Position beziehen im Ruhestand

Das individuelle und gesellschaftliche Bewusstsein für die „Berufung nach dem Beruf“ wächst stetig. Geschuldet ist dies ein Stück weit der Erkenntnis, dass wir bei immer besserer körperlicher und geistiger Konstitution mit dem offiziellen Ausscheiden aus dem Beruf, der „Entberuflichung“, statistisch noch mindestens 20 Lebensjahre vor uns haben. Das ist die komplette Zeitspanne unserer Kinderstube plus unsere Schul- und Ausbildungszeit, ggf. zuzüglich einiger Jahre Studium. Ein Zeituniversum, das uns früher unendlich lang erschien und in der Frage gipfelte: „Wann werde ich endlich erwachsen sein?“

Und zeitlich Vergleichbares liegt vor uns. Mit allen unseren Erfahrungen und Erinnerungen, Träumen und Wünschen. – Doch sind wir auch darauf vorbereitet? Wenn wir zurückblicken auf unsere Jugendzeit, dann erinnern wir uns an die vielen Hilfen, die uns für die Berufswahl zur Verfügung standen. Ganze Bibliotheken waren vollgestopft mit Büchern zur Frage: Was will ich werden? Berufsberatung und Hinweise allerorten von den Erwachsenen, Firmen buhlten um die besten Schulabgänger und luden zu berufsorientierenden Veranstaltungen ein. Ja, es gab ein Berufseintrittsmanagement – aber wo ist das Berufstrennungsmanagement?

Wer bereitet uns, die Vertreter der Generationen „50plus“ oder „60minus“, auf den Ruhestand vor, auf weitere 20 Lebensjahre berufsfreien Ruhestand? Nach den etwa 40 Jahren, in denen wir uns weitgehend über den Beruf definiert haben, in einer Zeit, wo wir noch lange nicht als Senioren oder gar als Alte bezeichnet werden wollen. In einer Zeit, wo wir objektiv zehn Jahre jünger aussehen und uns um 15 Jahre jünger fühlen, als unsere Vorfahren vor 100 Jahren.

Der Staat wird dies nicht tun. Er setzt auf die Selbstheilungskräfte der gesellschaftlichen Entwicklung und des Individuums. Denn der Ruhestand ist nach wie vor positiv besetzt und das menschliche Glück in demselben automatisch vorprogrammiert. Also: genießt das Leben! Und die Unternehmen sind sich kaum darüber im Klaren, was der Abschied für die aus dem Beruf Scheidenden für einen nachhaltigen Einschnitt im Leben hinterlässt, welche Konsequenzen das Umlegen des „Arbeitsschalters“ auf „Aus“ mit sich bringt.

Ich halte es für existenziell wichtig, die Entberuflichten zu unterstützen und es ihnen leichter zu machen, ihren weiteren Lebensweg tatsächlich in Einklang mit sich, ihren persönlichen Umfeld und der Gesellschaft zu bringen. Zu den wichtigsten Regeln für die Vorbereitung auf und den Übergang in den Ruhestand gehören meines Erachtens mindestens die folgenden Kriterien und Überlegungen.

Den Ruhestand planen

In der Regel wissen wir, wann der Moment der lebensverändernden Maßnahme „Ruhestand“ oder „Rente“ eintreten wird. Nehmen wir uns also ein paar Jahre vorher schon einmal die Zeit und spielen die Szenarien durch, die dann möglich werden können. Denken wir zurück an die Zeit, in der wir noch Träume hatten und uns Wünsche versagen mussten, weil wir die Karriereleiter emporstiegen, für die Familie sorgten oder einfach nicht über die Mittel verfügten. Gehen wir sie durch, die Etappen unseres zurückliegenden Lebens, und schauen uns um, was liegen geblieben ist oder was wir uns nicht trauten, offen auszusprechen oder gar zu tun. Was hält uns heute ab, unsere unerfüllten Wünsche umzusetzen? Notieren wir diese Ideen und beginnen uns auszumalen, wie sie Wirklichkeit werden. Denn jeder Gedanke ist ein Baustein der zukünftigen Realität.

