Homöopathische Antworten am Puls der Zeit

von Werner Baumeister

 

In einem Buch über neue homöopathische Arzneien, die ein Apotheker auf seiner Amazonasreise 2002 hergestellt hatte, wurde ich aufmerksam auf den Amazonas-Raubwels. Er wurde homöopathisch erstmals im Jahre 1900 bei der erfolgreichen Behandlung von Krampfadern beschrieben, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden. Versenkung ist hier das richtige Stichwort, da aus meiner Erfahrung dieser Wels nicht nur im schlammigen Grund des braunen Amazonasflusses beheimatet ist, sondern auch eine homöopathische Reise tief hinein in unseren biographischen Schlamm ermöglicht. Dort, auf dem trüben Grund unverarbeiteter Traumata, stoßen wir auf das geheimnisvollste, am besten getarnte und unerträglichste aller Gefühle: auf unsere Scham.

Da der Amazonas-Raubwels zwar im Wasser zu Hause ist, aber eben nicht an der täuschend ruhigen und friedlichen Wasseroberfläche, sondern darunter beheimatet ist, kann er diese Schamgefühle homöopathisch orten. Er dringt vor in eine Welt, die dunkel, kalt und voller Gefahr ist und in der Raubtiere eine ständige Bedrohung sind. In dieser Welt muss man untertauchen, sich verstecken, sich zum Schutz tarnen, was jegliche (Bewegungs-) Freiheit – und damit das eigentliche Element von fließendem Wasser – im Keim erstickt. So, wie unsere Scham es verhindert, dass wir uns dem freien Fluss des Lebens anvertrauen.

Mit mir stimmt was nicht

Und ewig lockt das Weib: Ehe ich mich versehe, inszeniert das Leben nach der Einnahme des Raubwelses auch schon das Scham-Thema und lockt mich quasi in die Falle. Scham ist ein Gefühl und will darum auch gefühlt werden – und das kann sie nur, wenn unsere üblichen Strategien, ihr zu entkommen, nicht mehr funktionieren, wenn wir also nicht mehr ausweichen können. So veranlasst mich nur wenige Stunden nach der Einnahme ein sehr freundlich aufforderndes Lächeln einer Frau im Café dazu, ihr meine Telefonnummer anzubieten. „Sorry, ich bin schon vergeben“, antwortet sie mir immer noch mit einem Lächeln. Obwohl sie nett reagiert hat, war mein spontanes Gefühl nach dieser ersten Abfuhr: Scham!

Am selben Tag, wieder im Café, kommt eine Frau an meinen Tisch, fragt nach Feuer, setzt sich an ihren Tisch, streichelt ihren Hund und lächelt mich die ganze Zeit an. Mehr Aufforderung geht nicht, denke ich, und fühle mich spontan ermutigt, an diesem Tag ein weiteres Mal meine Telefonnummer zu offerieren, welche die Frau dann sehr zögerlich und mit misstrauischem Blick annimmt – so als hätte ich ihr die Hand beschmutzt. Die Abfuhr – die ich viel heftiger als die vorher erlebe – lässt mich zurück mit einem Gefühl abgrundtiefer Scham. Ich will mich nur noch verstecken, isolieren, ausradieren.

Ich denke spontan an die Lepra-Nosode, die homöopathisch neben Ächtung und Scham genau dieses Grundgefühl des Abstoßend-Seins zum Thema hat. Verblüfft stoße ich später bei meinen Artikel-Recherchen über den Amazonas- Raubwels auf den Hinweis, dass sein schwarzes fettiges Fleisch von den Eingeborenen nicht verzehrt wird, weil es Lepra oder lepraähnliche Symptome verursacht.

Im destruktiven Teufelskreis der Scham

Scham ist das schwerst-auszuhaltende und schwerst-zu-offenbarende aller Gefühle!
Deshalb haben wir gelernt, unsere Scham zu verbergen – da packen wir lieber alles andere drüber wie Wut, Traurigkeit oder auch Angst. Die Scham, dass etwas mit uns nicht stimmt – ein Gefühl, ohne Wert und Daseinsberechtigung zu sein –, verdrängen wir meist aus gesundem Selbstschutz. Im Brennen der Scham jedoch begegnen wir dem so lange verborgenen Kind in uns wieder, das sich zurückgezogen hat, weil es das schmerzvolle Gefühl von Falsch-Sein irgendwann nicht mehr aushalten konnte und dann lieber gar nichts mehr fühlen wollte. Scham verhindert so vielleicht mehr als jedes andere Gefühl, dass wir mit anderen eine Verbindung eingehen. Vielleicht können aber Nähe und Verbundenheit überhaupt erst entstehen, wenn wir in der Lage sind, die Seiten in unserem Innern, derer wir uns schämen, zu offenbaren.

Alles „Düstere“, was wir nicht preisgeben, weil wir es für nicht zumutbar halten, lebt unausgesprochen in den geheimen Räumen unserer Seele weiter. Der Raubwels gräbt hier so tief, bis wir wirklich authentisch handeln, denn unsere Selbstverleugnung hat früher oder später immer einen sehr hohen Preis – von einem Leben in der Unlebendigkeit bis hin zu schweren Krankheiten. Homöopathisch ermutigt er uns, auf unsere Tarnung zu verzichten, vom schlammigen Grund der Scham aufzutauchen, uns so zu akzeptieren, wie wir sind, und damit dem Blick der anderen weniger Macht zuzugestehen. Er unterstützt uns, jenen Teil in unserem Innern zu zeigen, den die Scham verbirgt, den wir nicht offenbaren, weil wir glauben, andere wollen nicht mehr in unserer Nähe sein und verurteilen uns, wenn sie unser Geheimnis herausfinden.

