Die Stille lebt im Staunen, in der Größe und Grenzenlosigkeit, die alles in uns zum Staunen und zum Schweigen bringt.

Stille ist selten

Stille ist selten, unbeständig, launisch – so wie der Mensch, der nach ihr so leidenschaftlich sucht. Oft suchen wir die Stille und können sie nicht finden, sie entweicht uns, wie das Wasser zwischen den Fingern. Manchmal besucht sie uns ganz von sich alleine, wie ein nicht eingeladener Gast – und wir können ihre Anwesenheit nicht ertragen. Wir verjagen sie mit allen uns verfügbaren Mitteln. Denn die Stille kommt sehr oft in der Begleitung der scheinbaren Einsamkeit, sie wirft uns auf uns selbst zurück, sodass wir gezwungen sind, uns selbst zu begegnen und uns selbst zu ertragen.

Irgendetwas tief im Menschen verlangt nach der Stille. Aber sie ist und bleibt wie ein Naturphänomen, das man bewundert und gleichzeitig fürchtet. Sie ist schwer zu finden und manchmal noch schwerer zu ertragen. Der Mensch, der nach der Stille sucht, muss in der Regel einen langen und anstrengenden Weg gehen – schließlich ist der Weg in seine eigene Mitte oft der längste aller Lebenswege.

Der Ort, der die Stille zu seiner Wohnstatt gewählt hat, befindet sich jenseits des Lärms, der unsere Köpfe, Herzen, Seelen und die Welt, in der wir leben, füllt. Genau so wenig verträgt sich die Stille mit der Schnelligkeit des Lebens, mit der Flut der Informationen und der Last der Ambitionen, die der moderne Mensch (oder vielleicht der Mensch in allen Zeitaltern) täglich trägt.

Stille braucht Platz

Stille ist eine Minimalistin – sie braucht Platz, viel Platz. Drinnen und Draußen. Wir bewundern die Stille und die Menschen, die mit ihr Freundschaft geschlossen haben – die Mönche, die Erleuchteten, die großen Meister der Spiritualität. Immer wieder lesen wir über solche Menschen, die alle Komfortzonen der Welt verlassen haben, um nach der Stille zu suchen, um sie zu ihrer treuen Gefährtin und Begleiterin zu machen. Aber auch auf sie wartet die Stille nicht mit den offenen Armen und einem gedeckten Tisch. Oft Jahre oder Jahrzehnte verbrachten Menschen in der Meditation und im Gebet um diesen so ersehnten Zustand der inneren Stille zu erreichen und sie nicht zu verlieren, sie nicht zu verängstigen, sie so lange wie möglich zu behalten. Denn wer die Stille des Herzens erfahren hat, wird nach ihr süchtig. Die Stille ist wie ein seltener Vogel, der vom kleinsten Geräusch, das die Harmonie des Gartens stört, sofort wegfliegt.

Aber die meisten von uns können diesen Weg nicht gehen- hat dann der moderne Mensch überhaupt die Chance, Stille zu finden, an den Ort der Stille zu gelangen? Die Antwort ist: Ja. Wenn er das Geheimnis der Stille erkundet.

Das Geheimnis der Stille

Das Geheimnis der Stille und ihres Ortes ist die Größe. Die Stille lebt im Staunen, in der Größe, die alles in uns zum Staunen und zum Schweigen bringt.

Der ultimative Sitz der Stille liegt im Kern des menschlichen Seins – in seinem innersten Zentrum und gleichzeitig im grenzenlosesten Raum des Universums. Stille ist insofern ein Synonym für wahre Größe, Transzendenz und Grenzenlosigkeit. Vielleicht deswegen wird die Stille immer vom Staunen und von der Sprachlosigkeit begleitet. Wir erleben diese Stille, dieses Gefühl, wenn wir Nachts den grenzenlosen Sternenhimmel anschauen, wenn wir am Ufer des Ozeans stehen oder die Majestät der Berge bewundern – alles, was uns den Atem raubt, alles was uns vom „klein-klein“ befreit und den Weg in das Grenzenlose zeigt, führt uns schließlich in die Stille, in der die Frucht des Friedens gedeiht.

