von Selina Kühlwein

„Alles, was wir tun, machen wir für uns“ Als ich diesen Satz bei einem Seminar hörte, war ich sofort im Widerstand. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich auch dann, wenn ich etwas für jemanden tue, letztlich für mich selbst handle. Zu dieser Zeit war mein Kind noch in einem Alter, in dem es einen Mittagsschlaf machte. Mein erster Gedanke war: „Nein, wenn ich dafür sorge, dass mein Kind seinen Mittagsschlaf macht, dann sorge ich dafür, dass es ihm gut geht und es danach ausgeglichen für den Rest des Tages ist.“

Doch dann kam der Moment der Erkenntnis. An einem Tag war mein Kind hundemüde, wollte aber einfach nicht schlafen. Ich spürte, wie Frust in mir aufstieg – und plötzlich wurde mir klar: Ich brauche gerade eine Pause. Ich wollte für eine halbe Stunde Ruhe haben, nur für mich.

Diese Erfahrung brachte mich dazu, mein eigenes Verhalten zu hinterfragen. Warum tue ich, was ich tue? Welches Bedürfnis erfülle ich mir damit?

 

Die Herausforderung der Bedürfniserkennung

Die Grundlage dafür, unsere eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und erfüllen zu können, wird bereits im ersten Babyjahr gelegt. Werden unsere Grundbedürfnisse von unseren Bezugspersonen erkannt und in der Regel zuverlässig erfüllt, entsteht das innere Vertrauen: „Meine Bedürfnisse sind wichtig und dürfen erfüllt werden.“

Wachsen wir jedoch mit Bezugspersonen auf, die wenig einfühlsam sind oder unsere Bedürfnisse übersehen, entwickeln sich andere Glaubenssätze: „Meine Bedürfnisse sind nicht wichtig.“ Oder sogar: „Ich darf keine Bedürfnisse haben.“

Ein Kind, dessen Bedürfnisse über Jahre hinweg übergangen oder ignoriert werden, lernt, sich anzupassen und Strategien zu entwickeln, um dennoch Aufmerksamkeit zu bekommen – sei es durch übermäßige Anpassung (Fawn Response), Wut (Fight Response) oder Rückzug (Freeze Response).

Langfristig kann das dazu führen, dass es der Person als Erwachsenem schwerfällt, eigene Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen. Das äußert sich u.a. darin, dass es ihm oder ihr schwerfällt, für sich selbst einzustehen, weil früh gelernt wurde, dass Bedürfnisse ohnehin nicht erfüllt werden.

Oder es fällt schwer, gesunde Grenzen in Beziehungen zu setzen, weil unbewusst das Muster besteht, sich anzupassen, um Zuwendung und Anerkennung zu bekommen. Selbstfürsorge ist für solche Menschen herausfordernd, weil tief in ihnen verankert ist, dass die eigenen Bedürfnisse nicht wichtig genug sind.

So entsteht ein Kreislauf, in dem Selbstaufgabe oder Überanpassung als Strategie dienen, um sich sicher oder geliebt zu fühlen – auch wenn dies langfristig zu Erschöpfung und Unzufriedenheit führt.

 

Bedürfniserkennung ist nicht gleich Bedürfniserfüllung

Doch auch wenn diese frühen Prägungen tief gehen – sie sind veränderbar. Es ist eine bewusste Entscheidung, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich besser verstehen zu wollen. Das bedeutet auch, sich immer wieder selbst zu fragen: „Was brauche ich gerade?“

Pragmatisch kann das bedeuten, sich eine Liste oder ein Buch mit einer Übersicht aller Bedürfnisse zu besorgen sich immer wieder zu fragen, nachzuschauen, reinzuspüren und so langsam ein Gefühl für die eigenen Bedürfnisse zu entwickeln.

In meiner eigenen Entwicklung musste ich eines schmerzhaft feststellen: Nur weil ich mein Bedürfnis erkenne, heißt das nicht automatisch, dass es sofort erfüllt wird. Anfangs frustrierte mich das. Jetzt wusste ich endlich, was ich brauchte – und dann bekam ich es nicht. Doch genau hier wurde es spannend. Ich hatte drei entscheidende Punkte übersehen.

