Rede von François Michael Wiesmann auf der Jubiläumsfeier anlässlich des 25. ZEGG-Geburtstages 

Was braucht es, damit Gemeinschaften wirklich stark wirken können, auch in die heutige gesellschaftliche Situation hinein? Denn ich glaube, dass das nötig ist.

Es braucht ein starkes Wir, um eine Situation weiterzubewegen, wie sie heute ist auf der Welt. Ich spreche nicht nur zum ZEGG, sondern ich spreche vor allem aus den Erfahrungen, die ich in meiner Arbeit mache. Ich begleite Gemeinschaften in Deutschland und der Schweiz als Coach, aber auch als Freund und als jemand, der hofft, dass Gemeinschaften zu leuchtenden Plätzen werden.

Wo Gemeinschaften bisher an Grenzen stoßen

Was mir auffällt: dass es Punkte gibt, die ich in allen Gemeinschaften antreffe. Wo Menschen an die Decke anstoßen und nicht weiter kommen. Das Erste, was mir immer wieder auffällt, ist eine notorische Überlastung bis hin zum Burn-Out. Und das an Plätzen, die eigentlich eine neue Kultur schaffen wollen. Und so viel mit eigenen Prozessen beschäftigt zu sein, dass man fast nicht dazu kommt, noch in die Welt zu schauen. Das empfinde ich als eine Situation, die noch viel Potential nach oben hat. Es geht nicht um eine gemeinsame Nabelschau, das wissen wir alle. Also: was brauchen wir, um da eine Öffnung zu schaffen?

Ein zweiter Punkt ist Entscheidungskultur und Macht. Die Angst vor Hierarchie, die Angst, dass jemand führen könnte, finde ich fast überall. Und gleichzeitig einen unerschütterlichen Glauben daran, dass der Konsens das Endziel der Evolution ist. Und dadurch eine Nivellierung auf so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Wir einigen uns auf das, wozu alle Ja sagen können. Was für ein Hundeleben!

Dazu gehört auch die Vorstellung, dass eine Vision entstehen könnte aus all den Einzelvisionen der Leute, die hier versammelt sind. Ein aussichtsloses Unterfangen! Es macht keinen Sinn, sich zusammenzusetzen und eine gemeinsame Vision zu finden. Eine Vision ist eine Inspiration, die in einen Menschen hineinfährt oder auch in fünf Menschen und die spürbar ist. Es ist nicht etwas, auf das man sich einigt.

Dann die Unterschätzung der Bedeutung von Kontakt, Sinnlichkeit und Sexualität. Dieses Thema wird nach meinem Empfinden an den meisten Orten dieser Welt unterschätzt. Was für eine Bedeutung es hat, in einen wahren Kontakt miteinander zu gehen – für alle Sachfragen, für alles, was wir sonst noch miteinander wollen. Ich treffe in Gemeinschaften so viele einsame Menschen. Man darf auch einsam sein. Aber dass das nicht adäquat thematisiert werden kann in einer Umgebung, in der es eigentlich genau darum gehen soll, das ist krass.

Schließlich noch Ökonomie und Mangelbewusstsein. Ich habe das einmal das Armutstheater genannt. Also den Glauben daran, dass es gut ist, arm zu sein. Dazu gehört, die Reichen grundsätzlich für Schweine zu halten. Das würde zwar niemand so aussprechen, aber irgendwas schwingt da oft in der Luft. Woher soll denn da das Geld kommen? Ich nenne das ein unbewusstes Verhältnis zu einem satten Fluss von Geld und Energie.

Das war eine sicher nicht vollständige Bestandsaufnahme. Und jetzt folgt eine Mischung aus Beobachtungen, Entwicklungen, die schon angefangen haben und Thesen, wohin es weitergehen könnte. Denn es ist mir ein Anliegen, dabei mitzuhelfen, dass diese Dinge sich ändern. 

