Bild: © pixabay.comFür eine gemeinschaftlich intelligente Demokratie 23. Oktober 2017 Warum halte ich Demokratie für das wichtigste politische Thema? Man könnte meinen, Klimaschutz, Frieden, Naturschutz, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung… so vieles davon sei wichtiger. Das mag auch stimmen– auch je nach eigener Betroffenheit. Aber ohne echte Demokratie sind alle diese Probleme nicht lösbar. Denn sie ist unser gemeinsames Werkzeug der Gestaltung unserer Gesellschaft. Dafür muss sie gemeinschaftlich, d.h. inklusiv mit vielen Stimmen werden. Und wenn sie es nicht wird, passiert noch etwas viel Schlimmeres: Unsere Gesellschaft zerfällt und wir Menschen verlieren den Glauben an uns selbst. Wir werden zu Opfern, die anderen die Schuld geben für unsere Ohnmacht. Doch dazu müssen wir gemeinschaftliche Räume schaffen, die nicht geschlossen sondern gesellschaftlich sind, in denen wir auf „die Anderen“ treffen . Viele aus der alternativen Szene denken, wenn ich „nach Hause gehe und mich um die Bienen kümmere“ (ein Slogan in der OYA) oder auch den Garten, die Solaranlage, die eigenen Beziehungen…, dann wäre das schon politisch. Das ist ein Irrtum, denn Politik fängt dort an, wo wir unsere kleinen Gemeinschaften verlassen. Geh in die Welt und werde politisch Die Aussage „Geh nach Hause und kümmere dich um die Bienen“ bedeutet also in Wahrheit: Geh in die Welt und werde politisch! So wie die Bienen selbst kilometerweit fliegen, um ihre Nahrung zu finden. Ich war 35 Jahre meines Lebens lang Selbstversorger, zunächst zehn Jahre handfest in einer kleinen Gemeinschaft in Italien, dann als Mitbegründer und Geschäftsführer im Ökodorf Sieben Linden in einer großen arbeitsteiligen Selbstversorgung. Ich konnte immer weniger erkennen, was eigentlich „das Selbst“ ist, das wir versorgen, wo sind seine Grenzen und wieweit sind wir ständig mit Allem verbunden? Selbst die radikalsten Experimente waren bei genauem Hinsehen nie selbstversorgt, immer war irgendwo ein Computer, ein Werkzeug, ein Auto, ein Flugzeug, eine geheime Sehnsucht usw. mit im Spiel. Wir können nicht „nach Hause“ gehen und uns um die Bienen kümmern. Denn die Bienen sind wie wir Teil der Welt, dieser Planet ist unser Zuhause, ist unsere Gemeinschaft. Und damit komme ich zur Demokratie. Wir leben in einer Demokratie, einer unvollendeten Demokratie zwar, aber einem System, das uns immer wieder daran erinnert, dass wir nicht alleine sind. Die verdrängte Welt kommt zu uns. Lass uns „nach Hause gehen“, könnte also auch heißen: kümmern wir uns z.B. um Afrika, die Wiege der Menschheit vor unserer Haustür. Meine Bienen sind zur Zeit die geflüchteten Menschen, hier in meiner erweiterten Gemeinschaft im Fläming. Meine bedrohten Bienen sind übrigens meistens Menschen, geflüchtete Männer, getrennte Familien, Kindersoldaten, vergewaltigte Frauen und Kinder, Zwangsprostituierte, Drogenhändler und Mörder, einsame Menschen ohne Liebe, die Volkskrankeit Depression, der größte herrschende Krieg ist laut WHO der gegen das eigene Selbst mit jährlich einer Million Suiziden… Übungsfelder für Demokratie Oder auch der Nachbar oder Freund, der gar nicht meiner Meinung ist. Der z.B. die Geflüchteten oder die Demokratie ablehnt. Da wird es dann schwer und nah und herausfordernd. Denn Demokratie schließt niemanden aus, jeder ist Teil der Demokratie, auch wenn er nicht wählt, nimmt er dennoch Einfluss. Demokratie bedeutet: Meine Idee wird erst wirksam, wo sie andere berührt und wo sie sich erweitert, meine eigenen Begrenzungen überwindet. Demokratische Politik ist die Umsetzung verbindlicher am Gemeinwohl orientierter Entscheidungen. Deshalb glaube ich, dass unsere Demokratie mehr Gemeinschaft braucht, auch über unseren eigenen „alternativen“ Horizont hinweg. Denn Politik in einer Demokratie ist Gemeinschaft von Allen, nur fehlt oft der gemeinsame Prozess, die gegenseitige Begegnung im Inneren unseres unterschiedlichen Menschseins. Erst im direkten Kontakt über Grenzen hinweg, aber auch im gemeinsamen systemischen Handeln entsteht eine gesellschaftliche Gemeinschaft. Ich glaube, dass unsere intentionalen kleine Gemeinschaften Übungsfelder für Demokratie und eine achtsame Wahrnehmung und Kommunikation sind. Wir sind Spezialisten für das Menschliche, für die Gestaltung von Räumen, in denen