Was ist ein Trauma? Und was bedeutet die Diagnose Retraumatisierung? Christine Lemmrich berichtet aus eigener Erfahrung, was es damit auf sich hat und welche Wege es aus der Hölle von Angst und Schmerz gibt.

Anfang 2007 erlitt ich während einer misslungenen Familienaufstellung durch einen „Technikfehler“ (stark vereinfacht ausgedrückt) eine schwere Retraumatisierung. (Schon während der genannten Aufstellung merkte ich – da selbst Aufstellerin –, dass der Aufsteller falsch arbeitete und ich das, was er tat, nicht mehr nachvollziehen konnte. Ich merkte das ihm gegenüber auch sofort an, wurde aber beruhigt und abgewiegelt und beschloss zu vertrauen – ein gravierender Fehler. Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden, ich arbeite selbst mit Aufstellungen und halte sehr viel davon, weiß aber auch, dass bei unprofessioneller Handhabung gleichwohl viel Schaden angerichtet werden kann, so wie bei mir und manch’ anderem, den ich in meiner Praxis behandelt habe.) Bis zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich erfolgreich in meiner Coachingpraxis und als Dozentin, war begeisterte Mutter von zwei Kindern. Ich war eine starke Frau, die ihren Weg ging, intensiv an sich arbeitete und sich ihrer eigenen Traumatisierungen, die immer mal wieder durch Symptome aufflackerten, bewusst war. Dies alles sollte sich quasi über Nacht durch diese misslungene Familienaufstellung ändern. Zwei Tage nach der Aufstellung erkannte ich mich nicht wieder – ich bekam massive Angstzustände, kombiniert mit einem stark dissoziierten und depersonalisierten Erleben, konnte nicht mehr schlafen und hatte im gesamten Körper Schmerzen. Mein gesamtes Nervensystem war übersensibilisiert. Keiner wusste, was mit mir passiert war, ich eingeschlossen. Mein Verstand funktionierte tadellos, aber ich war nicht mehr dieselbe. Es vergingen Monate mit unzähligen Therapeuten und Heilern, inklusive Klinikaufenthalten, bis die Diagnose „Retraumatisierung“ fiel. Ein Begriff, der damals noch ziemlich unbekannt war.

 

Was ist ein Trauma?

Um zu  verstehen, was damit gemeint ist, hier ein kurzer Exkurs zum Thema „Trauma“ und „Retraumatisierung“.
Laut Peter A. Levine, einem der bekanntesten Traumaexperten und dem Begründer von „Somatic Experiencing“, lässt sich das Phänomen Trauma nicht wirklich konkret definieren. Er geht davon aus, dass ein Trauma durch Ereignisse verursacht wird, die für den betreffenden Menschen großen Stress erzeugen. Dieses Ereignis bewegt sich i.d.R.  außerhalb normaler menschlicher Erfahrungen.

Solche stresserzeugenden Ereignisse können sein: Gewalterfahrungen, Sexueller Missbrauch, Kriegserlebnisse, Schwere Unfälle und Unglücke wie beispielsweise Erdbeben, Tsunamis, Flutkatastrophen, außerdem der Tod eines geliebten Menschen.

Wichtig ist dabei: Es müssen nicht immer, aus der Perspektive eines neutralen Beobachters betrachtet, die ganz schwerwiegenden Ereignisse sein, die traumatisieren. Schon ein Sturz vom Fahrrad kann unter entsprechenden Umständen traumatisierend wirken. So sagt Levine, dass selbst eine Aneinanderreihung scheinbar harmloser kleiner Missgeschicke bei einem Menschen eine langfristig schädigende Wirkung haben kann. Nach Levines Erfahrung entsteht eine Traumatisierung dadurch, dass unsere Fähigkeit, mit einer als bedrohlich wahrgenommenen Situation umzugehen, nicht funktioniert. Zusammenfassend kann man sagen, dass es bei einem Trauma um den Verlust der Verbindung zu uns selbst, unserem Körper, unserer Familie, anderen Menschen und zu der uns umgebenden Welt geht. Dabei kann dieser Verlust auch langsam, völlig unbemerkt vor sich gehen. Das bedeutet, ein Trauma kann Auswirkungen haben, die jahrelang nicht oder nur in abgemilderter Form in Erscheinung treten, wie es bei mir vor der Retraumatisierung auch der Fall war.

