Wie ich den großen Abschied in meinen Alltag ließ und Bestatterin wurde….

von Anja Beitz

Als ich vor Jahren von einem Bekannten und Trauerredner gefragt wurde, ob ich Bestatterin werden wollte, kroch Angst meinen Nacken hoch bei der Vorstellung, unbekannte verstorbene Menschen zu berühren oder mich in düsteren Krematorien, Pathologien und Krankenhäusern aufzuhalten. Obwohl ich keine Horrorfilme schaue, tauchten entsprechende Bilder auf, die wir mit dem Tabuthema „Sterben und Tod“ in unserer Kultur oft verbinden: Wesen wie Vampire, Zombies oder irgendwelche anderen außer Kontrolle geratenen Geschöpfe lösen Angst, Verstörung, Schrecken aus und traumatisieren und bedrohen das Leben derjenigen, die ihnen zu nahe kommen. Der Redner beruhigte mich. Bestatter müssten heutzutage nichts mehr mit Leichen zu tun haben. Es gäbe Bestattungsfuhrwesen, die das übernehmen. Man könne Angehörigen darüber hinaus natürlich auch einfach raten, ihre Lieben „in guter Erinnerung zu behalten“ und es damit belassen.

Doch er halte meinen therapeutischen Hintergrund, meine langjährige Erfahrung im Umgang mit Menschen in herausfordernden Situationen und meine gelebte Spiritualität genau dann für wertvoll, wenn es darum geht, Angehörige und ihre Verstorbenen liebevoll zu begleiten. „Vielleicht könntest du etwas mehr Licht ins Dunkle bringen“, so seine ermunternde Aussage.

Den Abschiedsprozess unterstützen

Menschen darin zu unterstützen, Erfahrungen zu machen, die ihnen gut tun – mein Herz schlug freudig, mein Bauch brummte und mein Pioniergeist wurde wach. Die Fragen überschlugen sich: Bestatter haben nichts mit den Verstorbenen zu tun? Aber sie sind doch neben den Angehörigen Mittelpunkt der Begleitung! Wer sonst kümmert sich denn um die Seelen, damit sie einen guten Übergang finden, besonders für jene, die zum Beispiel im Schock wie bei einem Unfall oder Mord sterben? Brauchen wir nicht alle gerade in nicht alltäglichen Lebenssituationen wirklichen seelischen Beistand?

Was ist mit Menschen, die den unsterblichen Aspekt unseres Seins nicht für wahr halten? Würden sie nicht orientierungslos sein auf ihrem Weg? Wie empfinden es Angehörige, wenn der geliebte Mensch als Sache behandelt wird? Wenn der Verstorbene einfach plötzlich aus ihrem Sichtfeld verschwindet und später als Asche in einer Urne wieder auftaucht? Was ist mit der Lücke, die da entsteht im Herzen der Menschen? Wie geht es Menschen, die, wie ich, ihre Spiritualität auch im Abschiedsprozess leben wollen?

Der Tod meiner Großmutter

Erinnerungen an den Abschied von meiner Großmutter tauchten auf. Wie hilflos ich damals war und nicht wusste, was ich tun sollte. Ich, die nie zuvor einen toten Menschen gesehen hatte. Niemand fragte mich, was ich wirklich brauchte, was ich fühlte. Das war keiner, der mir half herauszufinden, was richtig für mich war. Da gab es nur das Gesamtpaket des Bestatters, das die Familie gekauft hatte. Ja! Ich wollte Oma noch einmal sehen, ihr noch etwas sagen, sie streicheln und ihr ihre Lieblingsblumen mitgeben auf die Reise, die ihre Seele längst angetreten hatte. Wie erschrak ich, als Oma in einem weißen Leichenhemd mit geschminktem Gesicht vor mir aufgebahrt lag, in einem Raum mit künstlichen Pflanzen und Musik, die nicht meine war. Zwanzig Minuten hatte ich Zeit, Abschied zu nehmen. Ich war verwirrt und überfordert. Das war nicht meine Großmutter!

