88 Prozent der Deutschen und 90 Prozent der Österreicher wünschen sich laut ­einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung vom Juli 2010 eine „neue Wirtschaftsordnung“. Die Gemeinwohl-Ökonomie bietet eine Alternative zu kapitalistischer Markt- und zentraler Planwirtschaft. Sie baut auf Beziehungs- und Verfassungswerten auf und misst ihre Umsetzung in einer neuen unternehmerischen ­Hauptbilanz, der Gemeinwohl-Bilanz. Nach knapp drei Jahren tragen bislang 1400 Unternehmen aus 27 Staaten die Bewegung, die ersten Gemeinwohl-­Gemeinden sind am Entstehen und immer mehr Universitäten kooperieren. Über Gemeinwohl als Gewinn.

 

Die Wirtschaftsreformbewegung Gemeinwohl-Ökonomie wurde vor drei Jahren von einem Dutzend österreichischer Unternehmer ins Leben gerufen, die mit der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung unzufrieden waren. Die grundlegenden Neuerungen der Gemeinwohl-Ökonomie sind gar nicht „neu“, sondern eine Anpassung der Wirtschaftsordnung an die Ziele und Werte der Verfassungen demokratischer Staaten. Derzeit gibt es keine Verfassung, die besagt, dass Geld, Gewinn oder Kapital der Zweck des Wirtschaftens seien. Über den Zweck führt beispielsweise die bayrische Verfassung aus: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl.“ (Art. 151). Die italienische Verfassung legt als Ziel für die öffentliche und private Wirtschaft das „Allgemeinwohl“ fest (Art. 41). Das deutsche Grundgesetz sieht vor, dass Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen muss (Art. 14). Diese Ziele werden aber in der realen Wirtschaft weder erreicht noch gemessen. Es fehlen die geeigneten Erfolgsindikatoren. 

 

Gemeinwohlprodukt und ­Gemeinwohlbilanz

Das Bruttoninlandsprodukt (Volkswirtschaft) und der Finanzgewinn (Betriebswirtschaft), die beiden zentralen Erfolgsindikatoren heute, sagen nichts Verlässliches über die Zielerreichung „Befriedigung von Grundbedürfnissen, Lebensqualität, Gemeinwohl“ aus. Ganz anders das „Gemeinwohl-Produkt“ – dieses würde zukünftig über zum Beispiel 20 bis 30 Indikatoren (Ernährung, Gesundheit, Wohnung, Beziehungsnetz, soziale Sicherheit, Mitbestimmung, Geschlechtergleichheit, Grundrechte, Friede, Vertrauen) direkt die Zielerreichung und damit den „Erfolg“ einer Volkswirtschaft messen. Die Indikatoren würden von der Bevölkerung in kommunalen Bürgerbeteiligungsprozessen selbst definiert.

Der „Erfolg“ eines Unternehmens würde ebenso neu definiert mit seinem größtmöglichen Beitrag zum Gemeinwohl. Gemessen werden könnte dieser mit der Gemeinwohl-Bilanz, die die brennendsten Fragen der Gesellschaft an alle Unternehmen beantwortet, zum Beispiel:

  • Wie sinnvoll ist das Produkt, die Dienstleistung?
  • Wie ökologisch wird produziert, vertrieben und entsorgt?
  • Wie sind die Arbeitsbedingungen?
  • Werden Frauen und Männer gleich behandelt und bezahlt?
  • Wie werden die Erträge verteilt?
  • Wer trifft die Entscheidungen?
  • Wie kooperativ verhält sich das ­Unternehmen auf dem Markt?

Gemessen wird in Punkten, jedes Unternehmen kann maximal 1000 Punkte erreichen. Das Ergebnis könnte in einer farblich unterscheidbaren Ampel neben dem Strich-Code auf allen Produkten und Dienstleistungen erscheinen. Streicht der Konsument mit dem Handy über den Strich-Code, erscheint auf dem Display die gesamte Gemeinwohl-Bilanz. Damit würde die Gemeinwohl-Ökonomie ein Grundversprechen der Marktwirtschaft erfüllen: das nach umfassender und symmetrischer Information. Alle Produkte müssten ihre Entstehungsbedingungen und -umstände preisgeben. Die Konsumenten hätten endlich die Grundlage für eine mündige und ethische Kaufentscheidung.

Je besser das Gemeinwohl-Bilanz-Ergebnis eines Unternehmens, desto mehr rechtliche Vorteile erhält es, zum Beispiel:

  • günstigerer Mehrwertsteuersatz,
  • niedrigerer Zoll-Tarif (zum Beispiel „fairer Handel“),
  • günstigerer Kredit bei der „Demokratischen Bank“,
  • Vorrang beim öffentlichen Einkauf,
  • Forschungskooperation mit öffent­lichen Universitäten.

Mithilfe dieser marktwirtschaftlichen Anreizinstrumente wird die verkehrte Situation von heute, dass die Unethischen und Rücksichtslosen auf dem Markt belohnt werden, weil sie ihre Produkte billiger anbieten können, umgedreht: Ethische, ökologische, langlebige, regionale und faire Produkte werden billiger als unfaire, wodurch die Unfairen, nicht Nachhaltigen und Verantwortungslosen vom Markt verschwinden, während die ethischsten Unternehmen überleben. Endlich würden die „Gesetze“ des Marktes mit den Werten der Gesellschaft übereinstimmen. 

