Ein Ausflug in die natürliche Bewegungs- und Ausdrucksfähigkeit unseres Körpers

von Karin Paul

Im Urlaub habe ich vor Jahren einen etwa 5-jährigen Jungen in Cadiz beobachtet. Er steht vor einem großen Brunnen. Der wasserleere Brunnen sieht aus wie eine Obst-Etagere mit vier riesigen, steinernen flachen Schüsseln. Er scheint zu überlegen, wie schön es wäre, auf dem obersten Teller zu sitzen und Leute zu beobachten. Ich sehe förmlich, wie dieser Wunsch in ihm aufsteigt. So beginnt er, geschickt wie ein Wiesel den Brunnen zu erklimmen. Leicht und mühelos sieht es aus, wie selbstverständlich setzt er beide Arme an einen Schüsselrand, hangelt ein Bein geschickt nach und zieht den ganzen Körper hinterher. Er kommt sicher oben an, ohne eine Spur von Zweifeln. Er und ich hatten nicht eine Sekunde Angst, dass er runterfallen könnte, es war reine Faszination.

Das Wunder der Bewegung

Diese Faszination hält für mich heute noch an. Mein Wunsch ist es, diese Bewegungsfähigkeit für uns erwachsene Menschen wieder erfahrbar zu machen. Es begeistert mich schon mein ganzes Leben, wie Menschen sich bewegen können, wo die Leichtigkeit einer Ballerina herkommt und vor allem der Spaß an der eigenen Beweglichkeit. Ballett und Volkstanz während der Studentenzeit, viel später Jazztanz, Callanetics, Pilates, Yoga, Cantienica-Übungen, Erfahrung von Tanz in verschiedenen Stilen – aus all dem entstanden die Prinzipien, die ich im Folgenden vorstelle. Mit Beginn meiner nebenberuflichen Arbeit als Trainerin vor 18 Jahren bekam ich ein Gespür für Bewegungsabläufe und Übungen, begannen sich diese in mein aktives Bewusstsein zu verankern. Meine innere Wahrnehmung ließ mich quasi meinem Skelett bei der Arbeit zusehen. Heute entstehen Übungen aus mir heraus in einer ganzheitlichen Art und Weise. Jedes Training zeigt mir, wie facettenreich das Wunder der Bewegung in seiner höchst individuellen Form ist.

Laufen wie eine Gazelle – wie geht das?

Benita Cantieni (1) provoziert in ihrem Buch „Catpower“ : „ Die gute Nachricht: Sie besitzen ein echtes Meisterwerk, Ihren Körper. Die schlechte Nachricht: Sie haben wenig, sehr wenig bis keine Ahnung, wie dieses Meisterwerk behandelt werden will, damit es 100 Jahre funktionieren, damit es Ihnen jeden Tag Ihres Lebens Freude und Wohlbehagen schenken kann. Ihre Haltung im Moment ist eine mehr oder weniger körperfreundliche Gewohnheit, nicht Ihre Natur. Die Beschwerde im Fuß, im Knie, im Hüftgelenk, die Schmerzen im Kreuz, in den Schultern, im Handgelenk – alles hausgemacht.“

Die gute Nachricht ist, die „Gebrauchsanweisung Körper“ ist kein Buch mit sieben Siegeln. Als kleines Kind wissen wir intuitiv wie es geht, wie es sich anfühlt, leicht und beschwingt durch den Alltag zu gehen. Der ganze Körper lacht und weint, aus Freude wird der Weg im Zickzack gelaufen.

Und der Erwachsenen-Alltag?! „Ist wieder erlernbar“, sagt Dr. Ingo Froböse (2) und spricht dabei von „Bewegungskompetenz“. In seinem Körper zu Hause zu sein bedeutet, die anatomischen, physikalischen, natürlichen Tricks und Hebel, die unseren Körper schonend und effektiv bewegen, die uns gesund alt werden lassen, unbewusst wieder zu wissen, dieses Wissen als eigene Ressource zu fühlen. Damit wird das Klettern auf eine Leiter zu einer sicheren Angelegenheit.

