von Kolja Güldenberg

Das Aufweichen alter Rollenbilder ermöglicht uns in unserer Kultur eine immense individuelle Freiheit und vielfältige Wahlmöglichkeiten, unsere Beziehungen zu gestalten. Aber wie frei sind wir innerlich und äußerlich tatsächlich? Und wie liebes- und beziehungsfähig?

Es ist eine wahre Kunst, in sich die Voraussetzungen für eine Partnerschaft zu schaffen, in der Nähe und Distanz, Freiheit und Bindung harmonisch balanciert sind. Und zwei Menschen allein sind damit oft überfordert. Die beiden Anthropologen Nena und George O´Neil beschreiben in ihrem Buch „Die offene Ehe“ bereits 1972 die Grundlage für eine reife Beziehung als ein „offenes, sich ausdehnendes Energiesystem“, welches andere mit einbezieht und „durch Gemeinschaft mit anderen wächst“.

Wie kann das praktisch aussehen und welches sind die Voraussetzungen für eine solche Partnerschaft?

Ich selber lebe seit fünf Jahren in einer offenen Ehe. Wir sind verheiratet und haben gemeinsam eine kleine Tochter, die ich über alles liebe. Unsere Partnerschaft erfüllt mich mit Zärtlichkeit und nährt mich tief. Gleichzeitig stellen wir uns diversen Herausforderungen und wachsen gemeinsam an unseren Auseinandersetzungen: Wer bekommt wie viel Raum und Zeit für seinen Beruf, seine Freunde, seine spirituelle Praxis und seine Hobbies? Wie teilen wir uns sinnvoll und gerecht die Fürsorge für unser Kind auf? Bei diesen Fragen kann es schnell mal grundsätzlich werden und auch zwei Trainer für gewaltfreie Kommunikation können da leicht mal den Humor verlieren.

Die wichtigsten Zutaten zum Gelingen einer erfüllenden Partnerschaft Vertrauen & Commitment: Für mich ist es vor allem die Gewissheit, dass wir uns gegenseitig nicht mehr verlassen, die mir eine tiefe Ruhe gibt und mein Vertrauen stärkt.

Selbstliebe & Selbstverantwortung: Das bedeutet, die eigenen Muster und Schmerzpunkte zu kennen und liebevoll für sich selber da zu sein. Gut mit mir allein sein zu können und mich so anzunehmen und zu mir zu stehen, wie ich bin. Dadurch kommt eine tiefe Würde zurück und die eigenen Wunden im Selbstwert können heilen. Ich übernehme selber die volle Verantwortung für mein Genährtsein und werde kreativ im Erschaffen von Möglichkeiten, Perspektiven und Freundschaften, um für die eigenständige Erfüllung meiner Bedürfnisse zu sorgen.

Anteilnahme & Unterstützung: Es ist Ausdruck meiner Liebe, dass ich mich freue, wenn es meiner Partnerin gut geht. Die Basis unserer Beziehung ist Freundschaft und gegenseitige Unterstützung im persönlichen Wachstum.

Ehrliche, empathische Kommunikation und die Bereitschaft unsere auch unangenehmen Gefühle zu fühlen und diese in den Kontakt zu bringen: „Ich bin nicht verantwortlich für deine Gefühle, aber ich bin dir ein Gegenüber und bleibe in Verbindung.“ Das schafft Raum und lässt alte Wunden und Verletzungen heilen. Ich kann den anderen sehen und mir gleichzeitig selber treu bleiben.

Gemeinschaftliches Umfeld: Verschiedenste Bezugspersonen, Freunde und geliebte Menschen, die ebenso wie wir an innerer Heilung und Alltagstauglichkeit (mit Kindern) offener Beziehungsformen forschen und mit denen wir im intensiven Austausch stehen.

Als Mann brauche ich andere Männer. Der Austausch und die Freundschaft mit anderen Männern nährt in mir Seiten, die mir Frauen nicht erfüllen können: eine tiefe Sehnsucht nach Heimat im Gleichgeschlechtlichen, nach liebevoller und herausfordernder „Bruderschaft“, Väterlichkeit und gegenseitiger Solidarität.

Durch die oben beschriebenen Punkte hat sich auch unsere Eifersucht auf andere Bezugspersonen weitestgehend aufgelöst oder sogar in Anteilnahme und Mitfreude verwandelt.

Wir folgen beide temporär unserer erotischen Anziehung zu anderen und bauen auch hier verbindliche und intime Beziehungen auf. Das bereichert unsere Beziehung. Gleichzeitig haben wir beide immer wieder aktiv den Fokus auf gemeinsamer Zeit und der Pflege unserer erotischen und geistigen Verbindung. Letztendlich erleben wir unsere Beziehungsreise als eine wunderbare Reise zu uns selber.

In unseren Eheringen ist der Satz „In Liebe und Freiheit“ eingraviert. Eine gute Erinnerung, wenn doch mal die (innere) Verbindung verloren geht.

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