Ein Interview mit François Michael Wiesmann über kreative Forumsarbeit und das Transzendieren der eigenen Triebkraft.

Von Uschi Rapp

 

Kreative Schattenarbeit und spielerischer Ausdruck der göttlichen Präsenz sind die Werkzeuge der Gruppenarbeit im Forum X. François Michael Wiesmann lädt ein, in der Forumsarbeit beides auf die Bühne zu bringen. Wenn wir es schaffen, unsere unerlösten Stellen anschließend auch auf der Bühne des Lebens – in unserem Alltag – zu betrachten, können wir größerer Leichtigkeit die darin gebundenen Energien in Lebenskraft verwandeln. In einem ein-tägigen Sonderevent, dem ForumXL, wird gemeinsam mit den Teilnehmern aus unterschiedlichen Elementen wie Meditation, Musik, Tanz, Improvisation und Readings ein Rahmen gestaltet, um das eigene Potenzial zu entdecken.

Was genau ist die Forumsarbeit bzw. was ist das Forum X?

Diese Art von Forum ist in Gemeinschaften entwickelt worden, um die Kommunikation transparent zu machen und auch die Dinge in der Gemeinschaft zu kommunizieren, die eher untergründig laufen: das Ungesagte, das Peinliche, das Unmoralische, das, was alle spüren und niemand ausspricht. Die Form ist einfach: Die Teilnehmer sitzen im Kreis und jeweils eine Person tritt in die Mitte des Kreises. Sie beginnt eine einfache Improvisation zu dem Thema, das sie bearbeiten möchte und wird dabei durch eine Moderation unterstützt. Es ist eigentlich ein Instrument, um in sozialen Kontexten Klarheit und Vertrauen zu schaffen. Forum X ist eine daraus weiter entwickelte Form, die mit den Energien der Menschen arbeitet und den Ausdruck in verschiedenen Medien nutzt, um den Rohstoff des menschlichen Daseins zu bearbeiten.

 

Was habe ich als Einzelperson davon?

Das Forum X bietet dir die Möglichkeit, eine ursprüngliche, sehr einfache Art der Kreativität, diese unbändige Lust am Gestalten freizulegen und dabei dein Potenzial ein Stück weit mehr kennen zu lernen und zu entfalten. Und aus all diesen einzelnen Mustern, Schatten, Impulsen von Menschen eine Art Gesamtkunstwerk, eine Gesamtschau auf das Phänomen „Mensch 2014“ zu erhalten. Wer sind wir denn? Wie bewusst handeln wir? Welche Schichten liegen unter unserer normalen Kommunikation? Und wie können wir das immer tiefer wahrnehmen und bewusster kreieren?

 

Es erwartet mich also eine Art „kreativer Schattenarbeit“?

Weißt du, wenn wir eifersüchtig, neidisch, überheblich sind, wenn wir verliebt oder sehnsüchtig sind, wenn wir Angst haben oder nicht wissen, wohin mit unserer Wut, wenn wir schlecht über andere denken, obwohl man das nicht sollte, wenn wir Mordgelüste haben, oder geil sind und keinen Partner kriegen oder vor Glück überfließen, oder einfach mal verrückten Blödsinn reden möchten – wohin sollen denn all diese Dinge gehen, wenn wir sie immer verstecken und versuchen, eine gute Figur dazu zu machen? Sollen wir dann immer zum Therapeuten gehen? Warum soll den das nicht mal in Würde und Wonne, oder auch unter Schweiß und Tränen, als Teil unseres Daseins gefeiert, gesehen und genommen werden? Es ist doch auch ein Teil der Evolution des Menschen. Wir sind Produkte der Geschichte und gleichzeitig das Potenzial der Evolution. Es ist eine Art Kunst, die den Menschen selber zum Objekt hat. Wir gestalten uns selbst.

 

Dein Anliegen ist es, dass wir die göttliche Präsenz so tief in unsere Zellen lassen, dass sie durch unseren Körper und unseren Ausdruck spricht. Warum ist das wichtig?