Das wir dieses überhaupt verlernen, liegt an der Natur selbst und an den Bedürfnissen unserer technisierten, modernen Gesellschaft. Es gibt kein Gen oder keinen Reflex, der uns zur Bewegung existenziell zwingt. Mutter Natur konnte nicht ahnen, dass wir Menschen einmal unserer Nahrung im weitesten Sinne nicht mehr hinterherlaufen, sondern diese uns hinterhergelaufen kommt. Aus diesem Grund wird die Bewegung – einmal abgewöhnt – nicht mehr wirklich vermisst. Im Prinzip leben wir nicht artgerecht, sind unseren wirklichen körperlichen Bedürfnissen entfremdet.

Was dürfen wir also wieder erlernen, uns erinnern, welche Bewegungsaspekte spielen eine Rolle, um die obige Frage zu beantworten?

1. ein starker Beckenboden

Der Beckenboden bildet das Fundament unserer Beweglichkeit. Er ist für die Stand- und generell für die Festigkeit zuständig und hält die inneren Organe an ihrem angestammten Platz. Mit Hilfe des Beckenbodens können wir das Kraftzentrum unseres Körpers aktivieren. Unbewusst geben wir unserem Gehirn die Information von Sicherheit. Bei Pilates wird das Kraftzentrum als Powerhaus bezeichnet. Dieses Fels-in-der-Brandung-Gefühl im unteren Körperbereich erlaubt uns, den Oberkörper loszulassen und die Schultern aus der Spannung zu nehmen.

2. die Tiefenmuskulatur

Eigentlich funktionieren die tiefen Muskeln, die Haltemuskeln von alleine. Bei Nichtgebrauch der großen Muskeln erschlaffen diese auch, mit ebenso fatalen Folgen für den Halt der Organe im Körper. Unsere Haltemuskulatur ist dringend vonnöten, damit – lapidar ausgedrückt – das Skelett nicht zusammenfällt und das eigene Gewicht getragen wird.

3. das Aufspannen

Unsere Bewegungselemente besitzen eine Grundspannung, die dem Körper befähigt, sofort loszulegen, wenn es schnell gehen soll. Diese Spannung ist natürlicherweise da, hält in Ruhe das Gleichgewicht. Auch die von Flüssigkeit ernährten Gelenke werden optimal versorgt. Ohne Spannung ist die Bewegungsarbeit immens schwer, da das Eigengewicht belastet und auf die Strukturen drückt.

4. Rotationen

Aufspannung und Rotationen erlauben dem Körper sich spiralisch zu bewegen. Gegenläufige Bewegungen in einem Körperteil und im Ganzen sind das Geheimnis von effektiver und leichter Funktionalität. Unsere Wirbelsäule zeigt es deutlich, sie ist besonders auf spiralische Bewegungen angewiesen. Das Aufspannen hält die knöchernen Wirbelkörper im „Abstand“, was die Bandscheiben entlastet. Auch unsere Muskeln drehen sich leicht spiralisch um die Knochen herum.

5. Dehnen

In einer Welt voller Kraft brauchen wir wieder die Entspannung aller Strukturen, also dehnen, am liebsten mit drei e geschrieben. Es gelingt umso besser, je mehr aus einem aktivem Prozess ein passiver wird. Stellen sie sich vor, Magnete sind an den Wänden, die sie links und rechts sanft aber stetig ziehen. Wir bleiben stehen und geben dem Zug genussvoll nach. Die Schwerkraft der Erde wirkt ebenso, wenn wir unser eigenes Körpergewicht loslassen. Hier ist das Zulassen bzw. Loslassen von Spannung ein wichtiger Aspekt. Gegenspannungen und Vermeidungshaltungen können dann nicht mehr entstehen.

Diese 5 Bewegungselemente in einzelnen Übungen vereint, schaffen ein Gefühl von Ganzheitlichkeit – körperlich, psychisch und mental.