Von der geteilten Form zum geteilten Innenraum

Es gab jetzt eine ganze Generation von Gemeinschaften, die sich darüber definiert hat, dass alle das Gleiche wollten oder das Gleiche taten. Also zum Beispiel über veganes Essen. Alle, die vegan essen, gehören zu uns. Alle, die freie Sexualität praktizieren, gehören zu uns. Die anderen eher nicht. Das sind so ein bisschen die, die nicht auf einem so guten Weg sind. Alle, die Körperarbeit machen, gehören zu uns, und so weiter. Alle, die politisch links sind, gehören zu uns. Ich könnte da fast jeden Begriff einsetzen.

Die Definition erfolgte über eine gemeinsame Form. Sie hielt so lange, wie Menschen genau das wollten. Es zeigt sich aber immer in einem lebendigen Prozess, dass Menschen irgendwann auch etwas anderes wollen – immer! Deswegen ist das kein Kitt, der hält. Solange wir da verharren, sind wir im Zeitalter der Ideologie. Wir müssen Leute ausgrenzen, weil sie eine andere Form wählen fürs Leben als wir oder als ich.

Diese Zeit ist nach meinem Empfinden vorbei. Jetzt fängt aus meiner Sicht etwas anderes an: ein geteilter Innenraum. Denn es braucht ja etwas, das verbindet, wenn wir zusammenleben.

In die Stille lauschen

Ein geteilter Innenraum besteht für mich aus zwei Aspekten. Erstens, zu akzeptieren und sich bewusst zu machen, dass es einen transpersonalen Raum gibt, in dem wir alle leben. Mit transpersonalem Raum meine ich das, was wir vielleicht fühlen können, wenn wir einen Moment still werden und nicht nur unseren Gedanken oder Körperempfindungen folgen, sondern in die Stille lauschen hinter all dem – in eine Stille und einen Raum, die immer da sind. Und ich glaube, dass Gemeinschaft in diesem Raum existiert. Und dass sie Kraft bekommt, wenn wir wissen und pflegen, dass sie in diesem Raum existiert. Wenn wir eine Art Praxis entwickeln, eine Erinnerungspraxis, die uns daran immer und immer wieder anschließt. An einen Raum, in dem wir das Leben nur bezeugen. In dem wir nichts dazu tun und nichts wegnehmen. Wo das sein darf, was ist.

Wir sind hier als Menschen versammelt, die neue Möglichkeiten in die Welt bringen wollen. Ich glaube, das ist etwas, was die meisten hier vereint. Wir wollen diesen Raum nicht kontaktieren, um der Welt zu entfiehen. Sonst wären wir eher im Kloster oder irgendwo anders. Was ich übrigens auch in Ordnung fände. Aber wir sind nicht in einem Kloster. Wir suchen diesen Raum auf, um noch bewusster und wacher in dieser Welt sein zu können.

Der zweite Aspekt: Wenn wir diesen transzendenten Raum in unsere  Beziehungen einfließen lassen, verändern sie sich. Ich will das, was dann entsteht, einen offenen Beziehungsraum nennen. Einen Beziehungsraum, in dem Begegnungen möglich sind; in dem das stattfinden darf, was jetzt ist. Wenn in mir Angst ist, wenn ich dir begegne, dann darf das mitschwingen in dieser Begegnung. Wenn ich mich kleiner fühle als du, dann darf das mitschwingen. Wenn ich spüre, dass es eine erotische Anziehung gibt, dann darf das mitschwingen. Das heißt für mich offener Beziehungsraum.

Ich erlebe das im Moment am stärksten mit meinem Sohn. Er fordert mich dazu auf, in einen offenen Beziehungsraum einzutreten. Durch seine Purheit. Er schaut mich an und hält – mit seinen drei Monaten – den Kontakt so, dass ich merke, wo ich blockiert bin. So offen ist der Raum bei einem Baby. Das ist das wunderbare Geschenk eines Kindes. Ich bin 57 und in meinem Alter noch mal eine Aufforderung zum hundertprozentigen Da-Sein zu bekommen, ist wirklich schön. 

Das ist für mich die Matrix für einen offenen Beziehungsraum. Und ich kann das auch mit erwachsenen Menschen erleben. Es braucht Training, es braucht eine Bereitschaft, eine Entscheidung: Darauf möchte ich mich einlassen, wenn ich mit dir oder mit euch zusammen bin. Für mich hängt diese Qualität im Kontakt ganz direkt mit der transpersonalen Qualität zusammen, die man in der Stille spürt. Der geteilte Innenraum ist für mich eine der ganz wesentlichen Entwicklungsrichtungen für Gemeinschaften. 