Normalerweise organisiert sich die Psyche nach einem Trauma so, dass der Betroffene überlebensfähig ist. Das erfordert das Abspalten der Erinnerungen und aller damit verbundenen Gefühle ins Unbewusste. So kann ein traumatisiertes Kind, beispielsweise nach einem Missbrauch, mehr oder weniger funktionieren und hat „nur“ Symptome wie Bettnässen, unbegründete Ängste, kann nicht mehr einschlafen, leidet unter psychosomatischen Erkrankungen. (Das sind nur Beispiele, nicht jede Angst oder psychosomatische Erkrankung hat mit Traumata zu tun.) Als Erwachsener hat dieser Mensch dann häufig keine Erinnerungen mehr an das Erlebte.

Folgende Symptome können im Erwachsenenalter auf einen früheren, möglicherweise nicht mehr erinnerten sexuellen Missbrauch hinweisen (die Liste ist bei Weitem nicht vollständig): Essstörungen, Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen, Promiskuitives Verhalten, Beziehungsstörungen, Psychosomatische Erkrankungen, Selbstverletzung, Suizidgedanken.

 

Retraumatisierung: erneut durch die Hölle

Bei einer Retraumatisierung werden nun die lange etablierten Abwehrmechanismen außer Kraft gesetzt, sodass es zu einer Überflutung mit altem Traumamaterial kommt. Der betroffene Mensch hat bei einer Retraumatisierung Gefühle, Bilder, Körperempfindungen und Wahrnehmungen, als ob er in diesem Moment direkt die alte Traumatisierung erneut durchleben würde. Er ist diesen Symptomen hilflos ausgeliefert und erkennt sich selbst, sein Erleben, seine Gefühle und seine Reaktionen nicht wieder. Bei einer Retraumatisierung geht ein Mensch wirklich „durch die Hölle“.

Es ist schwierig, nach einer Retraumatisierung wieder gesund zu werden. Menschen mit einer Retraumatisierung bleiben oft zeitlebens eingeschränkt, sind nicht mehr erwerbsfähig und so fort. Man sagt, dass das Gehirn nach einer Retraumatisierung mindestens zwei bis drei Jahre braucht, bis eine Rückintegration des Materials erfolgt. Die Heilung einer Retraumatisierung unterliegt völlig anderen Abläufen als ein normaler Heilungsprozess. So braucht sie viel mehr Zeit.

Obengenannte Zeitspanne kann ich aus meiner eigenen Erfahrung nur bestätigen, es brauchte lange Zeit und intensivste Therapien, um wieder gesund zu werden. Ich lernte alle Therapien kennen, die es auf dem Markt gab. So wurde ich selbst zur „Traumaexpertin“, die ihren ganz eigenen Weg der Heilung finden musste.

 

Das Ich mühsam wieder aufbauen

In jedem Fall geht es zunächst darum, den traumatisierten Menschen so zu stabilisieren und ihm wieder so viele Ressourcen zur Verfügung zu stellen, dass er in der Lage ist, sich mit dem an die Oberfläche drängenden Material auseinanderzusetzen und die aufkommenden Gefühle zu verkraften. Tatsächlich müssen für die meisten Menschen selbstverständliche und alltägliche Ich-Funktionen oft Stück für Stück wieder mühsam aufgebaut werden. Beispiele dafür sind: Allein sein zu können, ohne Angstzustände zu leben, wieder einigermaßen normal schlafen zu können, nicht das Gefühl zu haben, von Gefühlen wie Angst oder Trauer überflutet zu werden etc. So lautet die Grundüberzeugung traumatisierter Menschen: „Ich halte meine Gefühle nicht aus. Ich überlebe diese Gefühle nicht.“

