Ballengang vs. Fersengang

Unsere alltägliche Bewegungsweise spielt für die gesundheitliche Prävention, vor allem aber auch bei der Heilung von Krankheiten des Bewegungsapparates eine große Rolle. Spezielle Gehschulen empfehlen den sogenannten Vorfuß- bzw. Ballengang, meist in Kombination mit Barfußgehen.

Während unser modernes Schuhwerk uns geradezu dazu zwingt, die Ferse zuerst aufzusetzen und den Fuß nach vorne abzurollen – der orthopädisch gewöhnlich empfohlene Fersengang – kommen immer mehr Bewegungsforscher zu der Ansicht, dass dies nicht unsere natürliche Form des Gehens ist, sondern eine Folge falschen Schuhwerks. Die Folge: Durch die unnatürliche Bewegung entstehen Verformungen, Disbalancen, Gelenkbelastzngen, Verspannungen und falsche Bewegungsmuster.

Im Barfußgang, bei vielen indigenen Völkern und in fast allen traditionellen Kampfkünsten kann hingegen der Ballengang beobachtet werden. Der Mannheimer Körpertherapeut und Körperbewegungscoach Stefan Heisel hat sich auf das Thema spezialisiert und erläutert in unserem Interview, was es mit dem Ballengang auf sich hat.

Herr Heisel, was machen Sie eigentlich genau als Körperbewegungscoach?

Als Körperbewegungscoach helfe ich anderen Menschen dabei, ihre natürlichen optimalen Körperfunktionen wieder zu erlangen und sich dadurch im Alltag deutlich effizienter zu bewegen.

Wie kamen Sie denn dazu, sich mit dem Balllengang zu beschäftigen?

Meine Spezialisierung zum natürlichen Gehen hat sich aus einer Mischung aus eigener Entwicklung und öffentlichem Interesse allmählich herausgebildet. Obwohl ich ja seit früher Kindheit vielseitig bewegungsbegeistert bin, habe ich den Ballengang als solches erst relativ spät bewusst entdeckt.

Nach intensiven Lern- und Lehrerfahrungen mit Kampfkunst, nach einem abgeschlossenen Studium der Körperbehindertenpädagogik und einer kompletten faszientherapeutischen Ausbildung empfahl mir einer meiner Mentoren, mich während des Trainings und überhaupt ganz bewusst mehr auf dem Vorfuß zu bewegen.

Ich habe dann begonnen, mich mit diesem Thema schrittweise auseinanderzusetzen. Allerdings gab es keine wirklich körpergerechte Anleitung, und ich tat mich wie viele anfangs auch recht schwer damit, zumindest im Alltag. Gleichzeitig spürte ich, dass es irgendwie am ganzen Körper liegen muss, richtig oder falsch zu gehen und wurde sozusagen zum Bewegungsforscher.

Das war Anfang 2005. Also begann ich damit, nicht nur bei mir, sondern auch bei meinen Kampfkunstschülern und meinen Klienten die Bewegungsweise grundlegend zum natürlichen Gehen hin umzugestalten. Aus den Resultaten entwickelte sich im Laufe der folgenden Jahre ein ausgereiftes didaktisch-körpertherapeutisches Konzept, das in überregionalen Seminaren und in Online-Kursen erfolgreich angewendet wird.

ballengang_anleitungWas versteht man eigentlich unter Ballengang, wie unterscheidet er sich von dem „normalen Gehen“, wie wir es als Laien betrachten?

Ja, der Begriff ist etwas erklärungsbedürftig. Beim Ballengang gibt es einige Missverständnisse, die das spontane Umsetzen erschweren. So wie das auch bei mir der Fall war. Nach meiner praktischen Erfahrung ist das optimale Gehen sowohl von einer durchgängigen Aufrichtung als auch von einer hohen Beweglichkeit in Hüfte, Wirbelsäule und Schultergürtel geprägt.

Leider sehen wir bei den meisten Menschen aber einen Strukturbruch, der bereits im Fuß beginnt. Knickfüße, Senk- und Spreizfüße und nicht zuletzt Plattfüße bilden nioocht selten die Basis und sind dabei nichts anderes als solche Strukturbrüche, die in verdrehten Schenkeln und fixiertem oder asymetrischem Becken fortgesetzt werden. Unumgängliche Begleiterscheinung ist dann auch eine Wirbelsäule, die von Flachrücken oder Hohlkreuz und von einem mehr oder weniger ausgeprägtem Rundrücken geprägte geprägt ist. Schließlich bilden eingedrehte Schultern, festgehaltene Brustkörbe mit viel zu weit vorne gehaltenem Kopf das Bild einer NICHT durchgängigen Aufrichtung.

