von Carolin Müller

Als unsere Autorin vor vielen Jahren die buddhistische Psychologie entdeckte, hatte sie bereits ein Hochschulstudium an einer deutschen Universität hinter sich und war in der kognitiven Verhaltenstherapie verwurzelt. Die buddhistische Psychologie hielt jedoch so viele überraschende und neue Sichtweisen bereit, dass sie seither viel Zeit und Mühe investiert hat, um die buddhistische Psychologie zu verinnerlichen und anzuwenden. In den vergangenen Jahren hat sie von Nonnen und Mönchen in Deutschland, Kanada und Indien gelernt, traf den Dalai Lama und veröffentlichte eine Buchreihe zum Thema.

Das Ich

Wir alle wissen, dass wir existieren. Wenn wir in den Spiegel schauen, erkennen wir uns wieder, wenn nicht, hätten wir ein Problem! Wir haben unsere Gedanken, unsere Ideen, unsere Überzeugungen, unsere Meinungen und wir haben auch unsere Arbeit, unsere Familie, unser Hab und Gut und unsere Konten bei der Bank. Tatsächlich ist dies in der westlichen Kultur und der westlichen Psychologie eine solche Selbstverständlichkeit, dass wir nicht einmal wagen, solche Vermutungen in Frage zu stellen. Erinnern Sie sich an die berühmte Aussage von Descartes: Ich denke, also bin ich. Das ist der Ursprung unserer individuellen Existenz. Im Allgemeinen wird in der westlichen Psychologie davon ausgegangen, dass das Ich existiert.  

Das bedeutet, dass selbst wenn Sie Ihren Namen, Ihren Beruf oder Ihren Wohnort ändern, und selbst wenn Sie Ihre tiefsten Überzeugungen ändern, es immer noch etwas geben wird, das sich nie ändern wird: und das ist Ihr Ich, Ihr angeborenes Selbst oder Ihr Ego. Sie können darüber wie über ein Gefäß denken, das immer zur Verfügung steht, um Ihre Gedanken, Ideen, Emotionen usw. zu enthalten. Jeder Mensch hätte ein solches Gefäß, das sich von anderen unterscheidet und einzigartig ist. Wir könnten es auch als individuellen Verstand oder Bewusstsein bezeichnen. Ich sagte „hätte“ und „könnten“. Was, wenn das so gar nicht wahr ist?

Nicht-Selbst

Was ist der Unterschied zwischen Ihrem leeren Behälter und meinem leeren Behälter? Können wir irgendeinen wesentlichen Unterschied feststellen? Was wäre, wenn wir alle dasselbe Gefäß oder Bewusstsein teilen, aber jeder von uns nur sein eigenes als eine von den anderen verschiedene und abgetrennte Einheit wahrnimmt?

Hier befinden wir uns bereits im Herzen einer fundamentalen Lehre der buddhistischen Psychologie, die im Sanskrit „anātman“ oder die Lehre vom „Nicht-Selbst“ genannt wird. Glauben Sie, dass Sie wirklich einen Kern haben und dass dies das ist, was Sie „Ihr Selbst“ oder „Ihr Ich“ nennen? Buddha und jeder buddhistische Gelehrte würde Ihnen sagen, dass Sie falsch liegen.

Laut der buddhistischen Psychologie ist genau dies der allgemeine Irrtum, dem wir alle unterliegen. Unsere Wahrnehmung ist fehlerhaft und wir halten sie fälschlicherweise für die Realität dieser Welt.

In der westlichen Psychologie existiert das Ich, das sich mit dem identifiziert, was wir erlebt haben, was wir besitzen, wer wir glauben zu sein etc. Wenn wir uns nicht mit solchen Dingen und Erlebnissen identifizieren, erleben wir, laut der westlichen Psychologie, eine Identitätskrise. In der Buddhistischen Psychologie wird die Existenz eines Selbst oder Ich als Illusion betrachtet. Es wird nicht in Frage gestellt, dass Sie als Person existieren. Aber dieses Selbst, dem Sie so viel Stabilität zuschreiben, wird als Illusion angesehen. Was wir allgemeinhin als Ich bezeichnen, ist nur eine Ansammlung von sich ständig verändernden physischen und psychischen Bestandteilen.

Die Ursache des Leidens

Die buddhistische Psychologie geht noch viel tiefer als nur festzustellen, dass das Selbst nicht existiert. Das Nicht-Selbst bereitet nur die Bühne für das vor, was als nächstes kommt. Nach der buddhistischen Psychologie ist all unser Leiden in unserer starken Bindung und unserem Glauben verwurzelt, dass das Selbst existiert! Die Ursachen unseres Leidens, so erklärte der Buddha, liegen in unserer Unwissenheit über die Realität der Dinge, in unserer Anhaftung an das Selbst, an Ideen und an Dinge und in unserem Widerstand gegenüber Veränderungen, Altern, Sterben usw. In Wirklichkeit ist dies jedoch der „ursprüngliche“ Fehler, der zu allen anderen führt. Sobald wir daran glauben, dass wir als eine von den Anderen und der Welt um uns herum abgetrennte Einheit existieren, fangen wir an, uns nach Dingen zu sehnen. Wir wollen Nahrung, Geld, Macht, Glück, Vergnügen, alles Erdenkliche. Und wir wollen keinen Schmerz, kein Elend, keine Scham, keinen Hunger, keine Traurigkeit, keine Einsamkeit usw. Aus westlicher Sicht mag das völlig richtig klingen. Aus buddhistischer Sicht führt uns das zu emotionalem Leid, was zum Beispiel bedeuten kann, Angst davor zu haben, das zu verlieren, was wir haben, Traurigkeit im Zusammenhang mit zerbrochenen Beziehungen, Unzufriedenheit, weil wir nicht bekommen, was wir wollen, Frustration, weil wir uns nicht so verstanden und respektiert fühlen, wie wir es gerne hätten, Wut wegen dem, was andere zu uns sagen oder wegen eines Staus im Feierabendverkehr, Angst vor dem Schreckgespenst des Alterns und Sterbens… Die Liste kann sehr lang sein.