Vielleicht liegt es daran, dass religiöse Offenbarungen oft in der Wüste stattgefunden haben – denn die Wüste ist der Gegensatz der Enge. Die Wüste ist wahrlich frei, sie gehört niemandem, sie ist grenzenlos, sie erweckt Ehrfurcht und Staunen – in der Wüste wird man still, und wenn der Mensch still wird, kann er seine eigene innere Stimme genauso wahrnehmen und hören wie die Stimme Gottes. Der Mensch erlebt die Stille jedes Mal wenn er sich für das Große, Transzendente und Ewige öffnet.

Stille und Gebet

Je größer die Größe ist, je grenzenloser das Grenzenlose ist, je freier die Freiheit ist, desto größer ist die Stille, die wir erleben, desto tiefer ist der Frieden, den sie mit sich bringt und uns schenkt. Vielleicht eben deswegen gehört das Gebet zu den besten Orten der Stille.

Nicht ein Gebet, in dem wir um etwas bitten, sondern ein kontemplatives Gebet, in dem wir das Göttliche schauen und von seiner Majestät, seiner Größe und seiner Schönheit überwältigt und erstaunt werden. Wenn wir sprachlos davon werden, was unser Geist erblicken kann, sodass alles in uns mit Stille und Frieden erfüllt wird. In der ultimativen Größe Gottes begegnen wir uns selbst und unserer eigenen Größe und Ewigkeit.

Unruhe entsteht immer in der Enge: Wenn wir klein werden oder uns klein machen lassen und uns mit kleinen Dingen beschäftigen, statt unseren Blick auf das Grenzenlose und Endlose in uns zu richten. In Gott und in seiner Schöpfung finden wir die Stille. Um sie zu unserer treuen Begleiterin zu machen, brauchen wir uns bloß in der Kunst des Stauens zu üben, uns überwältigen und begeistern zu lassen, unseren Blick statt auf die Peripherie des Lebens auf sein Zentrum zu richten und das Leben aus der Perspektive der Ewigkeit zu betrachten.

 

 

Bilder: Strand – Angelo DeSantis cc-by;  Wüste – Luca Galuzzi – www.galuzzi.it cc-by-sa; Universum – NASA

 

4 Responses

  1. Monika
    Sehr geschätzter Baruch,

    Lieber Baruch, ich möchte vieles von dir lernen, deshalb würde ich mich so darüber freuen, mit dir in Kontakt zu kommen. Kannst du mir bitte eine E-Mail senden, ich bin mir nicht sicher, dass ich zu dieser Seite wieder komme bzw. finde. Danke. Lg Monika

    Antworten
  2. Baruch Rabinowitz

    @Liebe Katja, danke für den Feedback! Ja, sehr gerne lese ich Deine Geschichte – meine Email ist derweg@me.com

    @Lieber Norbert, ich bekenne mich zum Islam, deswegen bringt meine Erklärung uns/Dich nicht weiter. Beste Grüße!

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  3. Norbert

    Schön, sehr schön!
    Bitte erkläre mir was du mit „Gott“ und mit „Schöpfung“ meinst. Was fühlst du, wenn du die Quelle allen Seins auf ein Wort (Gott, oder Schöpfung) reduzierst und begrenzt? Hast du alles zu Ende gedacht?
    Alt hergebrachte Erklärungen würde ich wohl nicht gelten lassen!
    Grüße
    Norbert

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  4. Katja

    Lieber Baruch,

    vielen Dank für diesen wunderschönen Artikel 🙂

    Ich habe eine fantasievolle Kurzgeschichte geschrieben.
    „Das Geheimnis der Stille“
    Falls du sie lesen möchtest, schicke ich sie dir gerne per E-Mail!

    Liebe Grüße,
    Katja 🙂

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