Sie war Zeit ihres Lebens eine naturverbundene Frau, die nie geschminkt war oder Weiß getragen hatte. Gleichzeitig konnte ich nicht den Blick von ihr wenden, musste ihre schönen alten, vom Leben gezeichneten Hände in meine nehmen, ihre Wangen streicheln. Ich musste sie auch jetzt lieb haben, so wie immer, auch wenn ihr Körper sich schon verändert hatte, die sich verdunkelnden Spitzen ihrer Finger, die Gesichtshaut, ihr Haar. Ich sank in mich zusammen und akzeptierte, was war, alles andere hätte doch nichts geändert. Ungelebte Trauer der Vergangenheit bahnte sich damals ihren Weg in mein Bewusstsein. Die Tränen taten so gut, sie tropften auf Blumen, Leichenhemd und meinen geblümten Rock, den Oma immer so an mir geliebt hatte. Allmählich wurde ich still. Es wurde still. Ich musste lächeln. Wie gut war es jetzt, allein zu sein. Und dann… spürte ich eine Energie, die den ganzen Raum erfüllte. Wärme, die ich jedoch nicht als Temperatur empfand, die mich liebevoll umgab und mich zugleich durchströmte. Zart und fein berührte sie mich auf eine Weise, die keinen Ort hatte und die neu für mich war. Ich fühlte mich zutiefst geliebt und getröstet. Das war Oma. In mir tauchten Wort-Gedanken auf: „Alles ist gut, mein Kind.“ Langsam stand ich auf und ging. Gefühlt hatte ich drei Stunden bei Oma gesessen, die Zeit war stehengeblieben.

„Übernatürliche“ Kommmunikation

Diese Erfahrung prägte mein Leben und später meine Arbeit zutiefst. Oma ist nie aus meinem Leben gegangen. Wir haben einfach die Ebene unserer Kommunikation gewechselt. Gespräche haben wir seither immer wieder geführt. Ich habe mit ihr geteilt, was mir wichtig war, habe ihr meine Männer vorgestellt und Jahre später meine Kinder. Ich habe sie um Hilfe gebeten, wenn ich nicht mehr weiter wusste, und immer auf irgendeine Art und Weise „Antwort“ erhalten. Oft einfach über Synchronizitäten – und das so häufig, dass es zunehmend unwichtiger wurde, ob andere mir glaubten. Denn als Kind, das erinnerte ich, war es so klar, dass es Wesen und Dinge gibt, die ich nicht anfassen, hören oder mit den Augen sehen konnte und die dennoch existieren. Als ich mit den Großen darüber sprach, verlor ich allmählich meine Sicherheit, da sie mir vermittelten, das da nichts sei und ich mir alles nur einbildete. Mit Omas Tod begann ein neuer Lebensabschnitt für mich. Die geistige Welt kam mir wieder näher.

Alternatives Bestatten

Sollte ich also vielleicht Bestatterin werden? Ich schaute den Spielfilm „Noka – die Kunst des Ausklangs“, der in dem Hauptdarsteller einen Menschen portraitiert, der sich genau mit den gleichen Fragen auseinandersetzt, wie ich es gerade tat. Zu Tränen gerührt von diesem Film, fühlte ich eine große Wahrhaftigkeit im Tun der dargestellten Menschen und eine tiefe Hingezogenheit zu diesem Umfeld. Ich beschloss, mich wieder einmal, wie so oft in meinem Leben, meinen Ängsten zu stellen, der inneren Stimme zu folgen und den Bildern meiner Psyche auf den Grund zu gehen. Von da an gingen neue Türen in meinem Leben auf. Ich begann ein Praktikum bei einem alternativen Bestatter, schaute mir Pathologien, Krematorien und Bestattungsfuhrwesen von innen an. Schritt für Schritt tauchte ich ein in das Feld des alternativen Bestattens. In der Zeit, die ich dafür brauchte, machte ich neue Erfahrungen.

Ich wusch und ölte die Körper Verstorbener, versorgte ihre Wunden, zog ihnen ihre Lieblingskleidung an, kämmte ihr Haar, schmückte sie mit Blumen. Ich sprach mit ihnen, teilte mit ihnen, was ich tat, sang oder summte Lieder, ganz so, wie es einfach aus meinem Herzen kam. Jedes Mal aufs Neue fühlte ich nach der ersten Aufregung Liebe und einen tiefen Frieden – so wie es mir beim Abschied von meiner Oma ergangen war.

Die angeborene Königswürde zurückgeben

Ja, ich wollte Bestatterin werden. Und es war klar: Nur wenn ich wirklich alle damit zusammenhängenden Ängste überwinden würde, könnte ich Vorangehende sein. Und die Erfahrungen wurden herausfordernder. Wenn ein Mensch durch Unfall oder Selbstmord ums Leben gekommen war, umgab ihn ein anderes Energiefeld, mit dem ich mich auseinanderzusetzen hatte, als wenn ein Mensch friedlich gestorben war. Es gab immer wieder Anblicke und Gerüche, die herausfordernd für meinen noch wertenden Verstand waren. Doch ganz gleich, wie die Fürsorge begann: Die Verstorbenen bekamen alle die uns angeborene Königswürde und menschliche Schönheit zurück. So lernte ich nicht nur fürs Fach, sondern Grundsätzliches über die metaphysischen Zusammenhänge des Seins. Ich musste mein begrenzendes Urteilen des Verstandes als Ursache der bisher als unschön erlebten Erfahrungen anerkennen. Wie konnte es sonst sein, dass ich am Beginn dieser Arbeit in Angst und dann immer mehr in Liebe war?