Sich selbst erkennen

Nichts ist wichtiger zu wissen als: „Wer bin ich wirklich und wer will ich noch sein?“ – Wir für uns wissen am besten, welche Stärken und Schwächen wir haben, über welche geistigen Fähigkeiten und materiellen Möglichkeiten wir verfügen; kurz was wir können und vermögen. Und auch: was wir noch brauchen, um unsere Ziele zu verwirklichen. Was ist uns jetzt wichtig, was weniger wichtig als in den Zeiten, in denen wir ein Drittel unserer Lebenszeit im Beruf verbrachten? Jetzt haben wir die Möglichkeit, unsere wichtigsten inneren Werte mit viel weniger Rücksicht auf Job, Karriere und Kollegen zu leben, als vor dem Ruhestand.

Was uns glücklich und zufrieden macht, kann niemand außer uns selbst bestimmen. Nur wenn unser Gefühl uns ausdrücklich sagt: das ist der richtige Weg, dann ist er gut und sinnvoll. Wir müssen uns wohlfühlen können in unserer neuen Ruhestandswelt. Denn: wir sind es uns wert und wir haben es verdient. Nehmen wir uns also die nötige Zeit zur Selbstreflexion und Perspektivenfindung – und wenn es sein muss, holen wir uns professionelle Hilfe.

Für Nachhaltigkeit sorgen

Die Zeitspanne, die uns bleibt, wird von Generation zu Generation länger. Eine heute 60-Jährige kann noch mit 25 Jahren Lebenszeit rechnen, ein 60-Jähriger mit 21,5 Jahren  Lebenszeit. Klar: einmal von den Mechanismen des Arbeitsalltags befreit, werden wir zuvorderst all die Dinge angehen, die liegen geblieben sind. Wir bringen die Versicherungsunterlagen auf Vordermann, regeln die Geldanlage, räumen Keller und Dachboden auf, reisen hierhin und dorthin. Aber ergibt das einen Sinn für die nächsten 20 Jahre? Macht es wirklich glücklich für den gesamten „Restrentenzeitraum“? Oder müssen wir uns immer wieder stückchenweise neu erfinden, um die nächsten Monate und Jahre mit Sinn und Glück zu füllen?  Wir sorgen uns um die Enkelkinder. Aber auch sie wachsen heran. Eines gar nicht so fernen Tages sind sie groß oder haben andere Interessen, als von Oma und Opa betreut zu werden. Ist es nicht besser, sich einer langfristigen, nachhaltigen und komplexeren Aufgabe zu widmen, die nicht nur nach innen in unser persönliches Umfeld hineinwirkt, sondern auch auf die Gesellschaft zurück? Wir können ein Ehrenamt, eine Teilzeitarbeit oder aber sogar einen neuen Beruf angehen, etwa den Traumberuf unserer Kindheit. Zurückgeben, zurückspiegeln von Erfahrungen und Kompetenzen, über die nachrückende Generationen (noch) nicht verfügen.