Bei einer Retraumatisierung erlebt der Mensch ein oft völlig verändertes Denken und Fühlen. Er wird zum Beispiel so von Angstgefühlen überflutet, dass es kaum noch einen angstfreien Augenblick gibt. Offensichtlich werden durch solche länger anhaltenden Erfahrungen die neuronalen Verknüpfungen im Gehirn so verändert, dass – obwohl vielleicht inzwischen eine therapeutische Aufarbeitung des Geschehens begonnen wurde – ein angstfreies Denken kaum mehr möglich ist. Traumatisierte Menschen meiden angstauslösende Situationen, sogenannte „Triggerpunkte“ (Angstauslöser). Das kann eine bestimmte Farbe sein, ein gewisser Geruch oder sonst etwas und ist individuell völlig unterschiedlich. Diese Menschen geraten dann leicht in einen akuten Angstzustand, ohne zu wissen warum. Denn oft ist es gar nicht möglich, diese Triggerpunkte zu erkennen.

Traumatherapieverfahren – was hilft?

Den einen, ganz klaren Weg aus der Traumatisierung gibt es nicht. Häufig ist eine Kombination verschiedenster Verfahren nötig, um eine dauerhafte Verbesserung und Heilung zu bewirken. Das kann ein längerer Weg sein, der auch immer mal wieder von Rückschlägen begleitet ist. Doch er lohnt sich. Ich bewundere jeden Menschen, der ihn geht. Manchmal ist erst ein Klinikaufenthalt in einer guten Klinik nötig, bevor eine ambulante Traumatherapie begonnen werden kann, denn für diese muss zumindest eine gewisse Stabilität beim Klienten vorhanden sein. So müssen auftauchende Gefühle auch zu Hause ohne Schutzraum gehalten werden können.

Herkömmliche, von den Krankenkassen finanzierte Therapieverfahren können bei Trauma nur bedingt greifen.
Die bekanntesten und effektivsten Traumatherapieformen sind: „Somatic Experiencing“ nach Dr. Peter Levine,  EMDR/Eye Movement Desensitization Reprocessing und nicht zu vergessen die vom Urgestein der Traumatherapie, Luise Reddemann begründete Psychodynamisch-Imaginative Traumatherapie, kurz PITT genannt. Leider müssen diese Therapieformen oft aus eigener Tasche bezahlt werden.

Mir selbst haben ganz unterschiedliche Verfahren auf meinem Heilungsweg geholfen, allen voran „Thetahealing“ und „Somatic Experiencing“.  So konnte ich mit „Thetahealing“ eingefahrene neuronale Verbindungen im Gehirn so verändern, dass ich nicht mehr in die quasi gleichen „Denkspuren“ einer fast zwang­haften „Angst vor der Angst“ lief. Ein weiterer Meilenstein war und ist „Somatic Experiencing“. Es war genau das Teilstück, das mir in all den Jahren meiner Heilung gefehlt hat und was den Abschluss und Durchbruch bringen sollte.

 

Eingefrorene Überlebensenergie abbauen

Was ist nun „Somatic Experiencing“ (kurz „SE“)? Dazu ein Zitat von Dr. Peter Levine, dem Begründer von „SE“:
„Ein Trauma ist im Nervensystem gebunden. Durch einschneidende Ereignisse hat das Nervensystem seine volle Flexibilität verloren. Wir müssen ihm deshalb helfen, wieder zu seiner ganzen Spannbreite und Kraft zurückzufinden.“