 

Gewinn nur noch Mittel fürs ­Gemeinwohl

Die Finanzbilanz bliebe erhalten, aber das Gewinnstreben könnte differenziert eingeschränkt werden: Nach wie vor verwendet werden dürfen Gewinne für soziale und ökologisch wertvolle Investitionen, Kreditrückzahlungen, begrenzte Ausschüttungen an die Mitarbeitenden oder Rückstellungen. Nicht mehr erlaubt sind hingegen: feindliche Übernahmen, Investitionen auf den Finanzmärkten, Ausschüttung an Personen, die nicht im Unternehmen mitarbeiten, sowie Parteispenden.

Um die Konzentration von Kapital und Macht und damit einhergehende übermäßige Ungleichheit zu verhindern, könnten „negative Rückkoppelungen“ bei Einkommen, Vermögen und Unternehmensgröße eingebaut werden: Mit zunehmendem Reicher-, Größer- und Mächtigerwerden wird das weitere Reicher- und Größerwerden immer schwieriger bis unmöglich. Die erste Million wäre die leichteste, jede weitere immer schwerer bis zum „Deckel“. Ungleichheit und die Konzentration von ökonomischer und ­politischer Macht würden dadurch ­begrenzt.

Gemeinwohlorientierte Banken und Börsen

Damit auch die Finanzmärkte ihren Dienst an Wirtschaft und Gesellschaft wieder erfüllen können, würde das globale Casino fast vollkommen geschlossen. Gemeinwohlorientierte Banken im Sinne lokaler Sparkassen und Genossenschaften würden die Kernfunktion von Banken ausüben – Verwaltung der Spareinlagen, Zahlungsverkehr, Kredite an Unternehmen. Die Kreditkonditionen orientieren sich an der Gemeinwohl-Bilanz des ansuchenden Unternehmens: je besser, desto günstiger. Damit würde auch das Finanzsystem in den Dienst der Verfassungen und ihrer Werte gestellt. Das Projekt „Bank für Gemeinwohl“ in Österreich bereitet die Gründung einer solchen gemeinwohlorientierten Bank vor.

Eigenkapital fließt über regionale Gemeinwohl-Börsen direkt an Unternehmen. Im Unterschied zu kapitalistischen Börsen wären Unternehmensanteile dort nicht handelbar (nur rückgebbar) und an die Stelle der Finanzrendite träte die „triple Skyline“: ein Gewinnmix auf Sinn, Nutzwerten und Ethik. Zudem kommt das – unveränderte – Mitspracherecht in Unternehmen.

 

Internationale Bewegung: Machen Sie mit!

Die Gemeinwohl-Ökonomie ist drei ­Jahre nach ihrem Start von einer Idee zu einer internationalen Bewegung ­geworden: Der „Gesamtprozess“, der im ­Oktober 2010 in Wien startete, setzt sich aus drei Pionier-Gruppen zusammen: Unternehmen (Sparda-Bank München, Vaude, Sekem, Bodan, KWB, Rhomberg, Trumer Brauerei, Sonnentor…), Gemeinwohl-Gemeinden (Mals, Schlanders, Laas und Latsch in Südtirol; Weiz/Steiermark; Pfaffenhofen/Bayern; Chacao/Venezuela) sowie Universitäten. Rund um die Pionier-Gruppen bilden sich Akteur-Kreise: Berater und Auditoren begleiten die Unternehmen, Referenten und Botschafter gehen an die Öffentlichkeit. Das „Redaktionsteam Gemeinwohl-Matrix“ sammelt laufend Feedback von den Pionier-Gruppen und verbessert die Gemeinwohl-Bilanz. Wissenschaftler integrieren GWÖ-Elemente in Forschung und Lehre oder wenden selbst die Bilanz an.

Die Gemeinwohl-Gemeinden erstellen die Bilanz in den eigenen Wirtschaftsbetrieben und laden die Privatwirtschaft ein, die Bilanz zu erstellen. Außerdem organisieren sie „Kommunale Wirtschaftskonvente“, in denen die Bevölkerung die Wirtschaftsordnung nach ihren Werten und Bedürfnissen formuliert – auf Basis der zwanzig Fragestellungen, welche der Gemeinwohl-Ökonomie zugrundeliegen. Ziel der Bewegung ist nicht die Durchsetzung der eigenen Inhalte, sondern die Organisation demokratischer Prozesse, um alle Schlüsselfragen einer Wirtschaftsordnung so breit wie möglich zu diskutieren und zu entscheiden. Die lokalen Konvente könnten an einen Bundeskonvent delegieren, dessen Ergebnisse vom Souverän abgestimmt werden. Das Ergebnis wäre ein demokratischer Wirtschaftsverfassungsteil oder eben die erste demokratische Wirtschaftsordnung. Ein historisch würdiges Datum dafür könnten 2019 und 2020 sein: 100 Jahre Demokratie in Deutschland und Österreich.

Am Prozess der Gemeinwohl-Ökonomie kann sich jede Privatperson, jedes Unternehmen, jede Organisation und jede Gemeinde beteiligen. Machen Sie mit!


Abb: © Liddy Hansdottir – Fotolia.com

Abb 2: © Bubu Dujmic

Autorenbild: © Robert Gortana

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