Schauen wir noch einmal nach Cadiz: Das Hochklettern des Jungen war von außen eine rein körperliche Aktivität. Dass er es überhaupt gemacht hat, eine Willensfrage, ein Wunsch – etwas in ihm hat Belohnung versprochen, einen Gewinn an Freude und Lust. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Kraft war vorhanden, keine Angst. Sonst hätte er um Hilfe nach Mama oder Papa gerufen.

Gebrauchsanweisung Körper

In diesem Fall wurde der Körper als funktionelle Einheit aktiv, wie dies grundsätzlich beim Gehen, Rennen oder anderen Interaktionen mit der umgebenden Welt der Fall ist. Die Effektivität von Energie entsteht, wenn wir uns mit unserem Kraftzentrum, der unteren Körpermitte, verbinden. Die Wahrnehmung unseres Kraftzentrums bringt nicht nur die körperlichen Strukturen wieder ins Gleichgewicht, sondern gleicht damit das Ungleichgewicht im Denken und den Emotionen aus. (3) Die Reduzierung unserer Beweglichkeit auf den reinen „Nutzen“ wird unserem natürlichen Wesen nicht gerecht. Wir sind als Menschen eine physische Einheit! Unsere Gedanken und Gefühle beeinflussen unser körperliches Verhalten ebenso wie unser Bewegungsverhalten Einfluss auf unsere körperliche und geistige Verfassung hat. Damit haben wir den Schlüssel für die „Gebrauchsanweisung Körper“ praktisch in der eigenen Hand. Je mehr wir anfangen, uns auf Bewegung einzulassen, umso mehr entsteht Vertrauen, Kraft, Leichtigkeit und die Freude an und in die eigenen Fähigkeiten. Also lieber einmal mehr die Treppe rauf und runter!

Erinnern wir uns daran, wieviel Lust und Spaß die körperliche Bewegung macht, bekommen wir ein Gefühl vom Gewinnen. Das ist im Leistungssport selbstverständlicher Trainingsalltag. Die Vorstellung der Goldmedaille, das Jubeln auf dem obersten Treppchen darf in der Vorstellung immer wieder gefühlt werden. Mit dem Visualisieren eines Zieles entwickelt sich ein Glaube an die eigene Kraft und das eigenen Können, innere Zweifel verschwinden. Das dürfen wir im alltäglichen Leben ebenso anwenden. Ein Beschränken auf Vermeiden von Schmerz und körperlichen Symptomen reicht also nicht wirklich, unseren Bewegungsantrieb in Fahrt zu bringen.

Ausdruck und Kommunikation durch Bewegung

Besitzt Bewegung oder eben Nichtbewegung eine kommunikative Funktion? Die körperliche Ausdrucksfähigkeit ist weitaus älter als unsere Sprache, die vom jüngsten Gehirnteil, dem Cortex, gesteuert wird. Unser Körper möchte sich von Natur aus ausdrücken und erzählt ständig seine Geschichte. Menschen auf der ganzen Welt, können die Emotionen anderer lesen, die Körpersprache ist universal. Wenn wir von Herzen lachen, bis der Bauch wackelt, wird kein Mensch auf die Idee kommen, dass derjenige traurig wäre. Wie wir uns fühlen, zeigt unser Körper – ob wir das wollen oder nicht. Meine Schwester haute mal ganz treffend raus: „Da sind die Leute im Urlaub und haben ihrem Gesicht vergessen, dass zu sagen.“ Der Körper lügt nicht.

Wie stark der Wunsch nach körperlichem Ausdruck sein kann, erlebte ich selbst im Dezember 2021: Ein wunderbar, bis zum Boden beleuchteter großer Weihnachtsbaum stand im Zentrum von Königs Wusterhausen, ein Zeichen des Friedens in einer gerade sprachlos gewordenen Zeit. Diese Stimmung berührte mich so tief, dass ich meine Musikbox nahm, mich warm anzog und an diesem Platz zu tanzen begann. Getragen von Musik erzählte ich Geschichten von einer einsam liebenden Frau, von der Hoffnung auf eine glückliche Zeit. Menschen blieben stehen, wir fühlten uns verbunden.