Sich selbst umprogrammieren

Kaum sind wir raus aus dem Beruf, wundern wir uns vielleicht: das Unternehmen funktioniert auch ohne uns und geht nicht pleite. Im Gegenteil: die früheren Kollegen schaffen die Arbeit auch. Und: Sie haben uns aus ihrem Tagesablauf sehr schnell ausgeblendet. Unsere frühere Rolle hat jemand anderes übernommen, die Aufgaben wurden neu verteilt und die Abläufe wieder funktionsfähig gestaltet. Und genau da müssen wir auch als Ruheständler ansetzen: Unsere Abläufe neu strukturieren, denn die Struktur und Zwänge unserer Arbeitswelt existieren nicht mehr. Wir sind frei, freigesprochen per Rentenbescheid. Und tragen eine neue Verantwortung uns selbst gegenüber: Wir sind gleichzeitig sowohl zum Chef als auch zum Mitarbeiter unseres Lebens geworden. Und niemand hat uns darauf vorbreitet. Der unendlich große Freiraum an Zeit muss von uns ausgefüllt werden. Sonst versinken wir entweder in den Banalitäten des Alltags oder verzetteln uns inmitten tausender Ideen und Angebote. Oder wir stehen Partnern und Freunden im Weg herum, als Nörgler oder auch als Zeitsaboteure. Unsere soziale Rolle als Mitarbeiter oder Vorgesetzter ist abgeschlossen: die Identifikation mit dem Beruf ist endgültig Vergangenheit. Wir müssen erst unsere neuen Rollen finden, in denen wir wieder Anerkennung erwarten dürfen. Und sie mit den entsprechenden Aufgaben und Abläufen füllen, wollen wir nicht unglücklich oder depressiv werden … Das ist eine äußerst kreative und auch anspruchsvolle Arbeit.

Position beziehen im Leben

Wir haben jetzt Zeit für etwas, wovor wir uns lange Zeit im Leben herummogeln konnten: vor den existenziellen Fragen im Dasein, vor der Frage nach dem Sinn im Leben.

Wer möchten wir sein in dieser neuen Welt? Welche Ziele möchten wir noch erreichen und zu wem oder was zugehörig fühlen? Wie ist unser Verständnis als Teil eines größeren Ganzen, in dessen Mitte wir leben? Woran glauben wir und wovon sind wir überzeugt? Möchten wir mit uns ins Reine kommen und mit unserer Umwelt, ein lebensübergreifendes Fazit ziehen? Wird es uns einst schwer fallen, uns von diesem Leben zu verabschieden?

Wir müssen uns klar darüber sein, dass diese und ähnliche Gedanken mehr und mehr in den Mittelpunkt unseres Lebens rücken werden. Die Freiheit und der Abstand von daseinssichernder Arbeit bedeutet gleichzeitig auch mehr Freiräume für die eigene geistige Entfaltung zu haben. Unsere Existenz im Ruhestand ist mehr oder weniger abgesichert, tätiges Handeln wird abgelöst werden durch das Vordringen in mentale oder gar spirituelle Welten. Und schlussendlich wird er gekrönt vom Rückblick auf ein Leben, das wir hoffentlich erfüllt, nutzbringend, für uns sinnvoll und glücklich verbracht haben.

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Foto: © Lupo / pixelio.de

Über den Autor

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Wolfgang Schiele, Jahrgang 1954, (Vor)Ruhestandscoach und Experte für Menschen im Veränderungsprozess zwischen Beruf und Ruhestand.   

Rastlos im Beruf, ratlos im Ruhestand?
Wegweisende Impulse zur aktiven Gestaltung der dritten Lebensphase
Wolfgang Schiele
Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2018
eBook ISBN978-3-662-56567-4
288 Seiten

Ich bin freiberuflich tätig als Team- und Individualcoach sowie Seminarleiter, wobei mein inhaltlicher Arbeitsschwerpunkt bei den „soft skills“, den mentalen Aspekten dieses vielfach unterschätzten persönlichen Changemanagementes auf dem Weg in die dritte Lebensphase liegt.

Während der Auslaufphase meines Erstberufes habe ich erfolgreich Ausbildungen zum zertifizierten NLP-Mastercoach (nach DCV-Vorgaben) und Heilpraktiker Psychotherapie absolviert, bin zertifizierter EMDR-Therapeut und Motivationsprofiler (LAB-Profile).

Kontakt
Wolfgang Schiele
Coaching 50plus
Meckerndorfer Ring 7
15526 Bad Saarow
0174-9639900
Blog: www.spätefreiheitruhestand.de


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