Tabelle zeigt dies und gibt ebenfalls einen Hinweis auf den Sitz der im Ayurveda genutzten Dosha-Lehre, welche drei Bioenergien definiert, mit welchen die individuelle Konstitution des Menschen beschrieben wird. Nach dem gleichen Ansatz wird im Vastu-Shastra gearbeitet, um die Verteilung oder Ausprägung der Elemente zu harmonisieren und beispielsweise im Rahmen einer Therapie zu nutzen. 

Vata, das luftige Prinzip der Bewegung und der Kommunikation im Körper, hat in der Wohnung oder im eigenen Haus seinen Hauptsitz im Nordwesten. Hier sollten all jene Lebens-Funktionen untergebracht werden, welche mit Bewegung und Kommunikation verknüpft sind: Gästezimmer, Konferenzraum, Kinderzimmer, Büro, Wohnzimmer, Bad.

Pitta, das feurige Prinzip der Transformation, Verdauung, Ausstrahlung und des sinnlichen Erlebens, konzentriert sich naturgemäß im Südosten, wo auch die Sonne steht, wenn unser Verdauungsfeuer gegen ca. 11.30 Uhr seinem Höhepunkt erreicht. Hier platziert man am besten die Küche, ein Schlaf- oder auch Kinderzimmer. Alle sinnlich betonten Aktivitäten erhalten im Südosten eine natürliche Befeuerung.

Kapha, das erdige, wässrige Prinzip von Schwere und Stabilität, aber auch der Klarheit und Stärke, findet sich in der Vastu-Matrix auf der Achse zwischen dem Südwesten und dem Nordosten.

Diese Achse bildet energetisch somit das Rückgrat eines Raumes bzw. Hauses, wobei es im Südwesten wurzelt. Im Südwesten darf analog alles Schwere platziert und gelagert werden, hier hat das Firmen- wie auch Familienoberhaupt beziehungsweise haben die Eltern ihren Arbeitsraum oder Schlafplatz. Im Nordosten findet der Geist Offenheit und Leichtigkeit für die gewünschte Klarheit und Reinheit eines gesunden Lebens.

Du bist, wie du wohnst: Konstitution und Wohnräume

Im Ayurveda wird die individuelle Ausprägung eines Menschen mit Hilfe von drei Grund-Konstitutionen (Vata, Pitta und Kapha) beschrieben, welche wiederum in verschiedenen Gewichtungen vorherrschen. Ein stämmiger und kräftiger Körperbau wird hier dem Dosha Kapha zugeordnet, besitzt also eine Betonung der Elemente Erde und Wasser.

Eine von Kapha geprägte Person fühlt sich im Prinzip in den zugeordneten Quadranten Süd/West und Nord/Ost grundsätzlich wohl. Im gesunden Gefüge gilt also der Grundsatz, dass Gleiches einander gefällt. Anders verhält es sich, wenn die von Geburt her gege-bene körperliche und psychische Konstitution, also die individuelle Dosha-Prägung (Prakiti) durch übersteuerte Doshas gestört ist (Vikriti). Hier bietet sich die Möglichkeit, nicht nur mit klassischen ayurvedischen Maßnahmen (Veränderung des Lebensstils, Ernährung, Nahrungsergänzungen, Kräu­­ter etc.) gegenzusteuern, sondern eben auch die Lehre des Vastu zu Hilfe zu nehmen. 

Im Fall gestörter Dosha-Prägungen sollten Mitglieder einer Familie oder Gemeinschaft bewusst eine Zeit lang Räume beziehen, welche Ihre Dosha-Störung auszugleichen vermögen. Dabei wird ein „zu viel“ eines Elements durch Platzierung des Schlaf- oder Arbeitsplatzes mit seinem Gegenpol ausgeglichen. Dieses Prinzip lässt sich im Rahmen einer Vastu-Konsultation gut therapeutisch anwenden. Ein Kinderzimmer im Nordwesten oder im Südosten gilt im Vastu grundsätzlich als günstig platziert. In der Praxis integriert der erfahrene Vastu-Experte nun die Dosha-Analyse der Kinder: Ein Mädchen, welches beispielsweise psychisch labil, unkonzentriert und hyperaktiv ist, körperlich eher eine dünne und feine Erscheinung ist (erhöhtes Vata) und oft friert, sollte entgegen der grundlegenden Empfehlung in solch einem Falle nicht unbedingt im Vata-Quadranten der Matrix schlafen. Im beschriebenen Fall empfiehlt es sich, dass Mädchenzimmer dann im Süden oder Südosten einzurichten.

