Sie sieht ein wenig aus wie ein Vogel Strauss – bis auf die Knochen abgemagert, zarter Flaum auf dem Kopf, in der Kehle eine Kanüle, durch die sie mühsam sprechen kann, der Tumor am Hals ist hühnereigroß und er wächst, wir erwarten, dass er sich zu einem Blutgefäss durchfressen und sie verbluten wird, das weiß sie. Aus der Haut, den Muskeln ihrer Beine, hat sie eine neue Zunge bekommen, sie kann nichts mehr essen, seit Monaten schon. Ein künstlicher Darmausgang, daneben führt eine Sonde direkt in den Magen, so kann sie sich Nahrung geben, gerade soviel, dass der Körper nicht verhungert. Kein Geschmack auf der Zunge. Kein Wort durch den Mund. Schmerzen Tag und Nacht. Zäher Schleim in der Kehle, den sie beim Sprechen in ein Taschentuch spuckt. Als sie zu uns kommt, ist sie dabei zu sterben, aber plötzlich blüht sie wieder auf, die Kraft kehrt zurück, sie steht aus dem Bett auf, ein Wunder zur Weihnachtszeit, sogar nach Hause geht sie noch einmal, Kaffeetrinken mit Freunden.

Weihnachten vergeht, das neue Jahr kommt, jeder Tag eine Kostbarkeit, sie ist von ihrer Familie umgeben, ihrem Mann, ihrem Sohn, ihrer Schwester, auch wir gehen gerne zu ihr, der Schnee kommt, es schneit wie seit Jahren nicht mehr, es ist klirrend kalt, die Welt versinkt in weißem Schweigen.

Sie ist weise geworden, sitzt im Bett und strickt bunte Socken mit hochkomplizierten Mustern, die Zeit, die ihr noch bleibt, wird in Socken gemessen, noch ein Paar und noch eines. Rot, blau, braun, grün. Das Wunder ist begrenzt, sagt der Doktor. Sie weiß es, diese Tage sind die Zugabe, mit der niemand gerechnet hat.

Jeden Tag räumt sie ihr Zimmer auf. Was für eine Freude, die abendlichen Fernsehsendungen, die verschneiten Bäume vorm Fenster, die Christrosen auf dem Tisch, die täglichen Stunden mit ihrem Mann, selbst die regelmäßigen Schmerzspritzen, das ganz normale Leben. Immer brennen Kerzen, jeder geht gerne zu ihr hinein, sie nimmt Anteil an unserem Leben, lässt sich von uns erzählen. Nimmt Anteil am Schicksal anderer Patienten, einmal schreit im Nebenzimmer eine Frau, wenn sie Angst hat, sagt sie zu mir, setze ich mich zu ihr und stricke oder halte ihre Hand, ich habe schon solche Angst gehabt, dass ich mir in die Hosen gemacht habe, das einzige, was dann hilft ist, dass jemand da ist und Deine Hand hält.

Immer wieder staunt sie – das Leben ist ganz anders, als ich dachte! Wenn ich das nur eher gewusst hätte! Niemals hätte ich gedacht, dass ich so, jetzt, in diesem Zustand, so glücklich sein kann. Das Glück ist ja in mir. Ich brauche nichts anderes. Hätte ich das nur früher gewusst!

Dann der Tag, an dem ich sie morgens wecke und der Beutel des Darmausganges ist geplatzt, sie hatte es im Schlaf nicht bemerkt, im Handumdrehen ist sie von oben bis unten mit flüssigem Kot beschmiert und es läuft weiter, spritzt auf meine Hose, ihre nackten Füße, den Boden, der Geruch ist unerträglich, mein Magen hebt und senkt sich bei jedem Atemzug, ich möchte weg, einmal flüchte ich auf den Flur, komme wieder hinein, und plötzlich strömt mein Herz über vor Liebe, vor Mitgefühl, vor Dankbarkeit, und ich sehe, dass ich genau hier sein will und nirgendwoanders auf der Welt, darin liegt die Schönheit dieses Augenblicks, so unerwartet ausgerechnet jetzt diese Liebe, die uns einhüllt, während wir schweigend am Waschbecken stehen und sie sauberwaschen.
Sie schleppt sich zurück ins Bett und von diesem Moment an will sie nichts mehr. Sie weiß es besser als wir alle. Sie strickt nicht mehr, nimmt nichts mehr zu sich, keine Kerzen mehr, keine Fernsehsendungen, keine Fragen. Aber ich bin glücklich, sagt sie, es ist alles in Ordnung, ich will nur meine Ruhe.

Und der Morgen, an dem die Schmerzen stärker sind als zuvor, es ist der Morgen ihres Geburtstages, etwa 4 Uhr. Sie ist unruhig, wir können sie nicht mehr verstehen, aus der Kanüle am Hals nur undeutliche Geräusche wie aus einem ungenau eingestellten Radiosender. Ich gebe ihr eine Schmerzspritze, halte ihre Hand, öffne das Fenster, wir benachrichtigen ihren Mann. Sie will sich setzen, mit den Füssen noch einmal den Boden spüren, ich nehme sie in den Arm, so sitzen wir eine Weile. Sie macht Zeichen mit den Händen, haben Sie Angst, frage ich sie, sie nickt, drückt meine Hand. Ich erinnere mich an das, was sie mir gesagt hat, halte ihre Hand und bin da. So sitzen wir, bis sie zu schwach ist. Ihr Atem wird ruhiger, seltener. Beim Ausatmen schließt sie die Augen, beim Einatmen reißt sie sie auf wie eine Ertrinkende, als würde sie untergehen, in sich selbst ertrinken. Es ist unendlich still um uns und ohne Zeit.

Schließlich schüttelt sie sich ein wenig, ruckelt hin und her, als würde sie sich aus dem zu eng gewordenen Körper herauszwängen. Für einen Moment schaut sie mich mit Augen an, die riesig groß und dunkel sind, unermesslich tief wie Ozeane, alles Wissen der Welt ist in ihnen, Ewigkeit. Dann schauen sie auf die andere Seite, schließen sich, und mit einem sehr sanften Atemzug verlässt sie den Körper. Stille. Frieden.

 

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2 Responses

  1. Horst GuteKunst

    Diese Geschichten ermutigen.
    In jeder Form zu sterben um immer neu zu werden.
    Im Angesicht aller Wandlungen jetzt sich selbst zu lieben um zu leben.
    Es gibt den Tod nicht, in Wirklichkeit ist er das Nadel_Öhr zur Quelle allen Lebens.
    Ich hatte die einmalige Gnade es 1992 bei mir selbst zu erleben, um dann 22 Jahre lang zu reifen um das zu verstehen.

    Horst

    Antworten

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