Göttliche Präsenz ist in dem Maße wirksam in unserem Leben, wie sie verkörpert ist. Nicht wenn wir drüber reden, sondern wenn wir zulassen, dass wir von ihr durchdrungen werden. Wenn Menschen nur göttlich sind, wenn sie auf dem Meditationskissen sitzen, im Leben aber durch Abgehobenheit auffallen, dann würde ich sagen, sie verkörpern es nicht, es ist nicht in ihren Zellen, sondern nur in und über ihrem Kopf. Das bringt natürlich keine Transformation ins Leben.

Ich erkenne göttliche Präsenz in Menschen z. B. daran, dass ich ein klares Gegenüber in ihnen finde, dass sie lebensfreudig sind, engagiert, dass sie Konflikten nicht aus dem Weg gehen, und dass sie in der Lage sind, auch in schwierigen Situationen eine große Perspektive einzunehmen, und dass sie sich in den Dienst von etwas Größerem stellen. Ich finde schon, dass wir in einer Welt leben, die davon mehr brauchen kann. Aber wie gesagt nicht in Form von Mission und Dogma, sondern in Form von gelebter Gegenwärtigkeit.

 

Aber wie lehrt man das Zulassen von göttlicher Präsenz? Wirst du den Teilnehmern das Beten beibringen?

Es geht weniger darum, Beten zu lernen, auch wenn das ein guter Einstieg sein kann. Es geht darum, dass mein eigenes Leben zu meinem Gebet wird. Die göttliche Präsenz in unsere Zellen zu lassen, ist Übungssache. Nach meiner Erfahrung geht das da am schwersten, wo eben die Schattenareale in Körper und Seele liegen. Deswegen bin ich ein Fan davon, Schattenarbeit und Meditation oder Andacht miteinander zu verbinden. Dadurch entsteht eine Glaubwürdigkeit und Tiefe, die unser Herz öffnet.

 

 

Das Forum XL also als Werkstatt für die Potenzialentwicklung? Was kann ich mir unter einem „Event mit Meditation, kreativer Schattenarbeit und künstlerischer Alchimie“ vorstellen? Müssen wir denn wirklich alle Künstler sein?

Ich möchte die Gegenfrage stellen: Müssen wir denn so normal sein?
In der Kunst wird das Potenzial geboren. Kunst ist der Vorentwurf eines erträumten Lebens, ein Rohzustand, der nicht dem Druck von Normen, Leistung oder Moral unterworfen ist. Kunst schafft Risse im Gefüge der Normalität, durch die das Neue hereinfahren kann. Das ist der Anfang aller Potenzialentwicklung.

ForumXL ist eine neue Kreation, eben mit dem Thema „Triebkraft trifft Transzendenz“. Das ist entstanden aus einer Theaterwerkstatt von uns Vieren (dem Team), wo wir der Frage nachgehen, was es braucht, damit göttliche Präsenz auf die Bühne kommt. Das ist ja so eine Sache, göttliche Präsenz kann man nicht direkt darstellen. Das geht nur indirekt. Es hat etwas zu tun mit angstfreiem Dasein auf der Bühne. Und bei unseren Trainings haben wir festgestellt, dass wir natürlich immer an den Stellen hängen bleiben, wo wir verschlossen sind. Da kann das Leben nicht direkt durch uns sprechen. Also wird die Frage einer göttlichen Präsenz auf der Bühne von selbst auch zur Frage, was tun wir den mit unseren Schatten, mit den unerlösten Stellen in uns. Wir haben darauf keine Antwort, lieben aber diese Fragestellung … und entwickeln uns dahin, immer intensiver und intimer zu werden mit uns und andere das sehen zu lassen. Und sie es auch sehen zu lassen, wenn wir es nicht können.

Die Alchimie einer guten Schattenarbeit besteht ja darin, aus Scheiße Gold zu machen. Und das hat damit zu tun, dass wir bestimmte gewohnte Urteile von den Energien wegnehmen und sie so pur wie möglich betrachten. Durch diese Änderung des Wertekontextes können wundersame Dinge geschehen.

