Alle reden davon, alle rufen danach, alle glauben zu wissen, wovon sie reden: von Werten. Früher waren es die Kirchen, die Werte bestimmten, dann waren es Ideologien oder politische „Glaubens“-Richtungen, die Wertediskussionen für sich reklamierten. Heute ist es sogar der Staat, der mit dem umstrittenen „Werte“-Unterricht Werte amtlich in die Schule bringen will. Und irgendwie reden alle – vor allem auch gerne Politiker – von Werten.

Es werden Ethikkommissionen zu allen möglichen Themen etabliert, Bundespräsidenten fühlen sich berufen, moralische Reden zu halten und in jüngster Zeit werden Wertediskussionen auch als Wahlkampfinstrument eingesetzt, wenn Wirtschafts- minister beispielsweise ganz urplötzlich anheben, über die dem Kapitalismus innewohnende Verantwortungslosigkeit zu reden. So unterschiedlich aber die Motive auch sein können, sich mit Werten zu befassen, so kann man doch feststellen, dass allem Reden um Werte eines gemeinsam ist: Der Mensch ist kein wertefreies Wesen. Er braucht Werte zur Orientierung, er lebt Werte in seinem Leben – welche auch immer das sein mögen, er möchte, dass die Werte auch allgemeinverbindlich sind, und er beklagt oft genug, dass die Werte verfallen würden. Mit all solchen Äußerungen aber ist keineswegs klar, was Werte eigentlich sind oder von welchen Werten eigentlich die Rede ist.

Was aber sind Werte eigentlich?

Jeder glaubt zu wissen, was Werte sind, und er lebt seine Werte auch bewusst oder unbewusst. Zum Beispiel: Geld ist etwas wert, das neue Auto, ein erholsamer Urlaub ist etwas wert, vielleicht sogar Zeit zu haben, gesund zu sein und dergleichen mehr. Der Begriff des Wertes ist zunächst einmal ein ökonomischer Begriff. Im althochdeutschen meinte „werd“ dementsprechend auch „Kaufsumme“. In diesem Sinne kann eine Inflation auch einen „Werteverfall“ mit sich bringen, indem das Geld weniger wert ist, das heißt, der Gegenwert ist nicht mehr derselbe wie vor der Inflation. Aber schon bei dem Begriff der Gesundheit fällt auf, dass es auch nicht rein materielle „Werte“ geben kann. Der Philosoph Friedrich Nietzsche gab mit seiner Formulierung „Umwertung aller Werte“ den Impuls zur Wertediskussion bis heute.

Was aber sind Werte?

So wie der Arzt und die Medizin sich um Heilung von Krankheiten kümmern, so ist es die Ethik – man nennt sie auch praktische Philosophie – die sich als Wissenschaft der Frage nach Werten widmet. Als philosophische Teildisziplin sucht sie nach Antworten auf die Frage: Was darf/soll der Mensch tun? Was so abstrakt klingt, ist aber außerordentlich konkret – zum Beispiel:
– Darf ich abtreiben?
– Darf ich mit 80 km/h an einem Kindergartentor vorbei rasen?
– Darf ich betrügen?
– Darf ich fremdgehen?
– Darf ich Steuern hinterziehen? usw. usw.

Dabei ist nicht einfach nur die Frage selbst, ob ich dies oder das tun darf oder nicht, Gegenstand der Untersuchung, sondern die Ethik untersucht vielmehr die Begründungen dafür, warum dies „gut“ oder „böse“ ist. Aber wonach kann man entscheiden, was „gut“ oder „böse“ ist? Antworten versuchen eine ganze Reihe von Moralsystemen. Moralsysteme lassen sich oft auf bestimmte Grundprinzipien (Werte) zurückführen, aus denen dann Handlungsregeln abgeleitet werden können. So gibt es etwa eine katholische Moral, eine protestantische Moral, eine Moral des Nutzenkalküls usw. Die Frage also, ob eine Handlung gut oder schlecht ist, leitet sich dann aus einem Prinzip ab. Das Prinzip kann zum Beispiel sein: „Gott“ oder „Nutzen“ oder „Rationalität“, „Gerechtigkeit“, usw. Gut ist eine Handlung dann, wenn sie gottgefällig ist, oder wenn sie nützt, oder wenn sie rational ist oder gerecht usw. Ein solches Moralprinzip ist also ein „Wert“. Der höchste Wert ist „das Gute“.