sich unsere Einzigartigkeit im Konzert mit den anderen zeigen kann. Roman Huber vom Verein Mehr Demokratie e.V. sprach auf dem ZEGG Sommercamp dieses Jahr von seiner Vision einer zukünftigen Demokratie: „Es geht dann weniger um Abstimmung, sondern um gemeinsame Einstimmung, um Abstimmungen eher im musikalischen Sinne, nicht um Zählgeschichten. Die Frage ist dann: Wer ist gerade angebunden an eine Antwort, wem folge ich gerne? Es gibt er dann eher fluide Strukturen, keine festgefügten Machtstrukturen. Eine Frage muss sich jeder Einzelne stellen: Wann bin ich angebunden und wann triggert mich nur etwas an – und ich sollte einfach die Klappe halten? Aus welchem Raum heraus agiere ich, ist es der Angst- oder der Vertrauensraum?“ Solche Fragen, solches Gemeinschaftswissen und solche Methoden fehlen noch in der Politik. Unser parlamentarisches System, aber auch die direkte Demokratie und Bürgerbeteiligungen brauchen dringend intelligente gemeinschaftliche Prozesse, damit wir wieder lernen „wie Brüder und Schwestern zusammen zu leben“ (Martin Luther King). Damit Politik menschlicher, nahbarer und differenzierter wird und wir bessere Entscheidungen aus der Mitte der Gemeinschaft heraus treffen können. Ideen für verbesserte Demokratie Eine viel diskutiertes, in letzter Zeit oft von Rechtspopulisten propagiertes Mittel, sind Volksabstimmungen. Damit sie nicht zur Abschaffung der Demokratie, zur Stärkung von menschenfeindlichen Positionen und zur Spaltung der Gesellschaft führen, schlägt „Mehr Demokratie“ ein entscheidendes Element im dreistufigen Verfahren vor: 1. Unterschriften sammeln für die Initiative; dann muss der Initiativvorschlags vom Verfassungsgericht im Sinne des Grundgesetzes geprüft werden. Erst dann kommt 2. das Volksbegehren und 3. die Abstimmung. So muss nicht 2 Jahre lang über eine gesetzwiderige Initiative geredet werden. Auch sollten Initiativen nur von unten aus der Zivilgesellschaft zugelassen werden und nicht von oben aus der Politik. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen: Vor der quantitativen Abstimmung sollte ein qualitativer Prozess stattfinden, der kollektive Intelligenz fördert und kollektive Dummheit vermeidet. Meine Gemeinschaftserfahrung und mein Menschenbild sagen mir, dass jeder Mensch in einem solidarischen und achtsamen Rahmen mit anderen Menschen nach einiger Zeit zur Kooperation fähig ist. Er kann gemeinsam Vorschläge entwickeln, die dem Gemeinwohl dienen.Wichtig dabei ist eine gute Moderation und eine Zufallsauswahl aus der Mitte der Bevölkerung, die genügend Zeit miteinander verbringt und von der Arbeit frei gestellt wird. Auf diesem Weg kann neben den ursprünglichen konträren „Schwarz-und-Weiß-“ Positionen auch eine dritte, integrale Position zu Abstimmung gestellt werden. Die permanente Einrichtung einer solchen Bundeswerkstatt als 3. Kammer der Demokratie und als einem Ort des zivilgesellschaftlichen, kreativen Gesprächs und der Visionsfindung ist das Ziel der „kollaborativen Demokratie“ von Jascha Rohr (siehe Literatur). „Demokratie ist immer auch schmerzhaft“, sagt Roman Huber. „Wenn ich mit meiner Position verliere, sollte ich aber nicht die Demokratie verantwortlich machen, sondern den Schmerz aushalten lernen. Denn eine Volksabstimmung ist nur ein Spiegel, sie findet immer innerhalb des Bewusstseins der Mehrheit statt: Wo stehen wir als Gesamtgemeinschaft?“ Es geht also weniger um ein Durchsetzen von Positionen als um eine lernende Evolution, gefordert ist unsere „brennende Geduld“. Diese Prozesshaftigkeit und die breite gesellschaftliche Einübung gemeinschaftlicher Kommunikation ist das Herz jeglicher Erneuerung. Sonst würden nur die äußeren Formen ausgetauscht und die undemokratische Substanz bliebe. Im Gespräch sagte die frisch gewählte Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft in Baden-Würtemberg Gisela Erler dazu: „Für die Entfaltung von Demokratie geht es darum, Formen zu finden, die eher »rund« und »ergebnisoffen« sind. Und wenn sie rund und ergebnisoffen sind, sind sie a priori für viele Menschen, die stimmlos sind, aber vor allem auch für Frauen, attraktiver. Und da komme ich zu einem großen Problem meines Amts. Wir haben es mit etlichen Themen zu tun, die nur begrenzt ergebnisoffen sind: Pumpspeicher sind für die Energiewende nicht ergebnisoffen, sie sind nötig, um die Schwankungen von Sonne und Wind aufzufangen. Da muss man überlegen, was im Verfahren offenbleiben kann, denn sonst habe ich ein Scheinverfahren.