Trauma ist nicht gleich Trauma. Besonders sogenannte Komplex-Traumata halten Menschen in einer Hölle von Angst und Schmerz gefangen – auch noch Jahrzehnte nach den auslösenden Situationen. Die Traumatherapeutin Angelica Horvatic erklärt die Ursachen dafür und gibt Tipps, wie Betroffene sich von diesem Joch befreien können.

Als ich vor einigen Jahren mit einer traumatisierten Klientin mit dem Completion Process, einer Inneren-Kind-Methode, arbeitete, war sie schnell davon begeistert und überzeugt, dass dies die richtige Heiltechnik für sie sei. Gleich am Anfang hatten wir eine sehr tiefgehende Sitzung, die mehrere Stunden dauerte. Die Klientin fühlte sich danach viel besser, doch ihr Leben wurde nicht sofort und automatisch transformiert. Die Folge: Sie war enttäuscht, verlor die Hoffnung, fühlte sich de primiert und beschuldigte sich selbst: „Irgendetwas muss schrecklich falsch mit mir sein, wenn diese Superheilmethode bei mir nicht funktioniert hat.“

Diese Enttäuschung hätte ich natürlich verhindern können. Anstatt zu versuchen, sie zu motivieren, indem ich ihr die wundervolle Wirkung einer einmaligen Inneren-Kind-Reise versprach, hätte ich den Schwerpunkt auf die Aufklärung legen müssen, nämlich darauf, was die Lösung eines komplexen Traumas eigentlich erfordert. Denn die Zeit allein heilt nicht unsere Wunden – ein komplexes Trauma braucht Zeit und harte Arbeit, um sich aufzu – lösen. Und egal wie machtvoll und erstaunlich die Arbeit mit dem inneren Kind oder andere Trauma-Heilmethoden sind – sie können NIEMALS als schnelle Lösung funktionieren.

Was ist ein komplexes Trauma?

Eine der führenden Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Traumatologie, die amerikanische Psychiaterin Judith Herman, definiert ein komplexes Trauma als „das Vorkommen einer komplexen Form der posttraumatischen Belastungsstörung bei Überlebenden eines anhaltenden, wiederholten Traumas“. Ein komplexes Trauma ist also nicht nur ein einmaliges schreckliches Ereignis – es ist ein Horror-Leben.

Ein komplexes Trauma umfasst multiple, sich wiederholende, chronische, zwischenmenschliche Stressoren, bei denen der Betroffene im Laufe der Jahre und während der prägendsten Entwicklungszeiten wiederholt und dauerhaft durch andere Menschen verletzt wird – meist von Eltern oder anderen Personen, die eine Fürsorgestellung innehaben. Das heißt: Diejenigen, die sich um die Sicherheit und das Wohlergehen des Kindes kümmern sollten, sind genau diejenigen, die ihm immer wieder Schaden zufügen.

Die Frage ist: Wie kann ein Kind eine Verbindung zu seinen Eltern herstellen, wenn diese es permanent verletzen? Stellen Sie sich ein kleines Baby vor, das sich in der verletzlichsten und kostbarsten Phase seiner Kindheit nicht in einer liebevollen, nährenden und sicheren Umgebung entwickelt, dort wächst und lernt, sondern stattdessen chronischen traumatischen Erlebnissen ausgesetzt ist. Das Selbstgefühl des Babys wird nicht nur von Geburt an beschädigt, sondern es ist auch noch gezwungen, alleine mit dieser ständigen Überforderung umzugehen.

Schuld und Scham

Kinder, die mit einem komplexen Trauma aufwachsen, tragen zudem eine Menge selbstschädigender Scham und Schuld in sich und glauben, dass sie als Kinder und Menschen in ihrem Kern schlecht sind. Denn sie brauchen eine Erklärung dafür, warum ihnen so viel Schreckliches passiert. Und die einzige Erklärung ist: Es muss an ihnen liegen, denn wenn es an den Eltern läge, wäre das noch fürchterlicher, denn damit wäre die ganze Welt falsch.