Die Fälle des Lebens – der Kopierer

Und so ist Ethik ganz lebenspraktisch, wenn sie die Fälle des Lebens reflektiert und moralische Urteile über moralisch relevante Fragen bildet. „Ist die Tötung eines Palästinensers durch einen israelischen Staatsbürger oder umgekehrt gutes oder schlechtes Handeln?“ „Darf man abtreiben oder nicht?“ „Darf ein Schiedsrichter Fußballspiele manipulieren?“ „Darf man blau machen?“ usw. Wie nun kommt man zu einem moralischen Urteil? Eine aus didaktischen Gründen recht beliebte Frage stelle ich immer wieder gern: „Darf man am Arbeitsplatz privat ohne Wissen des Arbeitgebers kopieren?“ An diesem Beispiel – und: Hand auf’s Herz! Wer hätte dies nicht schon einmal gemacht? – lässt sich exemplarisch die Vorgehensweise ethischer Urteilsbildung demonstrieren.
Zunächst stellt sich also die Frage, um welchen Fall es sich hier handelt und ob dieser Fall überhaupt moralisch relevant ist. Schon juristisch wird dieser Fall als „Unterschlagung“ gedeutet. Denn beim Kopieren nimmt man jemandem etwas weg, das einem nicht gehört. Man nimmt Papier, Strom, Druckerschwärze, Arbeitszeit. Unterschlagung ist eine Form des Stehlens. Und die Frage, ob man stehlen darf oder nicht, ist dann ethisch relevant, wenn man den Begriff des Eigentums voraussetzt. Nun stellt sich die Frage, nach welchem Prinzip man begründen könnte, ob diese Handlung als gut oder schlecht zu bewerten ist – oder anders ausgedrückt: „Darf man das?“ Je nach dem, zu welchem Ergebnis man kommt, kann man die Handlung dann empfehlen oder nicht. Der jeweils so Handelnde begeht dann jeweils eine gute oder böse Handlung.

Wie kann ich das verbindlich entscheiden?

Welche Prinzipien können als Begründungen in Frage kommen? Nimmt man zum Beispiel das Prinzip „Gott“ im christlichen Sinne, so kommt man nicht umhin, die moralischen Regeln, die Gott Moses in einem etwas größeren Event am Berge Sinai mitgeteilt hat, zu beachten. Gott hatte unter anderem gesagt: „Du sollst nicht stehlen!“ Warum man nicht stehlen soll, begründet Gott nicht weiter, sondern er verweist auf sich als Autorität. Wenn man dieses Moralprinzip akzeptiert, ist „privates Kopieren am Arbeitsplatz“ leicht als schlecht bewertbar. Also: „Das darf man nicht!“ Nun glaubt aber nicht jeder an Gott oder akzeptiert Gott als Moralprinzip. Und so gibt es auch andere Prinzipien, nach denen man eine solche Handlung entscheiden kann. Nehmen wir beispielsweise das Prinzip „Nutzen“. Das Prinzip individuellen Nutzens – „Nützt mir das?“ – leuchtet jedem als handlungsleitendes Prinzip leicht ein – die meisten verhalten sich ohnehin danach. Der Philosoph Jeremy Bentham hat allerdings – um über den puren Egoismus hinauszuweisen – Regeln aufgestellt, auf welchem Wege man aufgrund dieses Prinzips Handlungen als gut oder böse bewerten kann. Bentham schlägt vor, vor jeder Entscheidung für oder gegen eine Handlung ein „Nützlichkeitskalkül“ durchzuführen, nach dem zu entscheiden ist, ob eine Handlung als gut oder böse bewertet werden kann. Seine Grundsätze des Nützlichkeitskalküls zielen auf die Frage: Kann durch eine Handlung der größtmögliche Nutzen aller Beteiligten, ja sogar gesamtgesellschaftlich, vermehrt werden?