Geboren aus der Angst

In den nächsten Tagen jagt der Raubwels meine Angst, so, wie ich bin, nicht in Ordnung zu sein, von 30 auf 100 Prozent hoch! Das manifestiert sich beruflich ebenso wie auf der Beziehungsebene. Gut Verstecktes kommt jetzt gnadenlos zum Vorschein. Etwa das Gefühl, dass ich als Mann als potentieller Beziehungspartner durchfalle, da ich nicht in der Lage bin, das Grundbedürfnis einer Frau nach emotionaler Sicherheit in einer Partnerschaft zu erfüllen. Beruflich habe ich auf einmal das Gefühl, als homöopathischer Arzt nur ein Arzt zweiter Klasse zu sein! Die Angst, als insuffizient, ungenügend, enttarnt zu werden, sucht sich ein biographisches Aktionsfeld und wird fündig in der Befürchtung, auf meiner nächsten Flugreise in einer Notfallsituation („Wir haben ein Problem, ist hier ein Arzt an Bord?“) die an mich gestellten Erwartungen nicht erfüllen zu können und im Extremfall sogar verantwortlich für den Tod des Passagiers zu sein, den ich zu retten versuche. Da ich bald in Urlaub fahren will, brauche ich dringend ein Gegenmittel für das Gift des sich in mir ausbreitenden Gefühls, falsch und ein Versager zu sein. Schließlich will ich ja nicht in eine Situation geraten, in der genau das offenbar wird, ich vor Scham im Boden versinke und auch noch eine andere Person zu Schaden kommt.

Also unternehme ich alle möglichen Anstrengungen, diese Angst vor Versagen durch Wissensaneignung und Training von Notfallabläufen mit einer befreundeten Notzärztin zu reduzieren. Gutgemeinte Ratschläge von Freunden, wie „das weiß doch keiner im Flugzeug, dass du Arzt bist“, lindern kurzzeitig die Angstwunde wie ein Pflaster, aber heilen nicht ursächlich. Mein Ziel ist es nur noch, mich zu verbessern, damit ich allen Erwartungen an mich als Arzt irgendwie genügen kann. Aber der innere Anspruch steigt ins Unermessliche, bis ich überzeugt bin: Bevor ich mich nicht zum Notarzt habe weiterbilden lassen, kann ich mich eigentlich in kein Flugzeug mehr setzen. Spontan kommt mir der Gedanke, wie weit ich das noch treiben will. So weit, dass ich nur dann, wenn ich perfekt bin, überhaupt erst eine Lebensberechtigung habe???

Befreiung aus der Angst-Spirale

Homöopathisch durchbricht der Wels diese Angstspirale und bringt die Situation auf eine völlig neue Ebene. Nach der zweiten Einnahme komme ich zum ersten Mal in einen tiefen, mir bis dahin unbekannten inneren Frieden. Der Wels befreit eine neue Sichtweise in mir, mit der ich jetzt entspannter auf den lernenden, bemühten und sich anstrengenden Anteil in mir schaue. Aus freiem Interesse ist all das Sich-Bemühen ja völlig okay, aber nicht aus der Angst heraus, als Mensch und Arzt ein Fehler auf diesem Planeten zu sein! Einer Angst, die aus dem Gefühl resultiert, dass dann, wenn ich nicht perfekt funktioniere, andere merken könnten, das ich so, wie ich bin, nicht in Ordnung bin. Der Raubwels macht mir einfach klipp und klar, dass all meine bisherigen Bemühungen sich letztendlich aus dieser Angst genährt haben. Und dass ich auf diese Weise nie eine Chance haben werde, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Denn als Mensch kann ich Fehler nicht vermeiden. Die Lösung muss von einer anderen Ebene kommen, von innen.

Der Versuch von Selbstakzeptanz durch scheinbare Perfektion steht immer auf tönernen Füßen. Und noch etwas Unabdingbares schenkt mir der Wels für ein Leben in Freiheit und Authentizität: das Vertrauen, dass ich mit allem ausgestattet bin (insbesondere auch mit meiner homöopathischen Qualifikation!), was es braucht, wenn das Leben mich in eine Not-hilfe-Situation bringt – für mich selbst und andere.

 

Schlagworte (mit Links zu weiteren Artikeln von Werner Baumeister):
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Werner Baumeister

ist Arzt und bietet individuelle homöopathische Begleitung an.

30 Jahre Erfahrung in eigener Praxis in Berlin.

Einzeltermine nach Vereinbarung, Behandlungstermine zum Thema des Artikels jederzeit möglich.

Information zu aktuellen Workshops immer auf der Seite „Homöopathie am Puls der Zeit

(mit Themenregister aller Artikel) sowie unter Tel.: 0172 – 391 25 85 .

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Die homöopathischen Arzneibilder von Werner Baumeister verstehen sich auch

als homöopathischer Spiegel aktuellen Zeitgeschehens.

 

 

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