Mal ehrlich: Wer kommt im Leben schon ohne Wegweiser aus? Zum Beispiel frage ich in den Krisen oft nach dem Sinn des Lebens. Oder gelegentlich muss ich mich entscheiden zwischen meinem eigenen Geschmack und der Mode meiner Umgebung. Dann frage ich mich: Wie weit muss ich mich eigentlich anpassen? Im Laufe meines Lebens fand ich durch solche alltäglichen Prozesse meine Lehrer.

 

Lehrer sein

Heute bin ich selber Lehrer an einem Gymnasium, und ich weiß, dass Lehrer, die anderen Menschen Wegweiser werden können, wichtiger sind denn je. Ich sage meinen Schülern sogar, dass sie ihre Lehrer nach deren Lehrer befragen sollen, denn, so meine Begründung der Empfehlung: „Ein Lehrer ohne Lehrer, ist ein leerer Lehrer.“

Der Russe Tolstoi wurde mein Lehrer in jungen Jahren, als in beiden Teilen Deutschlands noch die Wehrpflicht bestand, und ich mich vor die Frage gestellt sah, ob ich die eine Waffe in die Hände nehmen solle oder nicht. In späteren Jahren befreite er mein religiöses Bewusstsein von seinem kirchlich-dogmatischen Überbau. Albert Schweitzer hatte mir mit seiner Idee von der Ehrfurcht vor dem Leben den Beweis dafür erbracht, dass persönlicher Glaube sich zu einer spirituellen Weltanschauung erweitern kann, die alle Bereiche des Lebens einschließt. Welche Entdeckungen. Und diese Entdeckungen hatte ich meinen Lehrern zu verdanken. Sie waren mir zu Wegweisern geworden.

 

Geländer in der Nacht

Das Ergebnis einer länger andauernden geistlichen Übung war eine Sammlung von Aussprüchen Tolstois zu allen Fragen des persönlichen und öffentlichen Lebens. Daran orientierte ich mich, zuweilen wie an einem Geländer in der Nacht. Jahre später las ich fortlaufend Albert Schweitzers Worte und Werke. Dabei entdeckte ich, dass sie oft wie Kommentare zu Tolstois Gedanken klangen, oder gar Weiterentwicklung derselben.

Sollte Tolstoi tatsächliche ein spiritueller Lehrer Albert Schweitzers gewesen sein? Im Laufe der Zeit fand ich dafür eine Bestätigung nach der anderen.

 

Ehrfurcht vor dem Leben

Das Brevier „Wege zur Ehrfurcht vor dem Leben“ stellt Äußerungen dieser beiden verwandten Geister zu vielen Fragen des Lebens für 52 Wochen des Kalenderjahres nebeneinander, dazu auch jeweils ein Bibelwort. Die Themen sind vielfältig und bringen sowohl Vertrautes in neuen Zusammenhängen, als auch Neues in vertrautem Rahmen, so etwa wenn von Dankbarkeit, dem Geheimnis der Freiheit, der Kraft der Freude, dem Glauben, der Bestimmung, dem Lernen von den Kindern, dem Glücklich Sein, der Erziehung und dem Licht Sein des Menschen die Rede ist. Dazu gibt es einen Spruch Albert Schweitzers für jeden Monat und einen kleinen kaum bekannten Aufsatz Albert Schweitzers über Tolstoi als Erzieher.

Meinen Schülern ist es zu danken, dass das, was im stillen Kämmerlein zunächst mein Herz erreicht hatte, nun allen gehört. Sie haben diese großartigen Gedanken herausgegeben, illustriert und mit Vignetten und einem Nachwort versehen. Dabei teilen sie mit mir die Meinung,

– dass es viele Wege zur Ehrfurcht vor dem Leben gibt und,
– dass jeder seinen Weg zu einem Leben nach diesen Vorstellungen finden kann.

Ein Wegweiser hat seinen Dienst getan, wenn Du auf dem Weg bist, aber keiner weiß, wann Du wieder eines Wegweisers bedürftig sein wirst.

 

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