Immer wieder berichten Menschen mir, wie schwierig es nach dem Aufwachen für sie war, in ihren alten sozialen Strukturen zurecht zu kommen. Nicht selten ändern Erwachens-Erlebnisse die subjektive Realität und den Lebensstil sehr tiefgreifend. Vieles fühlt sich nicht mehr stimmig an, manche Spiele möchte man nicht mehr spielen, manche Gespräche nicht führen, manche Dinge nicht tun. Alte Freundschaften, vielleicht sogar Partnerschaften, finden keinen gemeinsamen Berührungspunkt mehr, weil sich die subjektiven Wahrheiten so sehr unterscheiden. Wie geht man damit um, liebe Menschen in einer Realität ‚verfangen‘ zu sehen, die aus der eigenen Sicht eine Illusion ist? Oder in Verhaltensweisen, die sich für uns unauthentisch anfühlen? Im Überschwang der eigenen Befreiungs-Erlebnisse kann die Versuchung bestehen, andere Menschen ‚aufzuwecken‘. In meiner Wahrheit lohnt es sich, diesen Impuls zu hinterfragen: Andere sein lassen.

 

Die Integrität der Seele

Auch wenn es vielleicht schmerzlich ist, hat jeder Mensch sein eigenes Tempo und findet seine eigene Wahrheit in seiner eigenen Zeit. Das kann bedeuten, dass manche Beziehungen uns für einige Zeit (oder auch für immer) nicht mehr dienen. „Sein lassen“ kann dann auch „gehen lassen“ bedeuten – oder selbst gehen. Wir können nicht wissen, ob unsere Wahrheit einer anderen Seele z einem Zeitpunkt dient, welche Erfahrungen sie noch braucht und in welcher Zeit sie ihre ‚Lektionen‘ lernen möchte.
Ich glaube nicht, dass es unsere Aufgabe ist, irgendjemandem unsereWahrheit zu erzählen. In meinem Wissen verstößt es sogar gegen „kosmische Gesetze“. Wenn jemand einen Standpunkt von uns möchte, dann fragt er danach. Ansonsten ist es nicht nur eine Verletzung der Integrität, sondern auch sinnlos, jemanden von etwas überzeugen oder über etwas belehren zu wollen – es wird schlicht kein Gehör finden.

Das kann auf dem Weg in verschiedener Weise schwierig werden.

Predigen & Bekehren

Am Anfang haben viele einen Bekehrer-Trip, oft weil sie selbst so in Leidenschaft brennen, für das, was sich für sie zeigt, was sie erleben. Oft ist der Impuls ein wohlwollender, der auch anderen das Glück zugänglich machen will, dass man selbst erfährt. In anderen Fällen ist es mehr ein Verstandes-Spiel, das ein bestimmtes Konzept verbreiten möchte. Für mich heißt das, dass noch keine Erkenntnis des Herzens stattgefunden hat. Wenn ich etwas im Herzen als wahr erkenne, dann gibt es keine Notwendigkeit, jemanden von irgendwas zu überzeugen.

Heilung

Dann kann es sein, dass wir im Zuge unserer Entwicklung unser Leben an vielen Stellen neu ausrichten und Menschen, die uns nah sind davon irritiert werden und beginnen, ihr Zeug auf uns zu projizieren. Das kann schmerzlich sein, in meiner Erfahrung lag darin aber immer auch Heilung. Entweder weil der Konflikt mich einlud, eine tiefere Wahrheit über mich selbst zu erkennen, vielleicht alte Wunden anzuschauen, oder aber es brachte eine „Rekalibrierung“ in Sachen Diplomatie und Mitgefühl. In jedem Fall dienten mir diese Begegnung als Spiegel, der mich klarer sehen ließ,

Die Wahrheit des Moments

Es kann eine Versuchung sein, unsere Wahrheit immer und überall zu verkünden – auch ohne das Bedürfnis zu bekehren oder überzeugen, einfach weil man glaubt, dies zur Selbstbefreiung zu benötigen. In meiner Realität gibt es aber neben unserer persönlichen Wahrheit auch eine „Wahrheit des Moments“: Wenn zwei Menschen zusammenkommen und einander fühlen, entsteht ein „Drittes“, ein gemeinsamer Raum, der seine eigene Wahrheit hat. Es benötigt Feingefühl, zu spüren, in welcher Wahrheit man den anderen treffen kann, was wirklich gesagt werden möchte – und wie es gesagt werden möchte.