 

Viele Menschen halten sich ja nicht für kreativ und haben eventuell Angst in einen Workshop zu gehen, in dem der künstlerische Ausdruck angeschaut und vor der Gruppe zur Schau gestellt wird. Kommen schüchterne Teilnehmer überhaupt zu Wort?

Ich würde gerade auch die Schüchternen zu so einer Arbeit ermutigen. Kreativ wird jeder, wenn die Bedingungen für ihn stimmen. Das hat oft etwas mit Vertrauen und wirklichem Gesehen-Werden zu tun. Vielen von uns ist aber die natürliche Kreativität ausgetrieben worden. Aber manchmal haben es die Profis schwerer als die Anfänger, wirklich authentisch zu sein in einer Performance, denn Authentizität hat nichts mit Können zu tun, aber viel mit Mut und Vertrauen. Ich habe es schon oft erlebt, dass mich ein unbeholfener Gesang von jemand, der es zum ersten Mal wagt, zutiefst berührt. Es ist an dieser Stelle völlig egal, ob ich singen kann. Es ist aber entscheidend, ob ich einen Schritt wage, den ich noch nie zuvor gewagt habe. Auch das ist eine Stelle, wo „Alchimie“ stattfindet: Es ist magisch, einen Menschen pur zu erleben. Wir alle wissen, dass es bei einer Liebeserklärung nicht auf den gefeilten Text ankommt, sondern auf das Wagnis, sein Innerstes zu offenbaren. Genauso ist das im Forum X.

 

Also keine Plattform für Narzissten und Egomanen?

Die Egomanen dürfen auch kommen. Und manchmal macht auch eine gute Show Spaß. Unser Ziel ist aber nicht die gute Show, sondern die Authentizität. Der Moment, wo die Tiefe des Mysteriums durchscheint durch das, was wir tun.

 

Beim ForumXL werden bis zu 50 Teilnehmer erwartet und das ganze dauert genau einen Tag. – Ist eine nachhaltige Arbeit mit so vielen Menschen in so kurzer Zeit überhaupt möglich? Oder ist das Forum XL am Ende doch „nur“ ein Event und was zählt, ist der persönliche Kick und der Unterhaltungsfaktor?

Also ein Kick wird das schon. Das ist ja nichts Schlechtes. Und natürlich kann man in einem Tag seine Schatten nicht nachhaltig bearbeiten. Aber man kann eine bestimmte Herangehensweise kennenlernen. Die hat damit zu tun, dass Schattenarbeit nicht immer schwer und ernst sein muss, sondern durchaus auch Freude machen kann. Schatten sind Energien, und wenn wir anfangen, diese Energien wieder in unser bewusstes Leben zurückzuholen, gewinnen wir diese Energie zurück. Für Nachhaltigkeit muss jeder selbst sorgen, aber wir öffnen Türen für eine andere Sichtweise auf die Themen.

 

Du arbeitest kommenden Samstag im Team – unter anderem mit Hellen Schieß und dem Comedian Martin Bruders. Wird das diesjährige Forum XL ein Impro-Workshop mit Gesang, Tanz und Mediation?

Es wird sicher anders, als wenn ich das alleine mache. Als Team erzeugen wir ein anderes Feld. Wir haben natürlich ein Programm für den Tag. Es werden Elemente von Forum X enthalten sein, aber mit Tanz und Performance und verstärkt durch das, was die anderen einbringen. Aber ein wesentliches Element ist das, was sich durch die Ko-Kreation von uns als Team mit den Teilnehmern entwickelt, und das kann niemand voraussagen. Darauf freue ich mich besonders.

 

Welche Therapeuten, Künstler, Lehrer haben dich in deiner Arbeit am meisten inspiriert?