Gesund schlafen, erfolgreich arbeiten

Der Nordosten gilt im Vastu allgemein als ungünstiger Schlaf- und Arbeitsplatz, da hier die Schwingungspalette mit vielen Oberschwingungen (vergleichbar mit Obertönen in der Musik) angereichert ist und die geistigen Kräfte anregt. Dies resultiert daraus, dass der Nordosten die höchste Konzentration an dieser Kraft innerhalb eines Hauses aufnimmt, denn gerade am frühen Morgen und somit zur Zeit des Sonnenaufgangs im Nordosten sind die Licht- und Naturschwingungen besonders flirrend und tendenziell hochfrequenter. 

Diese größere Bandbreite an Oberschwingungen regt die spirituellen Kräfte an, fördert die Inspiration und unterstützt die Meditation, nicht aber den Schlaf. Hier ist vorzugsweise ein Yoga-, Meditations- oder Andachtsraum wohl platziert. Aber auch der Eingang eines Hauses oder angemieteter Räume ist hier bestens situiert, nach dem Motto: Öffne dich mit deinem Haus, deiner Wohnung (welche hier als Erweiterung des Körpers gesehen wird) dem Zufluss jenes hochfrequenten Schwingungs­cock­tails, welchen man vereinfacht mit dem Begriff „Prana“ (Lebensenergie) umfassen kann.

Schlafen lässt es sich nach der Lehre des Vastu-Shastra gut in jenen Quadranten, welche vergleichsweise wenig Oberschwingungen vorhalten. Dies ist vor allem im Südwesten und den angrenzenden Quadranten Süden, Westen, Südosten und Nordwesten der Fall. In dieser langsamer schwingenden Zone ist der Schlaf grundsätzlich ruhiger und tiefer, da der Geist über Nacht weniger Anregung erhält. Im Nordosten, Osten und Norden hingegen ist der Schlaf flacher, der Geist bleibt aktiver. Sorgenvolle Wachzeiten in der Nacht können durch eine Verlegung des Schlafzimmers in die süd- und westlichen Zimmer eines Hauses oder einer Wohnung verringert werden.

Ähnlich verhält es sich mit der Platzierung des Arbeitszimmers oder Schreibtisches. Für kreative und künstlerische Arbeiten, wo man auf Inspiration und gute Ideen angewiesen ist, empfiehlt sich der hochschwingende Sektor im  Norden oder Osten.

Berufliche Tätigkeiten, welche auch finanziell Substanz und Stabilität erarbeiten sollen, erledigt man jedoch besser im Erd- und Feuer-nahen Süden/Südwesten oder Südosten. Diese Quadranten versprechen beruflichen Fortschritt und Stabilität. Die Blickrichtung vom Schreibtisch aus sollte hier nach Norden oder Osten weisen. Tätigkeiten, die mit Verkauf, Kommunikation, Außenkontakt zu tun haben, finden im Nordwesten ihre beste Unterstützung.

 

Leben mit offenem Herzen

Im Zentrum eines gestalteten Raumes ist das Element Äther zu Hause. Der Äther als feinstes Element braucht offenen Raum, um so zu wirken, dass Schwingungen sich verweben lassen. Auch die Verbindung in die dritte Dimension – die Achse von Erde und Himmel – wird im Zentrum eines Raumes gesichert. Vergleichbar mit dem Marktplatz eines Dorfes, welcher durch seine Lebendigkeit ein Dorf erst zu einem echten Dorf macht, im Gegensatz zu einer schlichten Siedlung, die oft ohne Zentrum und Herz auskommen muss und so meist seelenlos bleibt.

Das Miteinander und der Zusammenhalt in einer Gemeinschaft wird durch einen offenen Raum in der Mitte der Gemeinde, des Hauses oder der angemieteten Räume gefördert. Vertrauen und Verständnis füreinander, insbesondere auch zwischen den Generationen, brauchen ein offenes Herz und so einen inneren Raum, der frei von schweren Objekten und Mauern ist und in seiner Nutzung dynamisch bleibt. 

Und ein offener Herzraum – im Vastu „Brahmasthanam“ genannt – stärkt das Immunsystem aller Bewohner und hilft auf diese Weise – ganz im Sinne des Ayurveda – die Gesundheit im Ganzen zu fördern.


Abb 1: © Nniud – Fotolia.com
Abb 3: © Mark Rosenberg – Vastu Shastra und Doshas

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