Eine biodynamische Craniosacral-Behandlung ist äußerlich eine unspektakuläre Angelegenheit. Spüren, Halten, Verbinden – manuelle Manipulationen finden, wenn überhaupt, nur spärlich statt. Doch gerade diese Art von Kontakt ermöglicht auf einer tieferen Ebene eine vertrauensvolle Verbindung zwischen Behandler und Klient. Diese Verbindung auf Seelenebene ermöglicht Schritte aus jahrzehntelang abgeschlossenen Gefängnissen der Psyche in die Freiheit und in neue Lebensräume. Wolfgang Rühle im Interview mit Jörg Engelsing über die craniosacrale Einladung ins Leben.

 

Wie unterstützt man als Therapeut einen Klienten, sich dem Leben wieder zu öffnen und neue Räume zu betreten?
Unser Nervensystem funktioniert grundsätzlich über zwei Wege: über Efferenzen und Afferenzen. Der Begriff Efferenz bezeichnet die Nervenfasern, die Impulse vom Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark) zu den Erfolgsorganen wie beispielsweise den Muskeln leitet. Muskuläre Aktionen können dabei bewusst oder unbewusst sein. Auf der anderen Seite gibt es die Afferenzen, Signale aus der äußeren Welt, die über die Sinnesorgane in mein Gehirn kommen. In unserem Leben laufen ununterbrochen Efferenzen und Afferenzen ab, Input und Output. Wenn ich mich in diesen Raum begebe, den ich offene Wahrnehmung nenne und meinen Fokus auf reines richte, wenn ich also in diesen speziellen Kontakt mit einem Klienten gehe, dann mache ich mit ihm nichts Muskuläres, sondern bin wie eine Einladung für ihn. Wenn man es neurologisch benennen will, liegt mein Fokus auf bewusster Afferenz. Ich lasse Informationen in mich einfließen. Ich steige bewusst aus einer Efferenz aus, aus jeglicher muskulären Manipulation. Trotzdem geschieht eine Informationsübertragung von mir zum Klienten. Ich nehme mit meinen Händen vielleicht irgendwo Enge wahr, aber reagiere nicht darauf. Ich dehne also diese Enge nicht bewusst aus, aber auf einer ganz feinen Ebene geschieht genau das. Es ist so, dass dein System spürt, dass von meinem System kein Druck ausgeht, keine Gefahr – und das ist die Information, die du energetisch hauptsächlich erst einmal bekommst. Dein System schließt daraus: Ah, ich kann mich sicher fühlen, dann kann ich mich wieder ein Stückchen ausdehnen.

Also ist das Gefühl von Sicherheit die Basis für jede Ausdehnung. 
 Ja, Sicherheit und Vertrauen ist die Basis, aber es braucht noch mehr. Meine Haltung, mein Fokus, wenn ich jemanden anfasse, ist ein doppelter. Und zwar entspricht er dem, was der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther herausgefunden hat. Danach gibt es zwei Grundwünsche oder Grundbedürfnisse des entstehenden Lebens und auch des Menschen überhaupt: das Bedürfnis nach Verbundenheit und das Bedürfnis nach Wachstum. Und beides ist bereits im embryonalen Stadium klar wahrnehmbar. Alles ist Wachstum in totaler Verbindung zur Mutter, egal wie die Mutter sich fühlt oder verhält. Wachstum und Verbundenheit sind die Grunderfahrungen, mit denen wir ins Leben kommen. Im Erwachsenenleben kommen wir ganz oft in Konflikt mit diesen zwei Bedürfnissen, denn wenn ich mit den inneren Wachstumsimpulsen gehe, dann kommt mein soziales Feld oft nicht mit und ich isoliere mich ein Stück weit. Dadurch gehen Freundschaften und Beziehungen kaputt, und dann verliere ich die Verbundenheit. Lege ich dagegen ganz viel Wert auf Verbundenheit, versuche ich also, mit den Menschen, mit denen ich in Kontakt bin, auf jeden Fall zusammenzubleiben, dann schneide ich mich von meinen inneren Wachstumsimpulsen ab. Denn ich unterlasse bestimmte Dinge, weil ich merke, dass mein Umfeld damit nicht umgehen kann. Und aus diesem Verständnis heraus ist meine Art des Anfassen, des In-Kontakt-Gehens, eine – so nenne ich es einfach mal – empathische Neutralität. Ich bin einfach präsent und über Berührung verbunden, gleichzeitig achte ich darauf, dass mein Kontakt raumgebend ist, so dass sich das System des Klienten in jeder Richtung bewegen und entfalten kann.

