Der Einsatz von Antibiotika in der Hähnchenmast ist zur Regel und gängigen Praxis  geworden. Eine neue Studie im Auftrag des NRW-Verbraucherschutzministeriums kam im November letzten Jahres zu dem Ergebnis, dass in 83 Prozent der erfolgten Mastdurchgänge antimikrobielle Substanzen eingesetzt wurden. Insgesamt wurden 96,4 Prozent der Tiere aus den untersuchten NRW-Betrieben mit Antibiotika behandelt, lediglich bei weniger als 4 Prozent der Masthähnchen kam kein Wirkstoff zum Einsatz.

„Jahrelang ist von der Geflügelwirtschaft und der Bundesregierung aus Union und FDP immer wieder versichert worden, dass der Einsatz von Antibiotika in der Tiermast nur die Ausnahme sei. Jetzt haben wir es schwarz auf weiß: Antibiotika-Einsatz ist die Regel und gängige Praxis“, sagte NRW-Verbraucherschutzminister Johannes Remmel bei der Vorstellung des Abschlussberichtes in Düsseldorf. „Der Einsatz von Antibiotika hat ein Ausmaß erreicht, das alarmierend ist“, betonte der Minister. Die antibiotikafreie Hähnchenmast sei hingegen nur noch die Ausnahme.

Die heute präsentierte Antibiotika-Studie ist das erste Gutachten in Deutschland, das den Einsatz von Antibiotika in der Hähnchenmast systematisch und umfassend untersuchte.

Die wichtigsten Studienergebnisse sind:

  1. 96,4 Prozent der Tiere aus den untersuchten Bestände erhielten Antibiotika. Die antibiotikafreie Hähnchenmast wurde nur bei 17 Prozent der Mastdurchgänge festgestellt. In 83 Prozent der Zuchtdurchgänge erfolgte der Einsatz von Antibiotika.
  2. Bei den untersuchten Zuchtdurchgängen kamen über die Lebensdauer der Tiere (30 bis 35 Tage) eine Vielzahl von Wirkstoffen zum Einsatz, teilweise bis zu 8 verschiedene Antibiotika. Im Durchschnitt wurden 3 verschiedene Wirkstoffe pro Durchgang verabreicht.
  3. Die Dosierung mit Antibiotika betrug bei 53 Prozent der Behandlungen nur 1 bis 2 Tage und lag damit außerhalb der Zulassungsbedingungen für bestimmte Antibiotika. In Einzelfällen musste eine Behandlungsdauer von 26 Tagen festgestellt werden. Im Durchschnitt wurden den Tieren 7,3 Tage lang Antibiotika verabreicht.
  4. Bei kleineren Betrieben ( 45 Tage) konnte der Zusammenhang festgestellt werden, dass in solchen Betrieben der Einsatz von Antibiotika unterdurchschnittlich war. Dieser Trend verläuft allerdings nicht linear.

„Nicht nur der hohe Medikamenten-Einsatz ist überraschend, auch dass teilweise bis zu acht verschiedene Wirkstoffe über einen sehr kurzen Zeitraum verwendet werden, zeigt, dass Antibiotika systematisch eingesetzt werden“, so der Minister.  Remmel: „Der massive Einsatz und die Art und Weise, wie die Medikamente verabreicht wurden, lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Entweder es handelt sich um Wachstumsdoping – was seit 2006 europaweit verboten ist. Oder aber das System der Tiermast ist derart anfällig für Krankheiten, dass es ohne Antibiotika nicht mehr auskommt. Das ist dann Gesundheitsdoping. Wenn es aber nur noch mit Antibiotika geht, dann ist für mich klar: Diese Art von Massentierhaltung wird aus rechtlicher und ethischer Sicht keinen Bestand haben können!“

 

Ausbreitung multiresistenter Keime

Die Studienergebnisse sind nach Remmels Aussagen bundesweit übertragbar. Die Studie ist eine Vollerhebung der relevanten Masttierbetriebe (15,2 von 19 Mio. Tiere). NRW ist hier kein Sonderfall, sondern steht exemplarisch.“ Daher fordert der Minister  jetzt politische Konsequenzen aus der Studie: „Wir müssen die Antibiotika-Ströme in der Tierzucht endlich offen legen, um den Ländern die Möglichkeit zu geben, schnell und umfassend zu handeln. Und wir müssen einen Nationalen Aktionsplan haben, der dafür sorgt, dass der Antibiotika-Einsatz in der Tiermast zügig und substantiell reduziert wird. Ebenso sollte das Ziel einer grundsätzlich antibiotikafreien Tierhaltung in einem bestimmten Zeitraum angestrebt werden. Die Bundesregierung steht jetzt in der Pflicht.“

Wissenschaftler warnen bereits seit langem vor dem regelmäßigen Einsatz von Antibiotika, weil hierdurch die Bildung multiresistenter Keime (MRSA) forciert wird. Die Bundestierärztekammer und die EU etwa sehen eine weltweite Zunahme von resistenten Keimen. Beim Menschen können diese Keime dazu führen, dass bei Erkrankungen notwendige Antibiotika keine oder nur unzureichende Wirkungen entfalten. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts sterben jährlich mehr als 15.000 Menschen in Deutschland wegen multiresistenter Keime. „Wir erleben derzeit, dass multiresistente Keime zu einer gesundheitlich Bedrohung für Menschen werden. Der Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht forciert die Ausbreitung dieser Keime“, betonte Remmel.

 

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