Empathie: Andere sein lassen

Eine weitere Schwierigkeit trat dann später auf dem Weg auf, als ich lernte, Energie wahrzunehmen. Es ist als würde man zwei Gespräche führen: eines mit der Seele und eines mit der Person. Man erlebt ein Gefühl, wo jemand in seiner Wahrheit ist, und wo er sich und andere belügt oder blinde Flecken hat.

Auch hier kann die Versuchung bestehen, den anderen darauf aufmerksam zu machen. Aber dazu haben wir oft vielleicht gar kein Recht. Wir helfen dem anderen auch nicht unbedingt, er wird sich oftmals vielmehr angegriffen fühlen und uns wegstoßen oder „zurückschlagen“. Der andere hat das Recht, in Unwahrheit zu sein.

Die Kraft der Frage

Bei anderen sieht man Dinge oft sehr einfach – etwas, dass ich mir auch für mich selbst zu Herzen nehme und darum den Standpunkt anderer Menschen gerne anhöre. Deshalb kann es auch durchaus ein wahrer Impuls sein, mehr Wahrheit in eine Situation zu bringen.

In solchen Fällen gibt es einen unschätzbaren Helfer: offene Fragen. Das sind Fragen, die man z.B. nicht mit „ja“ oder „nein“ beantworten kann, oder in sich schon manipulativ gestellt sind. Fragen, die den anderen einladen, mehr über seine eigene Wahrheit und seine Gefühle herauszufinden.

Ich denke, es steht uns nicht zu, anderen zu erzählen, was wir glauben, was wahr ist über (s)eine Situation – außer er bittet uns darum. Solches Wissen hat oft wenig Wert, da es nicht er-lebtes Wissen ist, sondern nur geborgtes. Es kann dann nützlich sein, wenn eine wirkliche Bereitschaft besteht, Dinge aus neuen Blickwinkeln zu betrachten, den eigenen Horizont zu erweitern – eine solche Bereitschaft erkennen wir eben daran, dass der andere uns nach einem Standpunkt fragt. Aber selbst dann sollte man vorsichtig sein: Es gibt Menschen, die es sich zur Angewohnheit gemacht haben, immer andere zu fragen und so in eine Abhängigkeit zu geraten, die niemandem dient.

In jedem Fall können offene Fragen helfen, selbstbestimmt und aus eigenem Erkennen zu einer tieferen Erkenntnis zu gelangen. Das Gegenüber kann dann frei entscheiden, wie tief er oder sie in der Untersuchung gehen möchte – und das sollten wir dann auch akzeptieren.

Demut

Wir wissen so wenig, haben so wenig Überblick. Alles was wir tun können, ist bei uns zu bleiben und den natürlichen Fluss zu unterstützen. Ich habe es kürzlich erlebt, wie eine Freundin mich nach über einem Jahr (!) anrief und mir sagte: „Weißt du David, diese eine Frage, die du mir den Abend gestellt hat, hat mich nie wieder losgelassen. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht und heute kann ich es plötzlich sehen!“

Ich glaube fest daran, allen Seelen ihre Integrität zuzugestehen. Und mir selbst einzugestehen, dass ich nicht weiß, was für jemand anderes besser ist, wann er etwas zu verstehen hat, was für ihn die Wahrheit ist, die er gerade benötigt. Das zu erkennen ist Demut und ich glaube auch ein bisschen Weisheit.

Wenn wir wirklich Verantwortung für uns selbst übernommen haben, geschieht noch etwas anderes: Wir lassen auch allen anderen das Recht, für sich selbst verantwortlich zu sein. Wir müssen nicht mehr helfen, retten, belehren. Wir dürfen einfach lieben und sein lassen.

All das sind natürlich keine Regeln, und manchmal wird der Fluss uns andere Impulse geben. Zum Beispiel etwas in aller Deutlichkeit auszusprechen, den anderen zu konfrontieren. Trotzdem sind all dies Punkte, die mir sehr geholfen haben, andere mehr sein zu lassen und auf das zu hören, was wirklich passieren möchte.

Bilder

Pusteblume:  Bestimmte Rechte vorbehalten von Terence J Sullivan

 

8 Responses

  1. Leonardo

    Ich mag Missionierer, weil sie gesprächig und charismatisch sind und nicht so lethargisch wie alle diese „Gutmenschen“. Vielleicht sind die sog. „Gutmenschen“ ein Problem ? Davon hat doch der Kabarettist Georg Kreisler viele Lieder gesungen, wie z.B. „Tauben vergiften“, „Immer nur mit der Angst und mit der Ruhe“, „Hurra, Wir sterben!“, „Wir sind alle Terroristen“, „Schützen wir die Polizei!“ etc…