Und so zeichnet sich eine derart gebrochene Körperstruktur auch deutlich im Gehen ab. Sie wird durch festgefahrene Bewegungsgewohnheiten verstärkt und im Grunde genommen überhaupt erst dadurch verursacht. Im Klartext: Es spricht einiges dafür, dass unter anderem auch falsches Gehen langfristig krank machen kann.

Der Ballengang hingegen ist die Bewegungsweise, mit der immer der ganze Körper beweglich und aufrichtend eingesetzt wird, der die Kraft der Muskeln fließend über intaktes Fasziengewebe vom Boden bis in den Scheitel überträgt und somit ein korrigierendes und strukturbildendes tägliches „Training“ darstellt.

Er bedeutet NICHT das bloße Aufsetzen des Vorfußes, das für sich genommen noch keine Aufrichtung und Beweglichkeit bewirkt. Vielmehr ist es umgekehrt: Sobald sich der ganze Körper als eine geschmeidige Einheit gehend fortbewegt, entsteht ein Vorfuß-betontes Landen und Abstoßen wie von selbst.

Oder anders: Einem natürlich gehenden Ballengänger sieht man auf den ersten Blick den Vorfußeinsatz gar nicht ohne weiteres an. Er passiert quasi ganz nebenbei und die Bewegungen wirken insgesamt leichtfüßig bis elegant.

Welche Menschen kommen zu Ihnen, um Ballengang zu lernen und was sind ihre Beweggründe?

Das Interessse am Ballengang stammt aus ganz unterschiedlichen Bereichen und Motivationen. Zum einen sind das Menschen, die primär wegen einer Faszientherapie bzw. Faszienkur zu mir kommen, weil sie beweglicher, aufrechter und gegebenenfalls auch beschwerdefreier werden möchten. Diese Menschen erlernen als ein Teil des Behandlungskonzeptes immer auch den Ballengang. Auf der anderen Seite gehört das Ballengangmuster aber auch zum festen Bestandteil jedes anderen meiner Bewegungscoachings und ist auch essentieller Bestandteil meines Kampfkunstkonzeptes, das ich seit mehreren Jahren frei unterrichte.

Durch meine Internetpräsenz finden mich nun viele Menschen auch direkt, entweder weil sie aktiv nach Ballengang suchen oder Anregungen von den Publikationen verschiedener Autoren aufgreifen. Seit 2013 biete ich einen ausführlichen Onlinekurs sowie Live-Seminare in verschiedenen deutschen Regionen an, die sich wachsender Beliebtheit erfreuen.

Meine Klienten oder Schülern haben in der Regel ein grundsätzliches Interesse daran, sich langfristig effizienter oder schmerzfreier durchs Leben zu bewegen. Das bedeutet aber auch, dass bei diesen Menschen bereits ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass da noch sehr viel machbar ist – zu recht, wie sich regelmäßig herausstellt.

Welchen Nutzen haben denn Menschen, die sich auf eine Umstellung zu Ballengang einlassen? Welche Rückmeldungen erhalten Sie von Ihren Klienten?

Es gibt mittlerweile zahlreiche Feedbacks, ich höre von mehr Effizienz und Ausdauer beim Laufen, da sowohl ihre Schritte ohne Mehranstrengung länger wurden indem ihre Hüfte beim Laufen viel mehr mitrotierte.Es gibt Berichte von Schmerzlinderungen im Rücken durch die natürlichere Dämpfung bei Gehen, von weniger Nackenverspannungen und auch von deutlichen Besserungen bei Fußbeschwerden wie Fersensporn. Auch Ärzte, Physiotherapeuten, Tänzer, aber auch TaiChi-, Karate-, Wing Tsun- und Aikido-Lehrer äußern sich positiv zu den Ballenganganleitungen, die die eigene Arbeit und das Verständnis des eigenen Körpers stark fördern.

Es schreiben mir aber auch Menschen, die zunächst Schwierigkeiten mit der Umgewöhnung haben. Die Lösung liegt dann im schon erwähnten ganzkörperlichen Ansatz des Gehens. Erst dann stellen sich wirkliche Erfolge ein, und die Sache wird rund.

Also hat der Ballengang auch eine gewisse therapeutische Wirkung?

Sagen wir es so: Mit „therapeutische Wirkung“ kommt man in einen Bereich, der mit vielen, auch rechtlich brisanten, Aspekten besetzt ist. Das ist auch gut so, um Menschen vor falschen Erwartungen oder unlauteren Versprechungen zu schützen. Momentan gibt es keine Untersuchungen darüber, die systematisch den gesundheitlichen Nutzen dieser oder jener Gangart, insbesondere des Ballengangs, belegen.