Von der Gleichheit zur Einzigartigkeit

Ich habe diese Qualität hier schon wachsen gesehen heute morgen: Von der Gleichheit zur Einzigartigkeit. Ich möchte, dass wir anfangen, Gemeinschaften zu bilden, in denen volle Individualität möglich ist. In denen es möglich ist, die Brillanz der Einzigartigkeit zu unterstützen, zu fördern und zu feiern. Dafür müssen wir uns bewusst werden, dass es davor eine Angst gibt. Eine Angst, dass Menschen, die zu stark sie selbst werden, der Gemeinschaft etwas wegnehmen. Diese Angst ist einfach da, aus wahrscheinlich vielen geschichtlichen Gründen. Und das gilt es, sich bewusst zu machen. Es ist gut, diese Angst zu fühlen und sie zu sich zu nehmen. Und zu wissen: Aha, ich bekomme Angst, wenn jemand groß wird. Ich bekomme Angst, wenn jemand leuchtet. Es gibt eine Reaktion in mir und deswegen nivelliere ich vielleicht und sage: Es sollten alle gleich sein, es darf niemand führen, es müssen alle gleich viel verdienen usw.

Es war eine Zeitlang wichtig, über Gerechtigkeit zu sprechen. Und es gibt Länder auf dieser Erde, wo es auch heute noch wichtig ist. In Palästina etwa würde ich so etwas niemals sagen. Aber hier sage ich es. Für uns geht es nicht mehr um diese Art von braver Gerechtigkeit, wo alle das Gleiche bekommen. Nein, für uns geht es darum, herauszufinden, wer wir sind und das so voll zu unterstützen, wie wir können! Das gibt der Gemeinschaft Kraft. Wir sind es so gewohnt, diese Nivellierung immer wieder zu machen. Es ist gut, das zu merken und zu schauen, ob es nicht auch andere Möglichkeiten gibt.

Innovationsgeist

Kunst ist ein Mittel für Innovation. Kunst schafft Risse im Alltag, durch die etwas Neues hereinkommen kann. Genauso wie es aus meiner Sicht gut ist für Europa, dass der Brexit stattfindet. Der Brexit schafft einen kurzen Schock. Entscheidend ist doch die Frage, wie man mit solchen Rissen umgeht. So ein Ereignis ist eine Einladung, inne zu halten und zu schauen, was hier eigentlich passieren will. Das sind Momente, in denen Innovation passieren kann; in denen es eine Erschütterung gibt. Wenn jemand Wahrheit spricht, radikale Wahrheit, dann geschieht das auch. Es passiert eine Erschütterung der Gewohnheit. Die ist erst mal leicht unangenehm, aber dann geht ein Tor auf und es könnte potenziell etwas Neues hineinfießen. In der Meditation kann so etwas auch passieren. Wenn ich tief in Meditation gehe, kann ein Raum aufgehen, in den etwas Neues hineinfießt.

Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Praxis für Gemeinschaften: sei es durch Kunst, Wahrheit oder Meditation. Das muss jeden Tag passieren, denn das Neue von gestern ist die Gewohnheit von heute. Es geht darum, Risse zu erlauben und sie zu ermutigen, zu riskieren. Denn ich kann ja nicht anderen Risse erlauben – ich muss sie selber wagen.

Das Höchste miteinander teilen

Was ist es, das mich in Gemeinschaft führt? Was ist das Tiefste, warum wir hier versammelt sind? Wenn Menschen davon sprechen, spüre ich, jetzt nähern wir uns gemeinsam dem Höchsten. Und es ist auch da so: Ich persönlich finde es super, wenn man regelmäßig miteinander meditiert. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich so eine Praxis nicht von anderen Menschen einfordern kann. Ich kann dazu einladen, wenn ich das selber leidenschaftlich tue. Ich kann es aber nicht einfordern. Ich sehe in Gemeinschaften ganz viele Menschen, die einzelne spirituelle Wege gehen. Jeder für sich, zum Teil sehr ernsthaft. Was ich aber kaum finde: dass wir das Ringen um die höchste Wahrheit miteinander teilen. Also das Ringen um die Frage: Wie geht’s mir denn mit Gott? Egal, ob ich Zen-Buddhist bin oder Christ oder Atheist – oder Kapitalist. Das ist eigentlich egal auf dieser Ebene. Jeder hat in seinem Leben irgendeine Spur zu diesem Höchsten oder Tiefsten im Leben. 