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  2. Jürgen Döhrmann

    Wahrheit war bisher mein sensibelstes Thema. Mit Wahrheit kam der innere Frieden. Wo die Wahrheit über mich selbst fehlte und ich sie nicht erringen oder erzwingen konnte, waren Zweifel, Ungewissheit und Wut anwesend. Ich wollte stets wissen, woran ich bin, und bin daran schier verzweifelt. Ich habe mit Gott gerungen um diese Wahrheit wie im Zweikampf, und erst wenn ich die Wahrheit auf allen Ebenen in mir zulassen und in mich einfließen lassen konnte, kam unmittelbar der innere Friede dazu.
    E s ist meine Wahrheit, die den Frieden bringt, nicht die Wahrheit anderer, das sind interessante Aspekte, die mir Hinweise geben können. Je mehr ich meine Wahrheit kenne und eins damit bin, desto geringer ist die Neigung , andere zu überzeugen. In früheren Leben war ich Prediger und Missionar.
    Grüß Euch Gott
    Jürgen

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  3. Christopher Schmidt

    Wer immer glaubt „erwacht“ zu sein ist es nicht. Wer glaubt das alles eins ist bildet sich das ein. Wer glaubt das alles zwei verschiedene Sachen sind bildet sich das auch ein.

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  4. Felix KrauÃ

    Danke für diesen bereichernden Beitrag!

    In den letzten Monaten habe ich auch erlebt, wie ich mich aus Diskussionen ausgeklinkt, immer weniger Forderungen gestellt und viel wohlwollender mit meinen Mitmenschen geworden bin. Manchmal bin ich aber immer noch froh, ein paar deutlichere Worte gesagt zu haben, vor allem, wenn ich sie in Ruhe und Liebe sagen konnte. Das berührt Menschen doch immer wieder und auch mir haben Menschen gelegentlich später gestanden, wie hilfreich doch der ein oder andere Reibungspunkt war, den sie nicht mehr vergessen konnten.

    Ich finde den Gedanken wundervoll, dass wir mit anderen Menschen ohnehin sehr viel kommunizieren, egal, ob wir reden, oder nicht und auf diesen Ebenen jenseits von Wort und Geste verstehen sich die Menschen ohnehin, wenn sie bereit dafür sind.
    Wenn wir nur glücklich sind und von Liebe erfüllt, dann müssen wir gar nicht sprechen, niemandem zurechtweisen oder ermahnen. Die verständnisvolle Gelassenheit, die Achtsamkeit und Demut einem jeden Menschen und Gespräch gegenüber können dagegen immer allen Gesprächspartnern weiterhelfen.

    Ich habe manchmal aus einfachen Gesprächen über alltägliche Dinge auch sehr viel gelernt.

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  5. Monika

    Das ist ja alles gut und schön….aber ich hab das Gefühl um das alles zu beachten würde ich einfach nur vor mich hinlächelnd in der Welt rumspazieren…..und gar nichts mehr sagen….
    Ich finde den Austausch mit anderen total spannend und auch sehr hilfreich!
    Und dieses ganze missionieren wollen kommt auch darauf an in welchem Bereich man jemand missionieren möchte……ich z.B. würde zu gerne alle Menschen dazu bringen – zu missionieren – dass Sie endlich Mutter Natur und die Tiere respektieren, dass Sie endlich aufhören unseren Planeten auszubeuten und die Tiere zu quälen! Und zwar sofort und auf der Stelle!
    Sorry aber in dieser Hinsicht sehe ich nicht ein dass ich all Deine Punkte beachten sollte…..!

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  6. Lilli

    Danke für diesen Kommentar! (-von Stephan Orlow)
    Schön gesagt- endlich mal ein überzeugendes Statement für die Missionierer! 🙂
    Hat mich sehr gefreut!!

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  7. Stephan Orlow

    Alles was Du geschrieben hast klingt richtig. Und dennoch, bin ich persönlich für manche >Missionierer< sehr dankbar, die mir Vegetarismus beigebracht haben, mein Aufwachen provoziert haben und bitteren Klartext sprachen. Ohne diese hartnäckigen >Missionierer< wäre ich weiterhin fleischfressender Workoholiker und Bildzeitungleser, der sich nur über die Gesellschaft, Arbeit, Konsum und Sex definiert. Und wenn wir jedem - wie Du schreibst - seinen Weg zugestehen sollen, dann bitte schön auch diesen >Missionierenden<. Wir sollten diese Menschen nicht diskriminieren, ausgrenzen und verspotten, nur weil sie für manche unbequem sind. Abschließend ein Spruch von Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach: >Der Klügere gibt nach – Eine traurige Wahrheit: Sie begründet die Weltherrschaft der Dummen<.

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