Das Schlimmste bei einem komplexen Trauma ist für ein Kind nicht die Schwere des ständigen Missbrauchs, sondern dass es kein Entkommen gibt. Betroffene Kinder schaffen es nie, zu einem friedlichen, liebevollen und sicheren Ort zu gelangen, an dem sie möglicherweise (wieder) eine gewisse emotionale Stabilität erlangen können. Auch wird der Schmerz, den sie erfahren, nicht anerkannt – stattdessen werden sie bestraft und fühlen sich auch noch beschämt, wenn sie ihre negativen Emotionen fühlen und ausdrücken. Das alles überfordert, überwältigt und zerbricht sie irgendwann …

Innerhalb eines komplexen Traumas können Menschen verschiedene Schichten von Traumata beherbergen – Kriegsveteranen beispielsweise leiden oft nicht nur an einer posttraumatischen Belastungsstörung nach dem Krieg, sie waren oft auch schon in ihrer Kindheit einem schweren Trauma ausgesetzt (beispielsweise, wenn sie in einem gewalttätigen Elternhaus aufwuchsen) und wurden viele Male in verschiedenen Lebensphasen traumatisiert.

Unsicherheit und permanenter Stress

Sobald ein Trauma über ein einzelnes Ereignis hinausgeht – wie ein Autounfall, ein Erlebnis mit Schusswaffen, Straßengewalt oder ein schreckliches Erlebnis im Krieg – liegt ein komplexes Trauma vor. Dies kann körperlicher, emotionaler oder sexueller Missbrauch, emotionale Vernachlässigung, Verlassen-Werden und Trennung, Verrat oder Ablehnung in der Kindheit sein. Adoptierte, verwaiste und Pflege- Kinder haben im Grunde alle ein komplexes (Entwicklungs-)Trauma. Symptome eines komplexen Traumas könnten sein: Ohnmacht, geringes Selbstvertrauen, Scham, Schuldgefühle, Depressionen, Angstgefühle, Panikattacken, Schlaflosigkeit, unterdrückte Emotionen, Beziehungsschwierigkeiten und vieles mehr.

Wenn ein Betroffener Symptome hat, die sich auf seine Weltanschauung und seine Fähigkeit, sich sicher zu fühlen (physisch und emotional) derart auswirken, dass er sich ständig unsicher und in dem permanenten Stress fühlt, diese Unsicherheit, den anhaltenden Schmerz und das Leiden aushalten zu müssen, stammen diese Symptome meist von sogenannten Entwicklungstraumen und haben eine tiefgreifende physiologische Auswirkungen auf das Gehirn, auf die Adrenalin-Drüsen und vieles mehr.

Diese Traumata brauchen unbedingt Auflösung und Heilung. Neue Klienten fragen mich oft, wie viele Sitzungen sie durchlaufen müssen, bevor sie positive Veränderungen in ihrem Leben bemerken. In meiner Antwort auf diese Frage vergleiche ich oft die Traumaarbeit mit einem Fitnesstraining. Kann man in einer Trainingseinheit ein Sixpack bekommen? Natürlich nicht.

Sich verpflichten

Ich erinnere mich noch daran, dass ich in einer Zeit, in der ich selbst sehr gelitten habe, zehn Monate und über 5000 Euro in die heilende Arbeit mit einem meiner Therapeuten investiert habe. Ich war sehr verzweifelt, aber wollte unbedingt leben und Heilung erfahren. Ich erinnere mich, dass ich zu meinem Therapeuten gesagt habe: „Egal wie lange es dauert, ich werde einmal in der Woche kommen und alle notwendigen Hausaufgaben machen. Ich werde tun, was auch immer nötig ist – egal wie lange es dauert und wie viel es kostet.“ Ich war sehr jung und sehr entschlossen, mich zu heilen. Wenn ich zurückblicke, bedauere ich nichts von der investierten Zeit und dem Geld, denn ich bin heute ein ganz anderer Mensch dank dieser Therapie und all der Arbeit mit meinem inneren Kind. Heute liebe ich mein Leben und sehe es als ein Geschenk.