Und ein solches Nutzenkalkül kann man jederzeit selbst mit anderen berechnen. Man stellt zunächst eine Tabelle auf, in denen die Personen oder Institutionen aufgelistet sind, die von der jeweiligen Handlung – hier: „privat Kopieren am Arbeitsplatz ohne Wissen des Arbeitgebers“ – betroffen sind. Wird das Glück / der Nutzen vermehrt, gibt es Pluspunkte, wird das Glück verringert, gibt es Minuspunkte – je nachdem, wie viel mittelbare oder unmittelbare Freude oder Leid durch die Handlung erzeugt wird: Man kann leicht erkennen, dass privates Kopieren am Arbeitsplatz ohne Wissen des Arbeitgebers eine negative Nutzenbilanz (- 14 Punkte) erzeugt. Also ist – das Prinzip des Nutzens zugrundegelegt – diese Handlung eindeutig als schlechte Handlung zu bewerten. „Das darf man also nicht!“
(Wenn die Gruppen, mit denen ich dieses Spiel spiele, erkennen, dass die Glücksbilanz negativ zu werden droht, dann beginnt das große Feilschen, um zu erreichen, dass man das doch darf!)
Und eines wird, egal welches Prinzip man zugrunde legt, deutlich: man sieht, dass es bei ethischer Betrachtung nicht um Quantität einer Handlung, sondern um Qualität des Handelns geht. Das Argument: „Na ja – diese eine Kopie wird schon nicht so schlimm sein!“ ist ein rein quantitatives Argument und rechtfertigt nicht das Handeln. Es hat dieselbe Struktur wie das Argument: „Ein Mord wird ja nicht so schlimm sein.“

Haben Werte ein Verfallsdatum? Oder: Die Schlange hat mich verführt …

… sagte Eva zu Gott, als er sie fragte, warum sie vom Baum der Erkenntnis gegessen habe (Gen 3,14). Und Adam sagte: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben und so habe ich gegessen.“ Diese Jahrtausende alte Geschichte erzählt uns, dass es bei gutem und bösem Handeln wohl um Werte geht. Aber als Erstes geht es darum, dass es stets einzelne Menschen sind, deren Verhalten als gut oder böse beurteilt werden kann. Dass man sich auf eine kollektive Schuld („… die anderen machen das ja schließlich auch so …“) oder ein Amt („… als Vorgesetzter darf ich das …“) oder auf irgendwelche Vorgaben („… man hat mir das befohlen …“) oder auf die Entscheidung anderer ( eines Gremiums etwa ) nicht berufen kann, hat sich bei den Nürnberger Prozessen genauso wie bei den Mauerschützenprozessen gezeigt.
Und dann geht es als Zweites stets um die aus der Einzelhandlung herauslesbaren, allgemeingültigen und im Idealfall für alle Menschen verbindlichen Bedingungen, also Moralprinzipien, also Werte. Und diese verfallen nicht! Am Beispiel des „Nutzens“ kann man leicht einsehen, dass das Handeln, „das das Glück aller vermehrt“, ja nicht „böse“ sei kann. Derjenige aber, der nur zu seinem eigenen Nutzen handelt, handelt so betrachtet durchaus böse, weil er sich nicht darum schert, was „das Glück aller vermehrt“. Werte verfallen also nicht, sondern es gibt Menschen, die sich an Werte nicht halten. Und es gibt Menschen, die sich bemühen, ein werthaftes Leben zu führen, die Werte anerkennen, sich für sie entscheiden und danach leben.
Man kann also zusammenfassend sagen, dass man sehr genau ermitteln muss, um welche Werte es gehen soll, bzw. ob sie ethisch tatsächlich relevant sind. Und man muss sich der Tatsache bewusst sein, dass Werte nichts Abstrakt-Anonymes sind, sondern dass jeder einzelne Mensch aufgefordert ist, ein werthaftes/tugendhaftes Leben zu führen. Das wäre dann so etwas wie eine „moralische Pflicht“.

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