Mit anderen Worten, weil wir zutiefst an unser Ego glauben, werden wir egozentrisch und selbstorientiert. Wir tun alles mit dem Ziel, dieses Ego zu befriedigen oder es vor Schmerz zu schützen. Diese Lebensweise kann als der richtige Weg erscheinen, um erfolgreich zu sein, aber was ist, wenn Sie dadurch ein Leben führen, das einem ständigen Wechsel von Vergnügen und Schmerz unterliegt? Möchten Sie von vorübergehendem Glück zu vorübergehendem Leid wechseln – in einem nimmer endenden Kreislauf? Nach Auffassung der buddhistischen Psychologie können dauerhafte Freude und Glück nicht erreicht werden, ohne die Bindung an das Ego, also an die Idee der ihm innewohnenden Existenz, zu beenden oder zumindest erheblich zu reduzieren.

Sobald Sie daran glauben, dass Ihr Ego nicht von sich aus existiert, dass es einfach etwas ist, das niemandem im Speziellen gehört, dass es sich genau wie die Wolken am Himmel verändert, können Sie sich von Ihren bisherigen Sorgen und Denkmustern loslösen. Der Kreislauf des Leidens löst sich auf und  Sie werden in der Lage sein, anderen zu helfen, die gleiche Ebene des Glücks und Bewusstseins zu erreichen. Das ist in einem sehr komprimierten Satz der Weg, den Buddha selbst gegangen ist. Die Buddhisten bezeichnen ihn als den Zustand des Erwachens. Aber wie ist es möglich, so ungebunden an sich selbst zu sein und so frei zu zu werden? Ist das wirklich möglich? Führt es wirklich zu dauerhaftem Glück und steigert das Gefühl des Wohlbefindens?

Zumindest zu dieser letzten Frage kann ich ja sagen. Es gibt zahlreiche empirische Studien im Bereich der Klinischen Psychologie, die belegen, dass buddhistisch fundierte therapeutische Ansätze signifikante Auswirkungen auf die Linderung von Depressionen, Ängsten, geringem Selbstwertgefühl und vielen dieser häufigen milderen Störungen haben. Dieselben Studien haben ebenfalls gezeigt, dass sie das allgemeine Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit erheblich steigern.

Dennoch gibt es keine klare Antwort auf die Frage: Wie geschieht Erwachen? In der Psychologie ist das nicht die Frage, die am relevantesten ist, wir konzentrieren uns vielmehr darauf, wie man den Weg zu diesem Ziel beschreitet, um unmittelbare positive Auswirkungen zu spüren.

Kontinuum psychischer Erkrankungen

In meiner Arbeit verbinde ich gerne Techniken aus der Kognitiven Verhaltenstherapie, einer wissenschaftlich sehr fundierten Methode, mit dem breiten Spektrum und dem ganzheitlichen Ansatz der buddhistischen Psychologie. Der westliche Ansatz kann sehr hilfreich sein, um präzise Funktionsstörungen zu beheben, indem man an den Gedanken und Verhaltensweisen arbeitet. Der buddhistische Ansatz kann wiederum dabei helfen, aus vielen kleinen Veränderungen eine ganz neue Perspektive auf das eigene Leben zu entwickeln. Auf diese Weise werden die psychologischen Fortschritte, die wir erzielen, nicht nur das zu erreichende Ziel, sondern der Ausgangspunkt, auf dem wir aufbauen können.

Um diesen Punkt besser zu veranschaulichen, möchte ich Ihnen einen letzten interessanten Unterschied zwischen der westlichen und der buddhistischen Psychologie erzählen. Es geht darum, wie man psychische Krankheit definiert. Aus westlicher Sicht denken wir gewöhnlich an jemanden, der – relativ zu unseren Standards – Probleme in der eigenen Funktionalität aufzeigt, d.h. zum Beispiel nicht mehr leistungsfähig ist, den Alltag nicht mehr bewältigen kann, Probleme in der eigenen Sexualität beschreibt etc. Auf diese Weise schaffen wir eine Art Kontinuum von psychischen Erkrankungen aus Menschen, die an einem Punkt perfekt funktionsfähig sind, und Menschen, die am anderen Rand extrem dysfunktional sind. Auf der einen Seite haben wir also die geistig sehr gesunden Menschen und auf der anderen Seite diejenigen, die geistig sehr krank sind.

Die buddhistische Psychologie betrachtet die Funktionalität nicht als Kriterium für geistige Gesundheit. Noch überraschender ist, dass das Kontinuum der psychischen Erkrankungen nicht zwischen Menschen, die geistig gesund sind, und solchen, die krank sind, geteilt wird. Es ist vielmehr gezeichnet zwischen denen, die extrem krank sind, und denen, die leicht krank sind. Mit anderen Worten, aus Sicht der buddhistischen Psychologie sind wir alle krank. Und warum? Weil wir alle, mehr oder minder stark, an ein Selbst glauben. Aus dieser Perspektive sind die einzigen Menschen, die nicht krank sind, die Erwachten.

Aber niemand kann sagen, wo man einen von ihnen finden kann!

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