Das befreiende Gefühl: Der will mich nicht zu etwas Bestimmtem bringen…
Genau. Und wir müssen in diesem Kontakt auch nichts erreichen. Deshalb der Begriff Einladung. Ich lade dazu ein, einen Raum einzunehmen. Aber wenn etwas in dir in Kontraktion geht, ein „ich will nicht“, dann begleite ich dich auch dabei und warte, bis wieder eine Öffnung entsteht. Auch wenn es manchmal länger dauert: Irgendwann kommt sie, kein System bleibt immer in der Kontraktion stecken. Und wenn du jemandem vermittelst: „Kein Problem, auch in der Kontraktion bist du okay“, dann schaffst du Vertrauen. Dann wird sich dein Gegenüber irgendwann auf einer tieferen, unbewussten Ebene entscheiden, sich wieder aus seiner Verkrampfung herauszuwagen.

Was ist für dich Heilung oder Wachstum?
Heilung ist für mich ganz stark gekoppelt an die Idee von Ganzheitlichkeit. Das lässt sich auch ganz spannend von der inneren Wahrnehmung her erkennen. Wenn jemand heftige Probleme hat, egal ob seelisch oder körperlich, und er schließt die Augen und ich sage ihm „Nimm mal deinen Körper von innen her wahr“, dann schafft es diese Person nicht, ihren Körper als organisches oder energetisches Ganzes wahrzunehmen. Sie ist fragmentiert. Ich erinnere mich an eine stark psychotische Klientin. In den Sitzungen machte ich nichts anderes, als verbal ihre Körperteile einzusammeln und wieder zusammenzufügen. Nichts ahnend fragte ich anfangs: „Wie fühlt sich denn Ihr Körper von innen her an?“  Sie sagte: „Das linke Bein ist unter der Liege, das rechte ist in der Ecke des Raumes, der Kopf ist explodiert und der Rumpf ist vollkommen verdreht.“ Ich habe mit ihr nichts anderes gemacht, als sie zu halten, und habe versucht, ihr zu helfen, wieder ein ganzheitliches Bild von sich selbst zu bekommen. Gesundheit heißt in diesem Sinne für mich, dass ich dann, wenn ich nach innen schaue, mich als organisches, energetisches und seelisches Ganzes wahrnehme.

Wie können wir uns noch darüber hinaus neue Räume erschließen, neue Ebenen betreten und echte Durchbrüche schaffen?
Ich mache eine sehr feine Art von Arbeit. Und je feiner die Arbeit ist, umso größer ist der Stellenwert von Vertrauen. Klar, wenn ich mit einer Bioresonanz-Maschine arbeite, ist es auch wichtig, dass mir die Klienten vertrauen. Aber doch weniger wichtig, als wenn ich sie anfasse und in ihre Tiefe begleite. Darum ist für mich die Basis jeder Reise in die Heilung und in tiefere Bereiche unseres Bewusstseins Vertrauen. Es gilt zu vermitteln, dass hier ein sicherer Raum ist, in dem sich der Klient entwickeln kann – wie gesagt, es geht immer um Verbundenheit und Entfaltung. Schritte für den Klienten sind nur möglich, wenn beide Aspekte fühlbar sind. Meine Arbeit auf dieser Basis ist die Suche nach einem Kontakt, nach einem Zugang, wo ich mit ihm auf einer tieferen Ebene in Verbindung kommen kann. Ich bin im Grunde genommen immer auf der Suche nach dem Fluss und der Gesundheit – im Klienten und in der Blockade.

Aber in der Blockade fließt es ja nicht.
 Ich arbeite sehr viel mit der Vorstellung von flüssig, denn diese Vorstellung hat etwas Entgrenzendes. Das heißt auch, dass es nie Stillstand gibt. Selbst wenn ein Muskel total verkrampft ist, kann ich schauen, wo darin noch Bewegung stattfindet. Ich möchte das, was wir als Blockade oder Stau bezeichnen, wieder einladen in den Gesamtfluss, der immer wahrnehmbar ist. Meine Sichtweise ist, dass ein Mensch, auch wenn er schreckliche Rückenschmerzen hat oder traumatisiert ist, als Gesamtsystem ja trotzdem funktioniert. Da ist ein seelisches oder psychisch-energetisches Feld, in dem einfach nur bestimmte Bereiche auf einer anderen Ebene schwingen. Und wenn diese Teile auf einer anderen Ebene schwingen, dann kann sich der Klient nicht als Ganzes wahrnehmen. Es ist, wie wenn jemand in einem Orchester falsch spielt – es geht darum, diesen Musiker, diesen abgesprengten, anders schwingenden Teil – egal ob er körperlich oder seelisch-psychisch ist – , sich wieder auf das harmonische Spiel des Orchesters.

Die nächste Einführung in „Die Kunst der craniosacralen Berührung“ findet am 28. und 29. April 2012 statt.

Die nächste zweijährige Ausbildung beginnt im Juni 2012.

Infos und Kontakt unter
Tel.: 030-88 67 70 07
www.cranioschule-berlin.de

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