Schon die Frage „Wie geht es dir?“ berührt…

Sie hat viel damit zu tun, wie „gehest“ du durch das Leben? Permanent verspannte Schultern, ein runder Rücken, ein hängender Kopf zeugen von einem Leben mit Last, voll Sorgen und Angst. Ein strahlender Mensch, aufgerichtet und voller Lebensfreude verbreitet gute Laune. In diesem Sinne lade ich ein zu beobachten, welche Ausstrahlung zeige ich, was sehe ich an anderen – das ist mehr als spannend.

Der Muskel als Stoffwechselorgan

Die Internistin Bente Klarlund Pedersen (4) entdeckte 2008 in einer Reihe von Blutproben, die nach intensiver sportlicher Bewegung abgenommen wurden, Stoffe, die es vorher nicht gab. Erstaunt begann sie diese Stoffe zu untersuchen. Sie gab ihnen den Namen Myokine. Die Wirkung auf den gesamten Stoffwechsel ist enorm, u. a. versorgen sie das Gehirn besser mit Sauerstoff. Das Fettgewebe wird reduziert, die Bauchspeicheldrüse arbeitet effektiver – mit Fug und Recht wird der Muskel damit zu einem Stoffwechselorgan. Somit gelang der wissenschaftliche Nachweis, wieso es sich im Laufen besser lernt, wir nach einer angenehmen Bewegungseinheit oft gehobener Stimmung sind – wir laufen dann einfach wieder rund. Die wesentliche Aufgabe unserer Zeit besteht mit darin, uns dieses Bewusstsein wieder zu erobern.

Karin Paul

Quellenverzeichnis:

  • (1) Benita Cantieni, Catpower – Das ultimative Körperbuch, Südwest-Verlag, 2009, S. 7
  • (2) Prof. Dr. Ingo Froböse, geb. 18.3. 1957, Sportwissenschaftler und Gesundheitsexperte, Universitätsprofessor für Prävention und Rehabilitation im Sport an der Deutschen Sporthochschule Köln
  • (3) sinngemäß nach Mabel E. Todd, Der Körper denkt mit, Anatomie als Ausdruck dynamischer Kräfte, 3. unveränderte Auflage, Verlag Hans Huber, 2009, S. 27
  • (4) Prof. Dr. Bente Klarlund Pedersen, geb. 8.11.1956, Internistin und Forscherin, Reichshospital Kopenhagen

 

Auf dem Foto: Karin Paul in Bewegung

Karin Paul ist Dipl. Kulturwissenschaftlerin, Heilpraktikerin, Tanztherapeutin, Trainerin und Tänzerin.

Sie übt sich, aus übernommenen Rollen herauszukommen und ihre eigene Wahrheit zu leben.

Über das Studium der Kulturwissenschaften, der Leitung eines Literaturmuseums, der Arbeit im Personalbereich einer Bank (ab 1990) fand sie nach der Heilpraktikerausbildung (Zulassung 2008) zur Tanztherapie (Abschluss 2014). Seit 2006 arbeitet sie als nebenberufliche Trainerin und Tänzerin.

Sie absolvierte eine Ausbildung zum Mindsetcoach-Practioner bei Christian Bischoff. (Juli 2024) und bietet Workshops und Vorträge zum Thema Bewegung als Lebenselixier an.

Derzeit baut sie ein Geschäftsfeld für Bewegung und Coaching auf.

Körpertraining Bewusst findet montags und donnerstags in Königs Wusterhausen/Wildau als laufender Kurs statt.

Termine für Bewegungs- und Wohlfühlwochenenden:

28. – 30. März 2025 Heringsdorf, Usedom

10. – 12. Oktober 2025 Heringsdorf

Egosano – Vitalberatung und -training

Potsdamer Straße 74, 15711 Königs Wusterhausen

Mehr Infos und Kontakt:

Telefon: 0171 3176385

karin.paul@egosano.de

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