Drei Beispiele aus dem Alltag:

 

  1. Innere Ruhe entsteht durch Verständnis für mein Bedürfnis

Miriam fährt mit dem Fahrrad durch die Stadt, als ein Autofahrer noch schnell vor ihr abbiegt. Sie erschrickt, wird wütend, flucht – und hält dann inne. Plötzlich erkennt sie: Ihre Wut ist ein Signal für ein unerfülltes Bedürfnis. Sie fragt sich: „Was hätte ich in diesem Moment gebraucht?“ Die Antwort lautet: Achtsamkeit. Der Autofahrer hat ihr Bedürfnis nach Achtsamkeit und Sicherheit nicht erfüllt. Doch er ist längst verschwunden. Wie kann Miriam ihr Bedürfnis jetzt noch erfüllen?

Der Schlüssel ist Selbstverständnis. Sie sagt sich: „Ich habe Achtsamkeit gebraucht, weil mir Sicherheit im Straßenverkehr wichtig ist.“ Allein diese Erkenntnis führt zu Entspannung, weil der Fokus von der äußeren Situation auf das eigene Empfinden gelenkt wird. Hätte sie stattdessen nur erwartet, dass der Autofahrer sich anders verhält, wäre sie weiterhin in der Wut gefangen geblieben.

 

  1. Ich bin für meine Bedürfniserfüllung selbst verantwortlich

Simon kommt nach einem langen Arbeitstag nach Hause und sehnt sich nach Ruhe. Doch kaum öffnet er die Tür, springt ihm sein Kind entgegen, seine Partnerin erzählt von ihrem Tag und die Küche ist unaufgeräumt.

Er fühlt Frustration aufsteigen. Er hatte gehofft, dass jemand merkt, wie erschöpft er ist, und ihm einfach diesen Raum gibt. Doch dann wird ihm bewusst: Er hat sein Bedürfnis nicht geäußert und selbst nichts dafür getan, um Ruhe zu bekommen.

Also sagt er: „Ich brauche kurz einen Moment für mich, um runterzukommen. In 15 Minuten bin ich wieder voll da.“ Er nimmt sich diese kurze Auszeit, trinkt eine Tasse Tee – und kann danach wieder präsent für seine Familie sein. Simon hat erkannt: Es ist nicht die Aufgabe anderer, seine Bedürfnisse zu erraten. Er selbst trägt die Verantwortung dafür sie zu äußern und zu erfüllen.

 

  1. Nicht immer gibt es eine perfekte Lösung für alle Bedürfnisse gleichzeitig

Julia liebt ihre Familie und manchmal braucht sie einfach Zeit für sich. An einem Samstag spürt sie besonders stark ihren Wunsch nach Ruhe und Alleinsein. Gleichzeitig weiß sie, dass ihr Partner sich wünscht, gemeinsam als Familie etwas zu unternehmen, und ihr Kind nach Aufmerksamkeit verlangt. Früher hätte Julia sich zerrissen gefühlt – entweder hätte sie sich selbst zurückgestellt, um es allen recht zu machen, oder sie hätte sich mit schlechtem Gewissen zurückgezogen.

Also spricht sie mit ihrem Partner: „Ich merke, dass ich gerade dringend eine Pause brauche. Lass uns doch eine Lösung finden, die für uns beide passt. Vielleicht kann ich mir eine Stunde für mich nehmen, während du mit unserem Kind auf den Spielplatz gehst – und danach machen wir gemeinsam etwas Schönes.“ Diese Strategie erfüllt zwar nicht alle Bedürfnisse gleichzeitig, ist jedoch ein Kompromiss, der alle Bedürfnisse über den Tag verteilt erfüllt.

Zusammengefasst ist das Erkennen eigener Bedürfnisse ein wichtiger Schritt, doch bedeutet dies nicht automatisch, dass sie sofort oder überhaupt erfüllt werden. Innere Ruhe entsteht oft schon durch das bewusste Wahrnehmen und Verstehen eines unerfüllten Bedürfnisses. Indem wir Verantwortung für unsere eigenen Bedürfnisse übernehmen, anstatt darauf zu hoffen, dass andere sie erfüllen, gewinnen wir an Selbstbestimmung und vermeiden Frustration.

Gleichzeitig dürfen wir akzeptieren, dass nicht alle Bedürfnisse sofort erfüllt werden können. Manchmal braucht es Geduld, kreative Lösungen oder Kompromisse. Je bewusster wir unsere eigenen Bedürfnisse wahrnehmen, desto leichter verstehen wir auch die der anderen – und können gemeinsam Wege finden, sie zu erfüllen. Denn ein glücklicher Mensch ist vor allem jemand mit vielen Strategien.

 

 

 

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*