Von der Gratwanderung zwischen Getragenwerden und Alleinsein

„Gerade die Vollkommenheit einer Beziehung zwischen zwei so gut aufeinander eingestimmten Wesen (wie Mutter u. Kind. D. Red.), die durch so viele fassbare und unfassbare Bande verbunden sind, bringt die Gefahr ernsthafter Störungen mit sich, wenn sie einmal „verstimmt“ ist.
Es genügt, wenn einer in der Dyade – meist wird es die Mutter sein – nicht mit der Umwelt harmoniert. Ihr formender Einfluss macht es unvermeidlich, dass ihre eigene Disharmonie sich in der Entwicklung des Kindes widerspiegelt – noch dazu gewissermaßen in einem Vergrößerungsspiegel.“
(Rene A. Spitz, Vom Säugling zum Kleinkind, 1945)

Vor ungefähr elf Jahren lag ich im Krankenhaus. Frühe Wehen, Blutungen, noch bevor ich so richtig verstanden hatte, dass ich schwanger war. Plötzlich hieß ich „immanenter Abort“ und befand mich auf einer emotionalen Achterbahn. Ich verließ die Klinik gegen ausdrücklichen ärztlichen Rat in der 15. Schwangerschaftswoche und ging nach Hause. Sollte doch das Kind entscheiden, ob es bleiben wollte oder nicht.
Der Vater meiner Tochter war natürlich ziemlich überrascht, als ich mitten in der Nacht auftauchte. Am nächsten Tag suchten wir gemeinsam nach einer Hebamme. Eine Hebammenliste, wie sie zumindest heute überall ausliegt, wo sich Schwangere bewegen, hatten wir beide noch nie gesehen. So fragten wir uns durch und die erste, die Zeit hatte, sofort zu kommen, wurde engagiert. Es hat funktioniert. Heike kam zur Tür herein und ich liebte sie. Dieser Glücksfall schien mir völlig normal.
Den Rest der Schwangerschaft verbrachte ich in einem Schonzustand, lag viel im Bett. Mit Hilfe der Hebamme und der liebevollen Unterstützung meines Partners konnte ich mich voll auf mich und das Kind konzentrieren.

Vertrauen und Geborgenheit

Clara ist zu Hause geboren. Entgegen allen Unkenrufen kerngesund. Zur Geburt eingeladen waren nicht nur die Hebamme, sondern auch meine Schwester, meine Schwiegermutter, meine Schwägerin und deren Freund. Die wahrscheinlich sinnlichste Erfahrung meines Lebens nahm ihren Lauf. Meine Initiation in die Weiblichkeit, geborgen in einem Kreis liebevoller Menschen.
Zwei Wochen Urlaub hatten sich meine Schwester und meine Schwiegermutter genommen, sie versorgten Haushalt und Kind, während der Vater den Behördenkram erledigte. Und ich? Ließ es mir gut gehen und freute mich an meiner Tochter.
Später, bei den ersten Kontakten mit anderen Müttern, wurde mir klar, dass, was für mich so selbstverständlich schien, eigentlich fast ein Luxus ist: Zeit und Raum in der Schwangerschaft zu haben, um die eigenen Ressourcen zu überprüfen und zu festigen – materielle Sicherheit, eine tragfähige Partnerschaft, eine souveräne Hebamme, die nur not-wendig eingriff und sonst „nichts“ tat, als das Vertrauen in meine Kraft zu stärken. Emotionale Unterstützung durch die Familie inklusive Rund-umversorgung.
Schnell habe ich mir abgewöhnt, davon zu erzählen. Weil viele so traurig wurden. Und neidisch.

