von Till Ferneburg

Krise ist immer auch eine Chance: Beziehungen zu festigen und Nähe herzustellen, über unsere Art, in der Welt zu sein, nachzudenken sowie die Liebe neu zu entdecken.

Vollberufstätige Eltern äußern gelegentlich den Wunsch, sie würden gerne mehr Zeit mit ihren Kindern haben. Dieser Moment ist für Wochen und Monate da, anders als wir ihn uns vorgestellt haben, aber dennoch gegeben. Jetzt. Heute. In diesem Augenblick. Statt Bücher über Entschleunigung und Achtsamkeit zu lesen, können wir unmittelbar zur Tat schreiten. Aus Theorie wird Praxis. 

Der Soziologe Hartmut Rosa nennt das Virus „den radikalsten Entschleuniger unserer Zeit“. Zurückgeworfen auf die eigenen Ressourcen kann die Krise eine Zeit der Erkenntnis sein. Womit beginnt diese Erkenntnis? Wir bemerken zunächst das, was fehlt: Familienfeste, das Glas Wein im Freundeskreis, der unmittelbare Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen. Home Office mag funktionieren, bringt aber weniger Bestätigung und Sinngefühl. Wenn jeder alleine für sich an einem anderen Ort arbeitet, ist die Rückkopplung eine andere. Hinzukommt, dass Arbeit sich genau in dem Maße ausdehnt, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht. Die Krise verlangt auch vom kollektiv veranlagten Teamplayer ein hohes Maß an Selbstständigkeit. 

Struktur und Chancen

Wenn der Tag formlos wird, dann raubt er Energie und Sinn. Wir machen die Erfahrung, unseren Tag strukturieren zu müssen, ein gutes Verhältnis von Nähe und Distanz zu entwickeln – auch familiär. Alleinerziehende Mütter und Väter sind über alle Maßen beansprucht. Für viele Menschen ist die Krise eine Defizit-, für manche eine Angsterfahrung. Wenn wir Ordnung als fragil empfinden, wollen wir im Außen Sicherheit erlangen, indem wir Vorräte anlegen oder den Keller aufräumen. Das ist legitim und ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Auch diese Phase des Ordnung-Schaffens zieht vorbei. Manche beschleunigen in der virtuellen Welt und verbringen noch mehr Zeit im Internet als ohnehin schon. Der Diskurs in Echtzeit kann alles potenzieren. Keiner möchte etwas verpassen. Vor allen Dingen nicht die Besserung der Lage und das Ende der Maßnahmen. Aber ist es wirklich sinnvoll, auf das Rebooten zu setzen und nach dem Zeit-Verstreichen das längst Vergangene wieder hoch zu fahren? 

Warten wir also ab und funktionieren wir lediglich? Nein, denn nach ein paar Tagen, können wir feststellen, was die Krise eben auch ist: 

– Eine Chance für mehr Nähe innerhalb der Familie und Gemeinschaft; für gute Kommunikation, die Nähe schafft, uns einander zuhören lässt – ohne Fokus auf Klicks und Likes. 

– Eine Chance für Nicht-Konsum und Verzicht auf Unterwegs-Sein und Haben-Müssen. Wir können jetzt nicht mehr schnell dahin und noch kurz dort das machen.

– Eine Chance für Spontaneität und Kreativität, neue Pläne und Fokussiertheit. Wer ansonsten immerzu To-Do-Listen abarbeitet kann diesen auf Leistung ausgelegten lifestyle jetzt komplett überdenken. 

Diese „angenehmen“ Nebenwirkungen kommen ausschließlich denen zugute, die gerade nicht um ihre Jobs bangen oder die Gesellschaft versorgen zu müssen. Es ist ein Privileg, zuhause bleiben zu können. Es ist ein Geschenk, eine Partnerin oder einen Partner zu haben, mit dem man sich bei der Betreuung der Kinder abwechseln kann.  

Ich meine: Reale, physische Kontakte sind in der digitalen Welt wichtiger denn je. Die Quarantäne macht uns bewusster, wie wichtig das Miteinander aus Begegnung und Berührung ist. Gibt es eine Zunahme von Sinnlichkeit und Empathie? Werden wir empfänglicher für die Liebe zwischen den Menschen und machen diese Liebe? Telefonieren wir und schreiben Briefe? Verwöhnen wir uns mit Berührung und Massage? Würfelspielen, Basteleien oder Koch-Sessions? Sind wir uns dieser besonderen, behutsamen Zeit bewusst? 

Es gibt nichts zu überbrücken. Es gilt, sich einzulassen. Auf das Schöne, das diese langsame Zeit eben auch (!) ermöglicht. Aktivieren wir das wahre Potential unserer Beziehungen, vertiefen wir Freundschaften und heilen wir manche Wunde. Ich habe so viel telefoniert wie lange nicht mehr. Jetzt löst sich auf, was nicht zusammengehört und findet zusammen, was echt ist und nährt. Der Samen einer neuen Zeit schweißt uns zusammen. Fassen wir uns also an, im kleinen Kreis der Lieben; fühlen wir diese Verbundenheit und vereinigen wir uns mit dem Leben. Das Bewußtsein für die Schönheit von Gemeinschaft wächst. Unsere Bindungen, Beziehungen und Freundschaften werden stärker denn je… Corona, das ist der Strahlenkranz um die Sonne, der nur bei einer totalen Sonnenfinsternis sichtbar wird. In der Finsternis strahlt die Kraft der Liebe. 

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