Unser Körperempfinden und der gesunde Menschenverstand sagen uns aber deutlich genug, dass natürliche und leichtgängige Körperbewegungen den Allgemeinzustand eines Menschen eher fördern als unnatürliche und belastende Bewegungen. Über das Sitzen, das Liegen und das Stehen ist das hinlänglich bekannt. Nicht umsonst werden sogenannte Rückenschulungen von Krankenkassen bezuschusst.

Durch Ballengang findet ein damit recht vergleichbarer ganzkörperlichen Trainingsvorgang statt, der weit über die Fußnutzung hinausgeht und vielmehr den optimalen Umgang mit Hüfte, Rücken, Schultergürtel und der damit verbundenen Körperaufrichtung impliziert.

Deshalb ist es einleuchtend, dass ein solches Bewegungsmuster bei entsprechender physischer Eignung eine wirkungsvolle Prophylaxe für vermeidbare Beschwerden und Schädigungen des Bewegungsapparates bedeutet. Denn wenn wir mehrere tausend Schritte täglich in einer Förderlichen Art und Weise gehen, gibt es keine andere Übung, die mit einer solch hohen Wiederholungsrate und Effizienz je durchgeführt werden kann.

Voraussetzung ist allerdings immer die ärztliche Abklärung über den funktionellen Gesundheitszustand. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, der vor jedem Coaching abgeklärt wird.

Ist das erfüllt, kann „richtiges tägliches Bewegen“ bei bereits bestehenden Problemen durchaus auch Genesungsprozesse bei zusätzlicher medizinischer Betreuung sinnvoll unterstützen.

Meiner persönlichen Meinung nach sollte die Optimierung täglicher Bewegungsprozesse immer Teil der medizinischen Begleitung sein. Menschen werden heute oft allein gelassen und verfallen natürlich viel zu oft in die selben Bewegungsmuster, denen sie ihre körperlichen Probleme überhaupt erst verdanken.

Herr Heisel, angenommen, jemand möchte nun sein gewohntes unvorteilhaftes Bewegen umstellen und möchte von Ihnen gecoacht werden. Wie gehen Sie vor? Wie kann ein so fest verankertes Bewegungsmuster wie das Gehen überhaupt verändert werden?

Sehr wichtig ist in jedem Fall das eigene spielerische Ausprobieren und Experimentieren. Denn: „richtiges Bewegen“ ist ursprünglich und im Wesentlichen angeboren. In meinem Coachig gehe ich mehrgleisig vor und habe einen besonderen Weg entwickelt, um eine möglichst hohe dauerhafte Veränderung hervorzurufen:

  1. Zuerst erstelle ich eine Videoanalyse. Dadurch erhält der Klient ein gutes Feedback über sich selbst und kann über die Selbstbeobachtung von außen die eigene innere Wahrnehmung ergänzen.
  2. Dann erfolgt (auch und vor allem in Seminaren) ein 5-Stufen-Programm, das sukzessive den ganzen Körper in den Gehprozess einbindet. Bis dahin findet das Lernen noch rein kognitiv oder per Nachahmung statt (wie sonst üblich) und ist noch nicht in das Körperbewusstsein tiefer eingedrungen.
  3.  Im nächsten Schritt helfen sogenannte innere Bewegungsübungen (=Inner Moving Lessons bzw. IML) anschließend dabei, die äußere Bewegung mit dem inneren Bewegungsgefühl zu koppeln.
  4. Idealerweise wird dann der Körper auch durch manuelle Faszienbehandlungen (= Fascial Formula Sessions bzw. FFS) in seiner Struktur so „umgebaut“, dass er ganz neue Bewegungs- und Haltungsmuster zulassen kann bzw. diese sogar von sich aus automatisch optimiert.
  5. Schließlich erhält das neue Gehen auch einen emotionalen positiven Anker, der im Gedächtnis bleibt, indem beispielsweise ein schönes Erlebnis in der Natur. Am besten barfuß und als eine Herausforderung an die Physis. Gestützt werden kann dies durch eine Gruppe Gleichgesinnter, die sich gegenseitig motivieren, und/oder durch eine geführte und mit weiterführenden Ballengangübungen angereicherte Wanderung.

Wo kann man denn Ballengang lernen und welche Tipps können Sie den Lesern jetzt schon mitgeben, um sich mit dem eigenen Gehen sinnvoll zu beschäftigen?

Ich beginne mit der letzten Frage. Wer sich dem natürlichen Gehen annähern möchte, der sollte drei Dinge in nächster Zeit tun.

