Das Hamsterrad der Zeit verlassen

 

Warum ist es so spannend, über das Morgen zu spekulieren? Erhoffen wir uns von der Zukunft etwas, was wir hier und heute nicht finden?

Viele sind ein Opfer der eigenen Hypnose, genannt „Warten auf den richtigen Moment, um mit dem Leben wirklich zu beginnen“. Doch leider verschiebt sich dieser magische Augenblick immer wieder. Die Jahrtausendwende hat ihn nicht gebracht und auch nicht die letzte Liebesbeziehung. Jetzt hoffen wir auf 2012.

Doch irgendwie ist irgendwann alles wieder beim Alten. Und schon ziehen uns die nächsten Phantasien, Wünsche oder Sorgen in den Bann der Zukunft. Wir verbrauchen unsere Lebensenergie im virtuellen Raum von gestern und morgen. Alles erscheint faszinierender und aufregender, als einfach hier und jetzt zu sein.

Etwas in uns scheint das einfache Jetzt zu meiden wie der Teufel das Weihwasser. Warum? Dies ist zu verstehen, wenn wir uns klar machen, dass Zeit keine feste Wirklichkeit ist, sondern ein scheinbar überlebensnotwendiges Konzept des menschlichen Verstandes.

Unsere gesamte persönliche Geschichte benötigt den Bezugsrahmen von Vergangenheit und Zukunft. Ohne Zeit – keine Geschichte. Ohne Geschichte – kein bedeutsames, wenn auch leidendes Ich. Ankommen in der Gegenwart ist einfach und schlicht – und deswegen so furchterregend für den Teil in uns, der an die Wichtigkeit unserer Persönlichkeit glaubt. Die Illusion der Unvollständigkeit hält uns im Hamsterrad der Zeit gefangen.

Irgend etwas fehlt immer

„Ich lebe meine Träume, wenn ich erst einmal genug Geld dafür habe…“

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„Ich werde mich voll auf meinen Partner einlassen, wenn er…“
„Ich werde mich entspannen, wenn ich erst einmal erleuchtet bin…“
Nur noch dieses Projekt, nur noch eine neue Liebesbeziehung, nur noch … Doch ist es je genug?

„Was bringt die neue Zeit?“ Stell dir vor: gar nichts! Was dann?!
Stell dir vor, du wirst nie eine Million auf deinem Konto haben, was dann?!
Stell dir vor, die Erfahrung der menschlichen Existenz wird weiterhin mit Leid verbunden sein. Was dann?! Zeit ist eine Illusion, und erst wenn du die mit ihr verbundenen Hoffnungen und Ängste loslässt, erwachst du in der Wirklichkeit. Erst hier kannst du selbst entdecken, ob das Leben tatsächlich unvollkommen ist.

In anderen Kulturen, zum Beispiel bei den Hopi-Indianern, existiert gar kein Zeitbegriff. Ihr Tageslauf ist an die natürlichen Erscheinungen gekoppelt, und so wie die Jahreszeiten sich wiederholen, wiederholt sich auch die Zeit. Sie leben in einem Zustand des immerwährenden Jetzt.

Wir können die Traditionen anderer Völker nicht naiv übernehmen, doch wir können uns in der Festigkeit unserer Vorstellungen von Realität erschüttern lassen. Es geht nicht darum, in einem Anfall von Rückentwicklung plötzlich alles Planen fallen zu lassen. Zeit als Konzept ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur. Sie hilft uns zum Beispiel, uns bei einer Verabredung tatsächlich finden zu können. Doch sie zu nutzen, ist etwas anderes, als ihr zu glauben.

Ausstieg aus der Zeit – Erwachen in der Wirklichkeit

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Für unsere spirituelle Gesundheit ist es absolut wichtig, immer wieder in Zeit-lose Räume einzutauchen. Was Wissenschaftler wie Einstein längst theoretisch bewiesen haben, kann auch praktisch erfahren werden – der Ausstieg aus der begrenzten Dimension von Zeit. Sportler, Tänzer und Künstler erfahren diesen Zustand manchmal – sie nennen ihn „die Zone“. In vielen Kulturen wird diese Bewusstseinserweiterung durch Rituale wie ekstatisches Tanzen oder Atemübungen induziert. Die meisten von uns haben auch schon einmal im Alltag erlebt, wie „die Zeit stehen bleibt“ – beim herzhaften Lachen, bei innigem Sex, während eines magischen Sonnenuntergangs. In diesen Augenblicken gibt es kein persönliches Ich, keine Zeit und all die damit verbundenen Nebensymptome: Urteile, Trennung und Unruhe. Ohne Worte wissen wir in diesen Augenblicken, dass wir weit mehr sind als ein an Zeit gebundenes Wesen. Wir erfahren uns als Teil der Vollkommenheit dessen, was ist und immer war.

Zeit ist wie ein rasender Zug voll hektischer, sich sorgender oder hoffender Menschen. Die Lokomotive wird nicht von Dampfkraft angetrieben, sondern von der kollektiven Angst vor dem Tod – dem sicheren Ende dieser Geschichte. Die Illusion der Illusionen verliert ihre Macht, wenn wir bereit sind, uns dieser Angst vor dem Unbekannten zu stellen. Die Zeit stirbt mit dem alten Ich. Beide sind untrennbar miteinander verbunden. Um das Ich sterben zu lassen, musst du nicht auf den physischen Tod warten. Gib dich der Gegenwart hin, fliehe nicht in die nächste Hoffnung. Wenn jetzt Schmerz ist, sei Schmerz. Wenn jetzt Freude ist, verpasse sie nicht, indem du dir Sorgen machst, ob sie morgen auch noch da ist. Sei total Freude. Schmerz oder Freude. Immer offenbart uns das unscheinbare JETZT ein Tor in eine andere Dimension, in der wir uns als Stille, Liebe und Ekstase erkennen können. Jetzt, jetzt, immer wieder jetzt. Erwachen in der Wirklichkeit.


Zeichnungen: Karin Baetz, www.karindrawings.de

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