Opfer

Der spirituelle Film, dessen vorsichtige Erkundung sich diese Kolumne vorgenommen hat, ist wie ein ausgedehnter Kontinent, der weitgehend im Dunkeln liegt. Doch hier und da gibt es einzelne Leuchttürme, die wenigstens ein Stück der Landschaft erhellen. Zu denen gehört das Werk des russischen Filmpoeten Andrej Tarkowskij, der im Dezember 1986 starb. Dass nun zumindest sein letztes Werk „Opfer“ in einer vorzüglichen DVD-Edition vorliegt, ergänzt durch ein anderthalbstündiges Werk-Portrait dieses zutiefst religiösen Mannes, verdanken wir dem überaus anspruchsvollen DVD-Label absolut medien aus Berlin.

„Opfer“ gehört zu einem Film-Genre, das mit dem Zusammenbruch der dualen Weltordnung 1989 etwas in Vergessenheit geriet: dem atomaren Katastrophenfilm. „Was wäre wenn …“, fragten diese Filme: wenn die erste Bombe gezündet, wenn der Wettlauf der gegenseitigen Zerstörung nicht mehr aufzuhalten wäre? Hier trifft die grausame Nachricht auf eine kleine bürgerliche Festgesellschaft, die in einem einsam gelegenen Holzhaus am Meer den 50. Geburtstag des Hausherrn Alexander feiern will. Es geht zu wie in einem Stück von Tschechow: Man sitzt zusammen und redet und redet, bis sich sogar der Hausherrin der Wunsch entringt, es möge endlich Schluss sein mit all den Worten, es möge doch endlich einmal jemand etwas tun. Doch so, wie Alexander diesen Wunsch umsetzt, war er nicht gemeint: Er kommt dem drohenden Desaster zuvor und setzt das Holzhaus mit eigenen Händen in Brand, wofür er prompt von Männern in weißen Kitteln abgeholt wird. Ob Alexander sich damit Gott als Opfer anbietet, wie Tarkowskij selbst zu meinen schien, darf im Abstand der Jahre füglich bezweifelt werden. Eher sollte uns auffallen, dass Alexander einen tiefschwarzen Morgenmantel mit einem YIN/YANG-Zeichen auf dem Rücken trägt. Mich erinnert sein Verhalten an die berühmte ZEN-Lehrgeschichte von den Ochsen, die ziehen zu lassen der entscheidende Schritt in die eigene Freiheit ist. Alexander opfert weder sich noch seine Gäste: Er zerstört lediglich das Gehäuse der Hörigkeit, den Hort der Lebenslügen, die unter dem Druck der atomaren Bedrohung überdeutlich zutage getreten waren.

[DVD bei absolut medien Berlin. 29,95 €]

 

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