Da gibt es zwei Männer, die mein Leben und meine Arbeit tief inspiriert haben: Dieter Duhm und Thomas Hübl. Von Dieter Duhm habe ich politisches Denken gelernt, vor allem aber verdanke ich ihm meine Begeisterung für Gemeinschaft, aus der auch das Forum X entstanden ist. Er war ein wesentlicher Anstoß dafür, dass ich dann über 20 Jahre meines Lebens in Gemeinschaften gelebt und gearbeitet habe und dort eine unglaubliche Vielfalt und Tiefe an menschlichen Erfahrungen machen durfte, die das Fundament meiner Arbeit bilden. Außerdem ist Dieter Duhm der Mensch, von dem ich am meisten über Kunst gelernt habe – über eine Kunst, die das tägliche Leben mit einbezieht und nicht nur auf einer Leinwand oder einer Bühne stattfindet, sondern am Essenstisch, beim Sex, in der Beziehung zwischen Mann und Frau und beim Strandspaziergang stattfindet.

Mein zweiter großer Inspirator war und ist in den letzten 8 Jahren der spirituelle Lehrer Thomas Hübl. Durch ihn hat sich meine Arbeit enorm vertieft. die Kompetenz in subtiler Wahrnehmung, die er vermittelt, hat mein Verständnis von Kommunikation und Ko-Kreation erweitert und mich sensibilisiert für den Raum stiller Präsenz, in dem unser Leben stattfindet. Dieser stille Raum ist eine Quelle permanenter Inspiration für meine Arbeit geworden. Dafür bin ich sehr dankbar.

Eine dritte Quelle der Inspiration möchte ich noch erwähnen, auch wenn es nicht eine einzelne Person ist: Die vielen Frauen, mit denen ich in tiefen Kontakt treten durfte, haben mir gezeigt, wie das Weibliche fühlt und sich bewegt. Dass es eine Daseinsweise gibt, die kein Ziel erreichen will, sondern das Bezogensein und den Kontakt in den Mittelpunkt stellt, habe ich durch die Frauen gelernt. Das hat mich immer wieder zutiefst berührt und nach Hause geführt.

 

Was macht dir an dieser Arbeit am meisten Spaß und warum hältst du sie für wichtig?

Ich halte sie zum einen für wichtig, weil sie mir selbst so gut tut! Höchste Intensität im Ausdruck, in der Präsenz, und diese tiefe Freude, wenn sich die ganz eigene, ungezähmte Kreativität öffnet – wie anders, wie frei ist in diesen Momenten die Welt. Und genau so erlebe ich es, wenn ich andere an den Kern ihrer Kreativität begleiten kann und dafür Bedingungen schaffen kann, wo Menschen das wieder wagen. Das wird mir nie langweilig. Ich halte es auch für wichtig, das wir lernen, jenseits von Gut und Böse auf das Leben zu schauen und – wie eben in der Kunst – die Energien des Lebens pur erscheinen zu lassen. Darin liegt große Heilkraft.

 

Und mit welchen Schatten hast du selbst noch zu kämpfen – ist es denn überhaupt ein Kampf?

Ach, davon gibt es immer genug. Ein Thema, was mich bewegt, ist das Älterwerden. Ich bin ja jetzt über 50, und habe manchmal das Gefühl, dass ich von den Jüngeren in Sachen Lebenskraft, Attraktivität oder Brillanz überholt werde. Diese Momente sind nicht so einfach zu nehmen. Und ich muss zugeben, dass es öfters Situationen gibt, in denen ich den beleidigten Rückzug wähle,  anstatt 100%ig für mich oder eine Sache zu gehen. Es ist deutlich weniger als früher, aber es ist nicht weg. Und ein Kampf ist es immer nur dann, wenn ich es anders haben will, als es ist.

 

Das Interview führte Uschi Rapp / Sein.de

Über den Autor

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ist Trainer, Coach und Moderator und praktiziert seit über 20 Jahre das Leben und Arbeiten mit und in Gemeinschaften. Seit 15 Jahren Spezialisierung auf Prozesse kollektiver Intelligenz, transparente Kommunikation und Gemeinschaftsbildung – von Einzelcoaching bis hin zu Großgruppenveranstaltungen.

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