  1. Bewegen Sie sich in freier Natur möglichst oft barfuß und auf sehr unterschiedlichem Untergrund. Gerade „schwierige“ Gelände provozieren Ihre Füße dazu, ihre volle natürliche Funktion einzusetzen, und allein dadurch verändert sich bereits Ihr ganzes Bewegungsmuster.
  2. Sortieren Sie alle Schuhe aus, die Ihre Zehen seitlich einschränken oder gar zusamendrücken, die einen Absatz oder eine Sprengung an der Ferse besitzen, die ein Fußbett haben, deren Sohle dicker als 8 Milimeter oder deren Schaft über die Fußknöchel geht. Wahrscheinlich bleiben jetzt nur noch mit viel Glück Hausschuhe übrig nicht wahr? Diese genannten Schuheigenschaften zwingen Ihren Fuß und Ihren Körper, so zu gehen, dass die Gelenke gestaucht und die Fußfunktionen stark eingeschränkt werden. Das schadet dem Bewegungsapparat, zumindest wenn solche Schuhe über mehrere Stunden täglich getragen werden.
    Eine Alternative besteht beispielsweise in sogenannten „Barfußschuhen“ oder „Minimalschuhen“ oder eben beliebigem Schuhwerk, das Zehenfreiheit, Nullabsatz, Elastizität und taktilen Bodenkontakt ermöglichen.
  3. Beobachten und Probieren Sie! Schauen Sie sich Menschen an, die sich noch leicht, natürlich und geschmeidig bewegen können. Das können Kleinkinder sein, freie Tänzer oder andere Bewegungskünstler oder noch ursprünglich lebende Menschen. Vergleichen Sie mit Ihren Bewegungsmustern oder auch mit Menschen mit offensichtlich ungünstigen Bewegungen. (Im Internet gibt es beispielsweise ein große Auswahl an Bewegungsvorbildern, falls man etwas Bestimmtes sehen möchte) Probieren Sie einfach, wie es sich anfühlt, so wie X oder Y zu gehen und entwickeln Sie auf diese Weise Ihren persönlichen optimierten Bewegungsstil weiter.

Zum Thema Ballengang Lernen: Es gibt derzeit noch nicht viele kompetente Lehrer oder Therapeuten, die sich schon länger mit Ballengang beschäftigen. Noch immer ist das Bild des „orthopädischen“ Gangs vorherrschend, welcher das genaue Gegenteil des Ballenganges darstellt.

Neben Fachbüchern meiner Kollegen Dirk Beckmann und Dr. Peter Greb, die ich als recht unterschiedlich gestaltete Einstiegslektüre empfehlen kann, bietet beispielweise meine Webseite www.ballengang.de viele regelmäßig aktualisierte interessante Artikeln rund um das Gehen auch einen kostenlosen, 10-teiligen Emailkurs zum richtigen Ballengang Lernen. Den besten Lernerfolg bieten persönliche Intensivcoachings (über eine Länge von etwa drei Stunden) oder Wochenendseminare in Kleingruppen an, die in verschiedenen Regionen angeboten werden.

 

Die nächsten Seminare mit Stefan Heisel vom 13. bis 15. März 2015 in Berlin oder in Hannover vom 21. bis 22. Februar 2015.

Eine Übersicht aller Seminare 2015 finden Sie auf www.seminare.ballengang.de

Eine Antwort

  1. shumil
    Ein paar interessante Links dazu:

    Ich persönlich versuche meist, mir alles Interessante selbst beizubrigen, ohne Kurse oder Seminare – das Internet weiss ja alles.

    Näheres über den erwähnten Dr. med. Hans-Peter Greb:
    www … gesundheitlicheaufklaerung.de/godo-durch-den-ballengang-mit-dem-herzen-gehen

    Hier ein gutes Video, bei dem durch genaues Hinschauen sehr gut sehen kann, wie der Ballengang funktioniert:
    www … michaelditsch.de/bewegtsein-balance/barfuss.html

    Auch Sein.de schrieb schon vor einiger Zeit da drüber:
    www … sein.de/archiv/2014/mai-2014/entspannt-barfuss-unterwegs–die-wieder-entdeckung-des-ballengangs.html

    Wie ein Naturvolk weite Strecken ohne Ermüdung läuft:
    www … jaggedswords.files.wordpress.com/2011/03/tarahumara.jpg

    Es ist wie bei allem: es erfordert eine gewisse Disziplin, sich immer wieder daran zu erinnern, was man sich vorgenommen hat – das Ballengehen konnte ich mir selber aneignen, es hat aber viele Monate gedauert, weil ich es Aufgrund der Gewohnheit immer wieder vergessen habe.

    Aber es lohnt sich!

    Ein einfacher Tip, wie man die Bedeutung dieser Technik erkennen kann: verschliesse beide Ohnen leicht mit einem Zeigefinder und gehe mal drei Schritte auf den Hacken: man hört es richtig hammerhart durch das Skelett dröhnen!

    Und dann mal drei Schritte auf den Ballen: Sanftheit pur!

    Antworten

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*