Es gab einige wenige Momente, in denen mir das gelungen ist: in Gemeinschaft einen Raum zu kreieren, in dem die Menschen wirklich darüber gesprochen haben, wie es ihnen mit diesem Weg geht. Mit ihrem Weg zu dieser Stille, zu dieser unendlichen Präsenz, zu dieser Liebe, die da reinfießt. Dann sehe ich Menschen sehr tief. Und das ist etwas, was mich tiefer verbindet als viele gemeinsame Projekte. Weil ich mich vor diesem Höchsten entweder gar nicht zeige oder ganz nackt. Es gibt nichts dazwischen. Wenn ich die Frage stelle: Wie hältst Du es eigentlich mit Gott?, dann musst du dich nackt machen. Es gibt keine andere Möglichkeit. 

Ich möchte in Gemeinschaften dazu einladen, dass das wieder Thema wird. Gemeinsame Andacht, aber auch gemeinsame Auseinandersetzung über dieses Höchste. Ich weiß, was einem da alles dazwischen kommen kann. Ich weiß, was für Widerstände ich habe, mich dieser Kraft hinzugeben. Das ist furchtbar manchmal. Aber einen Rahmen zu finden, in dem wir uns ehrlich darüber austauschen – mit der ganzen Sehnsucht, die da auch wach werden kann – das ist etwas, was Gemeinschaften einen Schritt weiter führen kann.

Mein tiefster Wunsch ist es, dass wir diesen Traum verwirklichen – einen leuchtenden Planeten, der von fühlenden Menschen gepflegt wird.

 

 

2 Responses

  1. Connie
    Nur der Glaube versetzt Berge

    Ich zitiere den Schlußsatz: „Mein tiefster Wunsch ist es, dass wir diesen Traum verwirklichen – einen leuchtenden Planeten, der von fühlenden Menschen gepflegt wird.“

    Wie schade – denn Wunschdenken ist Mangeldenken. Das ist allerdings kein Wunder in dieser heutigen Zeit, wo fast jeder bereits um „Energieausgleich“ bittet, bevor er selbst gegeben hat.

    Ich sehe das anders. Ich bin überzeugt davon, ich glaube felsenfest daran, daß wir diesen Traum verwirklichen – einen leuchtenden Planeten, der von fühlenden Menschen gepflegt wird. Schließlich bin ich doch deswegen hier!

    Antworten
  2. Bettina Dornics
    Rede von Francois Michael Wiesmann

    Den Vortrag habe ich live beim 25-jährigen Zegg-Jubiläum erlebt. Er hat mich zutiefst angesprochen. Während meiner 10-jährigen Lebensphase in Gemeinschaft im Zegg und davor, waren es genau diese Themen, die unerlöst blieben. Wie kann ich meine Individualität leben, stark werden, ohne dafür verurteilt oder ausgebremst zu werden? Wie gehe ich mit meiner Angst vor Autoritäten um? Damit meine ich die, die dominanter sind als ich, sich besser durchsetzen oder präsentieren können. Mittlerweile gehe ich stärker den Weg des Hinfühlens, des Innehaltens und des Abgrenzens mit meinen Mitmenschen. Das Herz zu öffnen braucht auch die Fähigkeit ein klares Nein sagen zu können, bevor die Wut, die Verwirrung oder die Angst kommt. Wo ist meine Selbstachtung? Auch daran richte ich mich aus, auch wenn die Sehnsucht manchmal so stark in eine bekannte Sackgasse führt. Nein, das ist unter meiner Selbstachtung. Gewohnheiten lassen sich verändern, indem man sie einfach nicht mehr pflegt und etwas Neues an den Platz setzt oder der Leere ins Auge schaut. Dafür braucht es Stille.

    Antworten

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*