Wenn wir unseren Körper lassen

Depressive kennen das: Nicht nur der Geist, sondern auch der  Körper ist wie gelähmt oder erstarrt. Nichts geht mehr. Hier setzt eine faszinierende Methode an: TRE (Tension and Trauma Releasing Exercises). Sie greift auf simple körperliche Reflexe zurück, die die Lebendigkeit wieder unwillkürlich im Fluss sein lassen.

 

Depressive Zustände zehren.

O. kommt das erste Mal zu einer Sitzung, 26 Jahre, diagnostiziert mit schwerer Depression. Er bewegt sich fast wie ein Blinder, Kopf und Oberkörper fallen mir sofort auf, da sie in der Bewegung ein Stück bleiben. Er kann genau beschreiben, wie er wahrnimmt. Sein Ziel sei es, in den Körper zurückzukommen. Aber wie? Ich arbeite seit vier Jahren mit TRE: Wenige Vorübungen lösen einen Reflex aus, der sich unwillkürlich durch den Körper bewegt und dabei Bindegewebsverklebungen sowie Muskelverspannungen regelrecht zurechtschüttelt. Es gibt nichts zu tun, als präsent zu sein – und damit plötzlich unwillkürlich im Fluss.

Wir lassen es schütteln. Es ist ein physisch wie psychisch wärmender Prozess. O. lässt sich darauf ein, ist erstaunt und nach dem zweiten Mal erschüttert, als er merkt, dass er so weit weg war von sich. Er findet heraus, wie er allein daheim üben kann, und berichtet dann in der ersten Gruppe, die ich kurz darauf beginne: „Seit Kurzem übe ich TRE, es ist besser als Tabletten: ich schlafe wieder, habe begonnen, Träume zu erinnern – und wisst ihr, es ist ein Kampf, zurückzukommen.“ Lebendigkeit breitet sich bei allen aus und erheitert uns. Bei jedem ist TRE anders, bei jedem Üben ist es anders. Sukzessive lösen sich Schichten von Unbelebtem, Übererregung und gewohnten Kompensationen ab. Es ist kein „Quick fix“, es ist eine Praxis.

Nach zweieinhalb Monaten frage ich O.: „Übst du noch? Was sind deine Erfahrungen?“ – „Wenn ich es mit Liebe tue, dann werde ich ganz, ganz ruhig. Ich komme in mich rein. Mache ich es auf Chaos, gehe ich aus dem Körper wieder raus.“ Inzwischen schläft er regelmäßig, ändert seine Ernährung zu einer weniger toxischen, ist beweglicher, beschreibt  die unterschiedlichsten Gefühle und lernt, sie einfach da sein zu lassen. Ein Ergebnis von Selbstregulation. 

 

Unwillkürlich im Fluss – Wie funktioniert das?

Zum Überleben schüttet unser Gehirn Hormone für die Kampf-/Flucht- oder Totstellreaktion aus. Dies haben wir mit den Säugetieren gemeinsam. Wenn die Gefahr vorbei ist, vibrieren sie und stellen damit  diesen „Alarmknopf“ aus. Tiere in der Wildbahn zittern und überleben damit täglich. Bei Menschen ist der Reflex durch Kontrolle, durch Sozialisation meist unterdrückt… dadurch wird die überschüssige Ladung weiterhin gehalten und wirkt sich krankmachend aus.

 

Ich liebe an dieser Arbeit ihre Natürlichkeit, Wirkung und Weite:

– Die Natürlichkeit verbindet jeden mit seinem instinktiven Teil. Das Staunen darüber erschüttert die „Gewohnheit“, sich woanders als im Körper aufzuhalten. Es ist eine Achtsamkeitspraxis, die das Unbewusste mit einbezieht.

– Vor allem in der Gruppe sehe ich: Schon nach den ersten Malen entwickeln sich untereinander und bei jedem mit sich selbst Sanftheit und Verständnis – aus dem Bauchgefühl heraus.

– TRE ist ein kulturübergreifender Ansatz, der seit Jahren großen Bevölkerungsgruppen in akuter Not hilft.

TRE vertieft die Erdung, fast nebenbei lernt man Schwingung wahrzunehmen, in Resonanz zu gehen. In mir selbst treffen sich da verschiedene Heilungswege: Atemarbeit, Rhythmustherapie (TAKETINA), Cranio. Mit TRE kann man in der Regel früh eigenverantwortlich arbeiten. Es ist damit auch eine optimale Unterstützung und Ergänzung zu verbal orientierten Wegen.

Ich habe mit Dankbarkeit gesehen, wie TRE Menschen half, unter der Angst oder Depression ihre Lebendigkeit wieder zu fühlen. Da der Reflex sich ganzkörperlich ausbreitet, kommt man fast nicht darum herum, Wohlgefühl oder Freude zu begegnen. Ein Fuß ist in der Tür, Lebenslust und Selbstwertgefühl steigen. Häufig wird unmittelbar nach dem Üben eine tiefe Ruhe oder auch Ruhe und Licht beschrieben. Es wird leichter. Leblosigkeit oder Dissoziation fallen ab, wenn man weiter übt. Dies habe ich genauso in Zimbabwe beobachtet, wo ich mehrere Jahre gearbeitet habe, sowie in Deutschland in der Begleitung von ausländischen Menschen.

Seit zehn Jahren lehrt Dr. David Berceli diesen Ansatz, den er nach seinem eigenen Heilungsweg entwickelt hat. Er beobachtet und begleitet aus dem Krieg heimkommende Soldaten, Menschen in akuten Schocks nach Katastrophen oder Entwicklungstrauma, Menschen mit langwierigen oder chronischen Krankheiten. Schnell wurde klar, dass wir alle diesen oft verschütteten Reflex brauchen, um uns wieder näher zu kommen. Einmal reinstalliert, beginnt der Reflex bei Bedarf – d.h. bei Übererregung – von selbst. Wir brauchen nicht weiterhin Übererregung zu speichern und uns und anderen das Leben damit schwer zu machen.

Ich empfinde das als ermutigend, als zutiefst humanitär und Not-wendig.

Eine Antwort

  1. Brigitte Brausam-Hansen
    Einladend und vielversprechend

    Liebe Frau Nürnberger,
    vielen Dank für Ihren Artikel. Das hört sich gut an! Auch Ihre Internetseite vermittelt das Gefühl von Kompetenz, Liebe, Wohlwollen, Erfahrung und Zuversicht in das was Sie an Menschen weiterzugeben habe.
    Schade, dass Berlin so weit von mir weg ist. Ich würde Sie und TRE gerne einmal persönlich kennen lernen.

    Alles Gute & herzliche Grüße
    Brigitte Brausam-Hansen

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