Beim zweiten Kind ist alles anders …

Fünf Jahre später wusste ich, warum. Eine Schwangerschaft voll Ambivalenzen, körperlich „ohne Befund“, dafür in einer Trennungssituation, das Arbeitsverhältnis ungeklärt, die Hebamme unsicher, Familie und Freunde weit weg.
Die Worte „Das schafft sie nicht“ und „Hättest Dich mal besser entspannt“ blieben mir von der Geburt im Gedächtnis. Schmerzhaft. Gesprochen von der Hebamme, die mich zum ersten Mal sah und dem Vater, den ich unter Wehen massiert hatte.
Muss ich erwähnen, dass Ida oft weinte? Meine Gefühle zu ihr seltsam distanziert waren? Sie weder massiert noch gebadet werden wollte? Ich hatte oft gehört, dass beim zweiten Kind alles anders ist. Traurig begann ich, dies als Erklärung zu akzeptieren. Ich trug Ida fast ständig mit mir herum und stillte sie zwei Jahre lang. Das war uns beiden Trost.

Autos mit Augen

Auch Sexualität fand nicht mehr statt, zu fremd war ich in meinem Körper. Über ein Jahr nach Idas Geburt stand ich auf dem Dach und wollte nur noch fliegen. Autos blickten mich mit ihren Scheinwerfern liebevoll an und die Räder wurden zu Armen, die nach mir griffen. Stimmen drängten, mich doch endlich in diese Arme zu begeben, mich fallen zu lassen, geborgen zu sein. Endlich Ruhe zu finden. Ich bekam Angst. Und begab mich in die Psychiatrie.
Tabletten, ein labyrinthischer Weg in die soziale Isolation sowie unendlich viel Trauer waren die Folgen, von denen ich mich Jahre später erst langsam wieder erhole. Der Preis: eine lange und schmerzhafte Trennung von meinen Töchtern. Die Diagnose: Wochenbettdepression, zu lange unerkannt, mit psychotischen Zuständen. Endgültig erst so definiert, als ich wieder schwanger war. Letztes Jahr. Und mich im sechsten Monat in rasender Angst im Kriseninterventionszentrum Moabit wiederfand. Wo ich endlich die Hilfe erfahren habe, die für mich richtig war. Und wo das Rauchen im Aufenthaltsraum verboten wurde. Wegen der vielen Schwangeren.
Traumatisch, hormonell oder auch konstitutionell bedingte „Postpartale*) Depressionen“ (PPD) und -psychosen sind verbreiteter als man glaubt. Sie treffen die Frauen aber meist unvorbereitet und deshalb mit voller Wucht. Unerkannt und unbehandelt laufen sie Gefahr, chronisch zu werden oder jederzeit bei entsprechenden Anlässen neu auszubrechen. Die richtige Diagnose ist daher meist der erste Schritt zu Besserung und Heilung.

Ein neuer Abschnitt

Sebastian ist jetzt zehn Monate alt. Für die Geburt hatte ich wieder Heike als Hebamme gewählt. Ich habe es nicht geschafft, vor der Geburt all das loszulassen was mich ablenkte – vielleicht weil ich zu spät begonnen hatte, mit mir „schwanger“ zu sein. Und trotzdem denke ich getröstet und in Liebe an Sebastians Geburt, die im Krankenhaus endete. Und zwar, weil ich es so entschieden hatte. Nicht trotzig an meiner Hausgeburts-Idee festhalten musste. Weil zu jedem Zeitpunkt die Verantwortung bei mir blieb. Darauf wenigstens hatte ich geachtet. Darauf bin ich stolz.

Hilfe lauert überall

Seitdem balanciere ich auf einem schmalen Grat. Ich achte sensibel auf meine emotionalen Bedürfnisse. Ich versuche, die Wände nicht zu eng werden zu lassen, gehe nach außen. Ich spüre, wie die alten Wunden heilen. Überm Berg bin ich noch nicht. Ich bin dankbar, für alle, die mir den Rücken stärken. Und das sind diesmal vor allem fremde Menschen: Das AWO-Frauenwohnprojekt, ohne dessen Hilfe ich immer noch auf 25 qm leben würde; die türkische Großfamilie, die über mir wohnt und immer ein offenes Ohr und eine Tasse Tee für mich hat; die Haushaltshilfen vom „Weg der Mitte“; die Stiftung „Hilfe zur Familie“, von denen ich über die Caritas finanzielle Unterstützung erhalten habe; die ganz junge Frau, die unter mir wohnt mit ihrem Kleinkind und soviel erfrischend naive Leichtigkeit verströmt.
Ich bin mir selbst dankbar, die Fühler ausgestreckt zu haben. Kontakt aufgenommen zu haben zu anderen Müttern. Aus dem Musikgarten-Kurs nehme ich jede Woche eine Portion gute Laune mit nach Hause und wenn Sebastian seine Erkältung wirklich ganz überstanden hat, gehen wir auch wieder schwimmen.

