Auf der vierten Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig sprach Kontext TV mit dem Philosophen Euclides Mance von der braslianischen Organisation Solidarius über die Perspektiven einer Solidarischen Ökonomie der Befreiung jenseits von Wachstum und Profit.

 

Kontext TV: Sie engagieren sich in Brasilien und weltweit für eine ­Solidarische Ökonomie – und sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „Ökonomie der Befreiung“. Was ist damit gemeint?

Euclides Mance: Mehr als eine Milliarde Menschen sind heute von Hunger betroffen. Milliarden Menschen leben unterhalb der ­Armutsgrenze. Sie haben kaum Essen, keine Kleidung, keinen ­Zugang zu Medizin. Aber sie ­haben viele Bedürfnisse und große Hoffnung, ihre Realität zu ändern.

Viele von ihnen sind daher aktiv tätig in der Solidarischen Ökonomie. Sie organisieren sich in solidarischen Gemeinschaften für Produktion, Austausch und Konsum. Es sind selbstorganisierte Gruppen ohne Chefs und Angestellte; Gruppen, die ökologisch orientiert sind und das Gleichgewicht der Ökosysteme wiederherstellen wollen.

Diese Gruppen schaffen auch ­lokale Währungen und „soziale Währungen“, sie finanzieren sich nach ethischen Kriterien und ­betreiben fairen Handel. Es gibt Abertausende solcher Gruppen.

Aber wie kann man mit all diesen größeren und kleineren Initiativen das Wirtschaftsmodell ändern? Um das zu erreichen, müssen alle diese Praktiken in eine Strategie der wirtschaftlichen Befreiung ­integriert werden. Darum geht es: um eine Ökonomie der Befreiung. Es müssen Netzwerke der Zusammenarbeit aufgebaut werden, die es ermöglichen, die wirtschaftlichen Macht- und Wissensflüsse anders zu organisieren, um einen wirklichen strukturellen Wandel zu erreichen.

Die kapitalistische Wirtschaft ­basiert auf dem Prinzip der Knappheit. Sie benötigt eine ­unbefriedigte Nachfrage, um ­Gewinne erzielen zu können. Es muss Geldknappheit herrschen, um das Preisgleichgewicht aufrecht zu erhalten und die Akkumulation von Werten zu ­sichern. Die solidarische Wirtschaft dagegen hat das Ziel, ein gutes Leben – das buen vivir – für alle Menschen zu garantieren. Sie­­ ­sichert die ­Produktion von Gütern und Dienstleistungen, um die ­Bedürfnisse der Menschen zu ­befriedigen; zugleich schafft sie ein ­System von Wertzeichen, das sich vom herkömmlichen Geld grundsätzlich unterscheidet, um den Austausch zwischen Verbrauchern und Produzenten in ökologisch nachhaltiger und ­sozial ­gerechter Weise zu er­möglichen.

 

Kontext TV: Wie funktioniert die Solidarische Ökonomie konkret – und wie viele Menschen sind in Brasilien derzeit daran beteiligt?

Euclides Mance: Die solidarische Ökonomie – die Ökonomie der Befreiung – wird von  selbstverwalteten Organisationen aufgebaut. Nicht der Staat konstruiert die wirtschaftliche Befreiung der Gesellschaften; die Gesellschaft selbst befreit sich, und zwar durch Zusammenarbeit. In Brasilien ­haben wir viele Netzwerke organisierter solidarischer Wirtschaft. ­Eine Bestandsaufnahme ergab, dass es bereits 22.000 Initiativen gibt, die solidarische Wirtschaft betreiben. Beteiligt sind insgesamt 1,6 Millionen Menschen. Und der jährliche Umsatz beträgt 4,4 ­Milliarden US-Dollar.

Wir haben ein Netzwerk von mehr als 100 Gemeinschaftsbanken, die lokale Währungen herausgeben. Sie arbeiten integriert mit soli­darisch bewirtschafteten Fonds zusammen und ermöglichen so auf der einen Seite den nicht-­monetären Austausch innerhalb der Netzwerke, auf der anderen Seite aber auch monetäre Zahlungen außerhalb der Netzwerke.

Es gibt auch Handelssysteme, die ökologische Landwirtschaft in verschiedenen Regionen des Landes logistisch miteinander verbinden, und ein landesweites System, das ein Siegel für den fairen solidarischen Handel herausgibt – und das jüngst auch von der Regierung genehmigt wurde. Darüber hinaus haben wir in Brasilien ein zivil­gesellschaftliches Forum für solidarische Wirtschaft, das der Vernetzung aller Akteure dient.

Trotzdem gibt es noch viel zu tun. Die Wirtschaftskreisläufe der einzelnen Organisationen sind noch nicht wirklich integriert und mit­einander verbunden. Genau das aber ist ein entscheidendes strategisches Element für wirklichen Wandel. Wenn es uns nicht gelingt, das umsetzen, gibt es auch keine strukturelle Transformation.


Abb. : Euclides Mance

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