Spiritualität und Therapie schliessen sich nicht aus. Auf dem spirituellen Weg sind Integration, Erlösung alter Verletzungen und Schmerzen, die Auflösung und Überwindung von Mustern und Anhaftungen genauso notwendig wie Meditation, Gebet und Sein in Stille.

Um es richtig zu verstehen: Es geht hier nicht um Integration des Persönlichen. Aber es ist notwendig, dass in der Bereitschaft allem zu begegnen, die unbewussten Inhalte des Geistes, die Haken und Ösen – Hindus und Buddhisten nennen sie Vasanas oder Anhaftungen, wir sagen vielleicht Trips oder Konditionierungen dazu – ins Licht, an die Oberfläche kommen. Es ist unabdingbar, all das anzuschauen, zu umarmen und sich transformieren zu lassen. Daran kommen wir nicht vorbei.
Dies wurde von keinem echten Mystiker jemals abgestritten, nur hatten die Menschen der Vergangenheit andere Methoden. Die Wüstenväter des Christentums z.B. haben sich eingehendst mit ihren Egostrukturen auseinandergesetzt, mit allem, was in ihnen an Gier, an Stolz und was auch immer vorhanden war. Sie gingen dazu in die Wüste und benutzten als Methode Gebet, Fasten, Einsamkeit.

Das Unterbewusstsein entleeren

Zwangsläufig kommen die gesamten Inhalte des Unterbewusstseins hoch, wenn du allein in der Wüste sitzt. Die Mystiker machten das freiwillig, nicht um ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, um danach besser zu leben, sondern um der Wahrheit willen, um der Liebe Gottes willen, wie sie es bezeichnet hätten. Auch in anderen Traditionen, in der Begegnung des Schülers mit dem Meister zum Beispiel, ist dieser Prozess der Bewusstwerdung und der Lösung der Strukturen und Anhaftungen auf verschiedene Arten mit verschiedenen Methoden praktiziert und für grundlegend wichtig erachtet worden. Die Bewusstwerdung, Konfrontation, Begegnung, Integration und Auflösung muss geschehen, vor oder nach dem ersten Satori (Satori ist ein Aufblitzen der Wahrheit, ein zweifelsfreies, bewusstes, aber vorübergehendes Erkennen der Wahrheit), aber irgendwann muss es passieren. Es gibt auch in unserer Geschichte und Kultur viele erprobte Möglichkeiten, und seit hundert Jahren haben wir zusätzlich auch das Instrument der Psychotherapie – warum es nicht anwenden? In Poona haben wir es sehr intensiv benutzt. Osho hat Therapie immer mit einbezogen, aber stets in Verbindung mit Meditation.
Ob Integration und Transformation im Rahmen von Psychotherapie oder auf andere Art passiert, ist zweitrangig. Aber wenn es – aus Trägheit, Nichtverstehen oder sonstigen Gründen – nicht geschieht, kommt es früher oder später zu Frustration, Erleuchtungsfrust, Post-Satori-Depression! Ich erlebe das bei Menschen immer wieder. Ich höre es, sehe es, ich erhalte sehr viele Briefe zu diesem Thema. „Na ja, die Erleuchtung hält auch nicht das, was ich mir erhofft habe. Ich stecke ja immer noch in der Scheiße.“ Das liegt erstens an der Verwechslung von Satori und Erleuchtung, und zweitens an der Nicht-Integration der versteckten, subtilen und weniger subtilen Egoanteile. Das Ego muss wirklich sterben.
Wenn also diese Anhaftungen, Identifikationen, Ego-Reste, Konditionierungen, Sünden, Muster (wie auch immer man sie benennt) nicht aufgelöst und überwunden werden, dann bleibt Schleier, und das Ich kommt wieder. Garantiert! Wenn wir sagen: „Ah ja, alles bestens, die Welt ist Illusion, ich bin niemand, alles in Butter“, folgen zwangsläufig Frustration oder Missbrauch. Das, was als subtiles Ego geblieben ist, wird unter dieser Watteschicht von Pseudo-Erleuchtung, Pseudo-Spiritualität, Pseudo-Advaita oder Advaita-Dualismus richtig gut wachsen, stark werden und auf die eine oder andere Art wieder zum Vorschein kommen: Als negatives Ego, das frustrierte, depressive „Ich armer Tropf-Ego“, oder als positives Ego „Wow, wie bin ich gut“.

Meditation auf tönernen Füßen

Wenn wir Integration durch (beispielsweise) Therapie nicht zulassen, dann steht unsere Meditation auf tönernen Füßen. Aber Therapie allein ist auch nicht hinreichend, denn letztlich ist es Meditation, die das Abschneiden der Wurzel von Leiden wirklich ermöglicht. Wenn Integration nur im Sinn von Therapie passiert, ist das zwar heilsam und wunderbar für den Menschen, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, denn Therapie dreht sich immer noch um „Ich“. Das Ergebnis wäre ein höchst integriertes, wunderbares Ego, aber das ist es auch nicht. Denn wir können uns auch mit Hilfe einer noch so gutenTherapie nicht vor der Tatsache drücken, dass es uns als Ego, als Person gar nicht gibt. Aber wir können uns auch der Notwendigkeit der Heil-Werdung, der Integration der verletzten Teile in uns und auch der Notwendigkeit der Überwindung oder Auflösung von Anhaftungen und Vasanas aller Art nicht entziehen, indem wir uns hinter Sätzen wie „Es gibt kein Ego, alles ist eins“, „Ich bin die Weite, ich bin DAS“, „Da ist ja keiner“ und so weiter verschanzen. Da lügen wir uns selbst in die Tasche. Wir können uns auch nicht vor all dem drücken, indem wir uns in eine meditative Versunkenheit zurückziehen. Das wäre dann sowieso nur Schein-Meditation – eine Flucht, die sich als Meditation verkleidet.

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