Tai Chi über den Dächern von Kreuzberg

Wir Menschen betrachten den Himmel mit Faszination oder verlieren den Blick in die Unendlichkeit des Meeres. Diese erfahrbare Magie der Natur weckt in uns Urgefühle und zeigt, wie weit wir eigentlich im Alltagsleben und Alltagsdenken davon entrückt sind.

Tai Chi Chuan, eine chinesische innere Kampfkunst, verschafft uns die Möglichkeit, uns des Charakter der Urkräfte und der Urenergien bewusst zu werden, so dass wir uns diese Magie zum Teil zurückholen können. Beim Tai Chi Chuan ist das Ziel von Übungspraxis und Lebenspflege die Verflechtung des Menschen sowohl mit den Kräften der Erde als auch denen des Himmels. Wir sollen uns als Bindeglied spüren, integriert in die großen Zusammenhänge des Daseins – denn schließlich werden wir Menschen auf der Erde geboren, aber unser Leben hängt vom Himmel ab.

Anders ausgedrückt bedeutet Tai Chi den ausgewogenen Umgang mit diesen großen Kräften des TAO: Yin (Erde) und Yang (Himmel). Daher folgt im Tai Chi jede Bewegungsform philosophischen Prinzipien (Nei Quan), mit dem Ziel Lebenskraft (Qi) auszuloten und zu entwickeln, weshalb Tai Chi auch als „die lebendige Weisheit Chinas“ bezeichnet wird.

 

Die acht Bewegungsenergien im Tai Chi

Der Himmel, die Sonne, das Feuer, der Donner und der Wind stellen die aktivierenden, schöpferischen Kräfte des Universums dar und zeigen Yang-Qualität. Die Erde, die Berge, die Pflanzen und das Wasser reagieren als aufnehmende Kraft auf das Yang und zeigen Yin-Qualität. Diese Naturphänomene erfahren im Tai Chi ihre konkrete Übertragung. Acht unterschiedliche Bewegungsqualitäten werden mit den Naturerscheinungen in Verbindung gebracht und enthalten Charaktere universeller Kräfte. Diese acht Bewegungsenergien bilden die Grundformen des Tai Chi (Bamen).

So enthalten Tai-Chi-Bewegungen, die dem Charakter des Himmels entsprechen, vor allem aufsteigende Energien, damit wir Verbundenheit zum Himmel erreichen. Hingegen erscheinen uns Bewegungsenergien, die dem Charakter des Sees entsprechen, vielleicht oberflächlich und unscheinbar, doch in ihnen liegt die Stärke des Wassers verborgen. Das überrascht dann besonders in Tai-Chi-Partnerübungen. Es gibt aber auch Bewegungen mit der Energie des Donners. Beim Donner wirken zwei entgegengesetzte Kräfte einer Bewegung an gleicher Stelle – es kracht und blitzt an einem Punkt. Die Bewegungsenergien des Windes lassen uns eher Leichtigkeit und Anpassungsfähigkeit ausdrücken. Die des Wassers führen zum inneren Rückzug in einer Bewegung, und die Energien der Erde bedeuten Sammlung, Tiefenentspannung und Verinnerlichung etc.

Im Tai Chi durchdringen uns die Kräfte der Erde und gelangen nach oben, und die Kräfte des Himmels gelangen nach unten. Wir sind mit der Erde „verwurzelt“ und zum Himmel hin wie „durch einen Faden“ verbunden. Diese spürbare Verbundenheit ist eine solide Grundlage, um uns leicht und unbeschwert agieren zu lassen.

Der Weg zum inneren Gleichgewicht

Für uns westliche Menschen stellt sich die Realität jedoch häufig umgekehrt dar. In der unteren Körperhälfte (Beine) sind wir leer und ohne Verankerung zur Erde, dafür aber oben (Kopf) voll, heiß und gestaut. Die obere Fülle führt zu Stresserscheinungen und zur Steifheit des Nackens, die untere Leere zu Schwäche in den Beinen und dem Gefühl, „den Boden unter den Füßen zu verlieren“.

Durch Tai Chi bekommen wir wieder warme Füße und einen kühlen Kopf. Unten solide Stabilität und oben unbeschwerte Leichtigkeit. Die Chinesen nennen es auch die Rückkehr zum Frühling oder zur Jugend, da wir als junge Menschen diese Verbundenheit noch hatten. Wieder erreicht, wirkt sie den Alterserscheinungen entgegen.

Der Blick des Tigers

Im Tai Chi nehmen wir wie ein Tiger alles um uns herum wahr. Wir sind innerlich ruhig und konzentriert, aber auch gelassen und fühlen uns wohl. Wir bewegen uns wie eine Katze, haben die Weitsicht eines Adlers und sind erdverbunden wie ein Fels. Unsere Energien jedoch breiten wir fließend wie Wasser aus, es sei denn, wir verbleiben in einer Position, dann sind wir der in sich ruhende Berg.

Im Laufe der Zeit verbessert sich der Umgang mit den Energien, dies kann zu faszinierenden Fähigkeiten führen. Die eigene Vorstellungskraft (Imagination) lässt uns die zur Verfügung stehenden Energien in uns selbst und um uns herum gezielt verwenden. Mit Leichtigkeit erzeugen wir Energiefelder und werden von dieser Energie auch getragen und bewegt. Außenstehende können unsere Verbundenheit selbst mit hoher Kraft nicht aus dem Lot bringen. Manche Tai-Chi-Schüler sind anfangs über derartige Phänomene so verwundert, dass sie diese mit Magie vergleichen. Spüren sie später selbst die Fähigkeit, Energien auszubreiten oder aufzunehmen, dann sind sie überrascht und fasziniert zugleich, dass auch sie selbst dieses Potenzial in sich tragen.

Ein chinesisches Sprichwort sagt: Wenn der Mensch im Einklang mit den großen Kräften des TAO ist, kann ihm nichts und niemand unter dem Himmel etwas anhaben.

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