„Somatic Experiencing“ arbeitet primär über Sprache direkt am Nervensystem. Biologisch bedingt gibt es drei Möglichkeiten, genau wie in der Tierwelt, wie wir auf ein überwältigendes Ereignis reagieren können: Flucht-, Angriff- und Totstellreflex. Das heißt, unser Organismus stellt uns während einer Traumatisierung in hohem Maße Überlebensenergie zur Verfügung. Gerade durch den rationalen Teil unseres Gehirns ist es uns häufig nicht möglich, diese Energie wieder abzubauen, zum Beispiel durch Zittern. Beispiel: Eine Antilope wird von einem Löwen verfolgt, sie flieht, aus welchem Grund auch immer lässt der Löwe von ihr ab, daraufhin zittert die Antilope sich aus und die mobilisierte Energie, die für den Überlebenskampf dringend nötig war, verlässt ihren Körper. Das ist uns Menschen durch den rationalen Teil unseres Gehirns häufig nicht möglich, oft lassen die Umstände eine solche Abreaktion auch nicht zu. Beispiel Autounfall: Im Krankenwagen noch werden Beruhigungsmittel verabreicht, diese wiederum verhindern eine Abreaktion des Körpers wie sich auszittern, die überschüssige Energie bleibt im Nervensystem gebunden. Der Organismus entwickelt Symptome wie bereits beschrieben. Damit arbeitet „Somatic Experiencing“. Durch „SE“ wird der während der Traumatisierung nicht vollständig durchlaufene Zyklus von Orientierung, Flucht, Kampf und Immobilitätsreaktion zum Abschluss gebracht, die gebundene Energie verlässt das Nervensystem. Es kommt in kleinen Schritten zu einer „Neuverhandlung“ im Nervensystem. Der Mensch gewinnt wieder seine volle Lebendigkeit und Lebensenergie zurück. Das in meiner Praxis zu sehen, gerade auch bei Menschen, die einen langen Leidensweg hinter sich haben, ist mir eine große Freude und treibt mich an.


Finanzierung Traumatherapie

Es gibt Psychotherapeuten, die EMDR zum Beispiel im Rahmen von Verhaltens­therapie einsetzen. Das sind jedoch nicht allzu viele, es gibt zumindest in Berlin kaum Traumatherapieplätze bei Kassentherapeuten, und so müssen die Betroffenen auf Traumatherapeuten ausweichen, die sie aus eigener Tasche zahlen müssen, doch das lohnt! Ich kenne hier etliche gute Kollegen, die als Heilpraktiker (Psychotherapie) in den o.g. Verfahren ausgebildet sind und hervorragende Arbeit leisten. Außerdem gibt es immer wieder die Möglichkeit über Stiftungen die eigene Traumatherapie zu finanzieren, ganz aktuell den „Fonds Sexueller Missbrauch“, www.fonds-missbrauch.de. Die Antragstellung zur Übernahme von Trauma­therapiekosten erfolgt bei letzteren über eine Beratungsstelle des Weißen Rings, leider ist sehr viel Papierkram nötig. Hier wird unter Umständen auch die Traumatherapie bei einem Heilpraktiker (Psychotherapie) finanziert, wenn dieser eine ­entsprechende Ausbildung vorweisen kann.

Es gilt, was die Finanzierung angeht, nicht den Mut zu verlieren. Manchmal lohnt es sich auch eine private Zusatzversicherung für Heilpraktiker (Psychotherapie) abzuschließen, auch wenn diese mindestens acht Monate laufen muss, um davon Stunden zahlen zu können. Die monatlichen Beiträge belaufen sich dann zwischen 20 und 30 Euro. Es kann nicht sein, dass Trauma­therapie eine Frage des Geldes ist, hier muss sich noch eine Menge tun!


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Über den Autor

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arbeitet als Traumatherapeutin in eigener Praxis in Berlin- Schöneberg. Sie ist Heilpraktikerin (Psychotherapie), Dipl. Sozialpädagogin und Autorin. 2012 erschien ihr Buch „Theta-Balance“ bei MensSana. Darüber hinaus bietet sie im deutschsprachigen Raum auch Sitzungen am Telefon und über Skype an und leitet Traumatherapie-Seminare. Im Einzelfall führt sie auch Hausbesuche durch. Sie ist in diversen Verfahren ausgebildet, u.a. in „Somatic Experiencing“, einer speziellen Traumatherapieform nach Dr. Peter Levine.

Kontakt
Tel.: 030-54461614 oder 0177-8718305