Geleit auf der Seelenebene

Zu diesen neuen Erfahrungen nahm ich zugleich immer öfter – wenngleich nicht immer – diese Wort-Gefühls-Gedanken wahr, so wie damals bei Oma. Manchmal waren es Fragen, manchmal Bitten, wie von den Verstorbenen an mich gerichtet. Die alte Verunsicherung meiner Kindheit tauchte auf. Bilde ich mir das ein? Was sollte ich mit diesen auftauchenden Dialogen machen? Andererseits konnte ich niemanden schaden, wenn ich eine Frage und Aufforderung wie: „Habe ich etwas falsch gemacht in meinem Leben? – Bitte hilf mir!“ aus meinem Herzen heraus beantwortete: „Du hast dein Bestes getan“, „Nimm an, was geschehen ist“ oder „Geh ins Licht“ oder „Es hätte nicht anders sein können, weil es so gewesen ist“.

Dann entspannte sich oft sichtbar etwas im Energiefeld der Verstorbenen. Manchmal drängten sich mir auch Worte wie ein Gebet auf, das gesprochen werden wollte. In meiner heutigen Kollegin B. Gilli, bei der ich weiter in die Lehre ging, hatte ich ein Gegenüber, das meine Wahrnehmung bestätigte, weil sie es in all den Jahren als Bestatterin oft selbst erlebt hatte: eine Veränderung der Atmosphäre im Raum, wenn Verstorbene Wertschätzung und auch auf der Seelenebene Geleit erfahren. Manchmal „hör-fühlte“ ich Fragen, die sich konkret auf die Familiensituation des Verstorbenen bezogen, oder Bitten, Angehörige in etwas zu bestärken. Im Gespräch mit den Angehörigen bestätigten sich diese Aussagen oft. Oder sie regten neue Sichtweisen in Bezug auf den Verstorbenen oder auf die Beziehung zu ihm an. Manchmal halfen sie Frieden zu finden, wenn die Verzweiflung sehr groß war.

Das Teilen meiner Erfahrungen machte dann Mut, eigene erlebte Phänomene rund um die Beerdigung anzuerkennen und nicht als Phantasien abzutun. Mitten im Winter flog beispielsweise einmal am Grab während der Trauerrede ein Tagpfauenauge herum, also ein Schmetterling, ein Wesen, das im Winter nicht überleben kann. Allen Anwesenden verschlug es die Sprache, weil sie spürten: Hier geschieht etwas, was mit der Logik des Lebens nichts zu tun hat. Ein Mann rief auf einmal laut für alle: „Schaut – ein Gruß von Siggi.“ Während einer anderen Beerdigung, dem Abschiedsweg einer alten Dame, kippten ständig Dinge um und eine Fensterscheibe zersprang. In der Trauerrede vorher wurde nur die plattpositive Seite angesprochen und nicht auch jene Facette der Dame, die anderen das Leben sehr erschwert hatte. Die Beisetzung in der Friedhofskapelle fühlte sich schwer wie Blei ist an. Erst als eine Anwesende es wagte, nach vorne zu gehen, und auch die andere Seite der Dame würdigte und nicht als schlecht ausschloss, kehrte spürbar Frieden im Raum ein – so, als hätte die Verstorbene endlich loslassen können, was ihr vorher ohne die Anerkennung ihrer ganzen Persönlichkeit nicht möglich war. Einen ehemaligen Postboten konnten wir dagegen nicht beisetzen, weil wichtige Dokumente verloren gegangen waren. Erst als beim Aufräumen seiner Wohnung ein Schrank mit nicht verteilten Briefen gefunden wurde, fanden sich auch seine persönlichen Dokumente ein.

Der Tod als natürlicher Pol des Lebens

Ich kann mir keine schönere Arbeit mehr vorstellen, mit all ihren Herausforderungen. Das ist Leben. An meine Grenzen komme ich mit der Starrheit der Bestattergesetze, die unseren heutigen Bedürfnissen nicht mehr dienen. Der Tod ist für mich Teil des Lebens, der Gegenpol von Geburt, nicht das Ende. Ich halte es für unabdingbar, Altern, Krankheit und Schmerz als Aspekte des Lebens anzuerkennen. Sie sind neben der Freude und Leichtigkeit Ausdrucksformen von Leben. Übertreiben wir den einen Pol, lehrt uns das Leben, zurück in die Mitte zu finden. Die Natur zeigt in all ihren Formen Wandel und Vergänglichkeit. Auch wir sind Natur, sind wie alles Leben Bewusstsein in Körpern. Wenn uns unser physischer Leib nicht mehr dient für unser Leben hier, geben wir ihn der Erde wieder und kehren dorthin zurück, woher wir einst kamen. Unsterblich.

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