“ (OYA 10/2011) Mehr Miteinander im Parlament Wer also trifft die Entscheidungen? Alle Initiatoren dieser revolutionären Ideen sagen: Das Parlament! Allerdings ein gestärktes und verändertes Parlament. Claudine Nierth, die Sprecherin von Mehr Demokratie spricht im ZEGG-Sommercamp von einer „Hochzeit von direkter und parlamentarischer Demokratie.“ Sie erzählt, dass alle Politiker, die sie bisher getroffen hat, „motiviert und mit guten Intentionen in die Politik gegangen sind.“ Aber die Strukturen seien falsch! Die Frage ist also: Kann unser Parlament zu einer gemeinschaftlichen Werkstatt werden, in der die Volksvertreter miteinander statt gegeneinander agieren? Nach fast 20 Jahren im Parlament verlässt der urgrüne, linke Abgeordnete Christian Ströbele diesen Ort. Was hätte er gesagt, fragt ihn die ZEIT, wenn er eine Rede als Alterspräsident gehalten hätte? „Bei der Gelegenheit hätte ich über Dinge gesprochen, die sonst ungesagt bleiben. Warum wird jeder Gesetzentwurf, weil ihn die Opposition einbringt, schon deshalb und oft ohne Diskussion abgelehnt? Warum machen sich viele Abgeordnete der Koalition selbst klein, indem sie bloß Vollstrecker der Politik der Bundesregierung sind und deren Fehler decken? Für mich ist das absolut demokratiewidrig.“ (ZEIT 17.8.2017) Schuld daran ist der sogenannte Fraktionszwang. Im Gegensatz zum Grundgesetz, nach dem jeder Abgeordnete nur dem Volk und seinem eigenen Gewissen verpflichtet ist, wird ständig Druck auf die Regierungsfraktion (oft aber auch innerhalb der Oppositionsfraktion) ausgeübt. Es sind Sternstunden der Demokratie, wenn der Fraktionszwang bei existentiellen Entscheidungen aufgehoben wird, wie z.B. beim Thema der Sterbehilfe. Dann gehen die Meinungen und das Abstimmungsverhalten quer zu allen Parteien. Wohl nur durch eine Revolution von unten, nämlich durch die Selbstverantwortung der Parlamentarier selbst, könnte dieser undemokratische Zwang vielleicht abgeschafft werden. Mehr fraktionslose, direkt gewählte Abgeordnete oder auch durch Losverfahren ins Parlament beförderte Volksvertreter könnten da vielleicht neue Kulturen und Koalitionen befördern. Auch Gregor Gysi macht in seiner Abschiedsrede als Fraktionschef der Linken einige Vorschläge zur Belebung: „Ich wünsche mir eine andere politische Kultur. Ich weiß, dass die Union – auch in den seltenen Fällen voller Übereinstimmung – zusammen mit uns keine Anträge stellt. Ich glaube, das stärkt falsche Ansichten in der Union und bei uns. Denken Sie darüber nach…Was halten Sie von einer Ergänzung unserer Debattenkultur? Bisher haben wir doch nur Reden. Wenn wir nur Reden haben, entscheidet man selbst, auf welche Argumente des Vorredners man eingeht oder nicht eingeht. Stellen Sie sich doch einmal vor, neben den Reden hätten wir eine Streitdebatte, zum Beispiel zehn Minuten lang ein Streitgespräch zwischen Kauder und Gysi, immer redet jeder je eine Minute: Ich kann seinen Argumenten nicht ausweichen, er kann meinen Argumenten nicht ausweichen. Glauben Sie mir, es würde hier sehr viel spannender werden, wenn wir solche Dinge im Bundestag einführen würden.“ (Protokoll vom 2.10.2015) Immer mehr Menschen, gerade auch in links-alternativen Kreisen, sind enttäuscht von der Politik und wählen populistische Parteien oder gar nicht. Ich will aber mehr Demokratie und nicht weniger. Mein Vorschlag zur Erneuerung ist also eine Koppelung von partizipativer, direkter und parlamentarischer Demokratie und mehr Gemeinschaft auf allen Ebenen. Ich sage hiermit: Geht nicht „nach Hause“! Werdet wie die Bienen und schwärmt aus in die Welt. Und lasst uns ein großes europäisches gemeinsames Haus bauen – eine Demokratie für und mit Menschen und Bienen. Literatur und Links: Jascha Rohr: „In unserer Macht- Aufbruch in die Kollaborative Demokratie.“ (thinkOYA), www.partizipativ-gestalten.de/tag/bundeswerkstatt/ Kostenlos bestellen: „Demokratie – Die Unvollendete“: Ein Buch von „Mehr Demokratie“, das Demokratie-Skeptiker aufmuntert und Demokratie-Optimisten neue Argumente an die Hand gibt. www.mehr-demokratie.de Erstveröffentlichung: Oya Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.