Das hat mir kürzlich einer meiner Klienten geschrieben, nach sechs Monaten unserer kontinuierlichen Arbeit: „… Ich habe nicht annähernd so viel Angst davor, meine Gefühle zu fühlen wie zuvor. Ich habe keine Angst davor, ich selbst zu sein, und ich bin begeistert vom Leben und der Zukunft, wie ich es noch nie zuvor war. Ich sehe das Gute im Leben und ich bin dankbar für so viele Dinge. Ich weiß nicht, ob du dich an eine unserer Sitzungen erinnerst, du hast mir erzählt, wie großartig das Leben ist und wie dankbar du bist, am Leben zu sein. Alles, woran ich denken konnte, war, dass ich nichts davon dachte. Ich dachte das Gegenteil davon. Und jetzt verstehe ich, wie du dich gefühlt hast, als du all diese Dinge gesagt hast. Und ich weiß, dass du einer der Hauptgründe dafür bist, dass ich diese Dinge nun auch fühle. Ich schätze alles, was du für mich getan hast, und alles, was du weiterhin tust.“

Lassen wir also die Erwartungshaltung los, unsere inneren Kinder über Nacht zu heilen. Lasst sie uns stattdessen lieben und pflegen, da sie so verzweifelt auf unsere Anerkennung, Annahme, Wertschätzung, unsere Geduld, Liebe und Heilung warten. Lasst es uns angehen.

So findest du den richtigen Therapeuten

Es ist durchaus möglich, sich von einem komplexen Trauma zu heilen, aber es erfordert eine ernsthafte und engagierte Herangehensweise und laufende Sitzungen mit dem richtigen Therapeuten. Der erste Schritt zur Heilung ist also zunächst die passende Heilmethode für dich zu finden. Recherchiere. Lies. Erkundige dich. Probiere aus. Fühle, was für dich richtig ist. Denk daran: Niemand weiß besser, was für dich gut ist, als du selbst. Höre auf dein Bauchgefühl. Sobald du deine bevorzugte Methode gefunden hast, ist es Zeit, nach einem Therapeuten zu suchen, bei dem du ein gutes Gefühl hast. Jemanden, bei dem du fühlst, dass du ihm vertrauen kannst. Sei nicht hart zu dir selbst und erwarte nicht von dir, dein Trauma ohne Unterstützung zu heilen – spüre, wie genau diese Erwartungshaltung die traumatische Erfahrung des Auf-sich-allein- Gestelltseins deines inneren Kindes bestätigt! Denke daran, dass die Traumaarbeit – besonders die mit dem inneren Kind – eine sehr heikle und sehr verletzliche Arbeit mit unseren Emotionen ist, bei der die Synchronisation zwischen dem Therapeuten und dem Betroffenen entscheidend ist – folge unbedingt deinem Herzen, wenn du einen Therapeuten wählst.

Denke auch daran, dass die meisten Betroffenen ihren Therapeuten nicht empfehlen, weil er der Beste ist, sondern weil er gerade in diesem Moment der Beste für sie ist. Und eine letzte Sache: Verpflichte dich dir selbst gegenüber, für mindestens sechs Monate in regelmäßigen Sitzungen mit deinem Therapeuten zu arbeiten. Und: Anstatt dich selbst und dein Leben zu analysieren und nach Veränderungen und Verbesserungen nach jeder Sitzung zu suchen, konzentriere dich darauf, all deine Hausaufgaben zwischen den Sitzungen zu machen – vertraue und erlaube jeder einzelnen Sitzung, in dir nachzuwirken. Führe täglich Tagebuch über deine Gefühle und lies deine ersten Notizen nach sechs Monaten erneut. Ich kann dir versprechen, dass du einen signifikanten Unterschied in der Art, wie du über deine Gefühle schreibst, feststellen wirst!

Workshop in München:
„Die unbändige Kraft unseres inneren Kindes“ voraussichtlich im April 2019, Kosten: 195 €

 

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