Allein im Dschungel

Ich werde wütend, wenn ich all die rosaroten Seifenblasen sehe, mit denen Mutterschaft verkauft wird. Berühmte Models mit süßen Babies dekoriert entspannt in die Kameras lächeln, während Menschen vorwurfsvoll auf die ausgepowerte Frau blicken, die in der U-Bahn ihr Kind nicht beruhigt kriegt. Dann aber an der Treppe schnell vorbeigehen, um bloß nicht angesprochen zu werden wegen des Kinderwagens. So, wie man an den Leuten vorbeigeht, die mal nen Euro haben wollen. Menschen, die vor lauter „Abgrenzung“ nicht mehr merken, ab wann sie a-sozial werden. Die die Frau nach Hause schicken (wo sie gefälligst hingehört für immer und ewig, ein Leben lang), die mal kurz Urlaub machen wollte in ihrem alten Leben und mit dem Baby zu einer Veranstaltung gegangen ist. Weil es zu Hause immer enger wird. Und das Baby weint. Obwohl die Nachbarn sich schon beschwert haben. Und trotzdem niemand mit ihr spricht. In Erwachsenensprache.

Hinschauen lohnt sich

Verdammt, was kostet ein aufmunterndes Lächeln, ein Handgriff hier und dort? Wir alle profitieren doch von der ganz besonderen Ausstrahlung zufriedener schwangerer Frauen, einem Kinderlachen, dem überaus friedvollen Ausdruck eines schlafenden Babys. Wir alle gewinnen schließlich mit einer Generation vertrauensvoller, gesunder junger Menschen. Jede/r von uns sollte sie willkommen heißen und ihre Mütter als das betrachten, was sie – ganz ohne Pathos – sind: die BASIS neuen Lebens.

In diesem Sinne also: Kein Geburtsgeschenk passt seltener als Babyklamotten. Schenkt Eurer Freundin, Eurer Tochter, Schwester, Nachbarin statt dessen lieber Zeit, dreht ein paar Runden im Park mit dem Lütten, schnappt Euch den Staubsauger, schenkt Massagen, Begleitung oder irgendeinen schönen Kurs. Oder ein gutes Mittagessen. Am besten im Abo. Vergesst nicht, dass sich hinter der jungen Mutter auch immer noch die Frau verbirgt, die ihr von früher kennt: die ins Theater will, lachen will, ihre Arbeit liebt, Workshops besuchen möchte. Erinnert sie ab und zu daran. Sonst vergisst sie es vielleicht.


Information:

Nützliche Kontakte: www.umstaendehalber.de – für Frauen in Trennungssituationen
LebensNetz e.V. – für die ganz jungen Mütter, Tel.: 030 – 7986 962 08
Initiative Regenbogen „Glücklose Schwangerschaft“ – für Eltern, die ihr Kind vor, während oder kurz nach der Geburt verloren haben, Tel.: 030 – 77 84 31 51
Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V. – Tel.: 030 – 695 97 86, www.vamv.de
Schatten & Licht – Krise nach der Geburt e.V., siehe Infokasten!

*)(lat.: post = nach, partus = Niederkunft)


Abb.: ©Katharina Meewes

Eine Antwort

  1. juhuu

    Hallo,
    Mit Interesse habe ich den Artikel gelesen.

    Wer erkennt ! Dass psycotische Zustände eventuell ihren Ursprung in der Geburt der zwei Kinder liegen? Und diese Geschichten einfach nicht verarbeitet sind bzgl angst etc…

    Gibt es da anlaufstellen? Ausser den gängigen Psychiatern…

    Viele Grüsse

    Antworten

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