Nach der Krise ist vor der Krise

In der Corona-Krise hat sich für viele eine schmerzhafte Polarisierung gezeigt.
Wie finden wir Wege zu einem Miteinander, das Widersprüche hält und konstruktiv mit Verschiedenheit umgehen kann?

von Dieter Halbach

Das Corona-Virus hat auch ein soziales Virus in Gang gesetzt. Einer schon existierenden Kultur der Trennung wurde eine Therapie durch Isolation verordnet. Ein zunehmender Riss der Weltanschauungen trennt seitdem unsere Familien und Gemeinschaften. Die noch harmloseste Version vieler meiner Freunde ist: Die Regierung will uns entmachten! Insgesamt 17 Prozent der Deutschen gaben an, dass sie die Krise für einen Vorwand der Politik halten, um Freiheitsrechte abzuschaffen. Fast zwei Drittel meinten jedoch, Verschwörungsmythen seien eine Gefahr für die Demokratie (ARD-Magazin »Kontraste«). Die Gesellschaft ist also tief gespalten und ich frage mich, was meine eigene spirituelle, künstlerische und alternative Szene dafür so anfällig macht.

In der Krise wurden drei Ur-Traumata aktiviert: die Angst vor Tod und Sterben, die Angst vor Isolation und Verlust von Bindung und die Angst vor Fremdbestimmung und Manipulation. Je nachdem, welchem dieser Trauma-Typen wir angehören, reagieren wir entsprechend eher mit Angst und Anpassung, mit Harmoniesuche und Rückzug oder mit Rebellion und Wut. Ich beispielsweise empfinde mich als selbstbestimmten Menschen, aber als Bindungstyp beunruhigt mich zutiefst das entstehende aggressive Chaos.

Doch wie kann ich überhaupt erkennen, ob ich gerade in einem Trauma-Modus bin? Typische Symptome dafür sind z. B., wenn wir wie taub und erstarrt sind oder überdreht reagieren, wenn wir uns nicht in das Gegenüber einfühlen können und uns ständig im Recht fühlen. Auf jeden Fall steht die Intensität der Gefühle nicht im Verhältnis zum äußeren Anlass. Dann sollten wir lernen auszusteigen, uns eventuell Hilfe holen, eine unterstützende Situation aufbauen, um erst dann wieder in den Kontakt zurückzukehren, wenn wir wieder dafür offen sind. Die Disziplin besteht darin, innezuhalten und sich selbst zu beruhigen, die Sichtweise der anderen Seite zu verstehen, die eigenen Emotionen auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen.

Diese Fähigkeit zu erlangen, gleichzeitig nach innen und außen zu schauen, ist ein lebenslanger Übungsweg. Er findet in der Welt statt und wird über das Schicksal der Welt entscheiden. Die Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen heißt nicht, dass wir zu einem Thema keine Meinung haben. Aber indem wir gleichzeitig nach innen und außen schauen, lernen wir in einen schöpferischen Dialog zu treten, für die Welt Verantwortung zu übernehmen und Selbstgerechtigkeit zu vermeiden. Ein schönes Wort für diese demokratische Fähigkeit ist die »empathische Konfrontation«.

Nach meiner Erfahrung muss für einen Dialog zuerst eine sichere Situation gegenseitiger Anerkennung aufgebaut werden. In den von mir mitgestalteten Bürgerdialogen in Bad Belzig vermeiden wir losgelöste Meinungsdiskussionen und ermöglichen ein respektvolles Sprechen, Hören und Anerkennen von unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen. Auf der politischen Ebene ist es die Idee von durch Los bestimmten, moderierten Bürgerräten, in denen alle Teile der Gesellschaft repräsentiert sind und einen gemeinsamen Lösungsvorschlag erarbeiten. Das sind wichtige Schritte für eine Integration und Vermenschlichung von Gesellschaft.

Erwachsene Haltung

Der Bereich gesellschaftlicher Strukturen ist in der spirituell-alternativen Szene jedoch noch kaum beleuchtet: Sie tanzt zwischen eigenen Machtfantasien und Ohnmacht hin und her. Der spirituelle Lehrer Thomas Hübl antwortet auf die Frage der Fremdbestimmung so: »Ich frage mich, wie wir es schaffen können, aus einer erwachsenen Haltung heraus an einem Demokratieprozess teilzunehmen. Meine Frage ist, ob der Teil, der sich fremdbestimmt fühlt, aus meinem erwachsenen Selbst kommt, oder ob ich da an jüngeren Stellen in mir berührt bin und sie dann von mir auf die Gesellschaft projiziere. Wo fühle ich mich als Teil von etwas und wo schaue ich von außen auf ein System, das mich reguliert. Das ist jetzt gerade ein wichtiges Thema bei den uns auferlegten Regeln. Aber ich schaue selbst: Wofür entscheide ich mich denn? Von daher habe ich nicht das Gefühl fremdbestimmt zu sein, auch nicht in dieser Corona-Zeit.«

Wir müssen uns also auch über unser inneres Bild von Demokratie verständigen. Gerade in der alternativen Szene, die sich so sehr nach Heilung und Ganzheit sehnt, gibt es einen Wunsch nach unterkomplexer Einheit, die noch keine Einheit in der Vielfalt aushält. Das »System« wird oft als etwas »da draußen«, als eine fremde Macht erlebt. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist Stephan Bergmann, der »Mann im roten Shirt« vom Verein für indianische Lebensweisen. Berühmt geworden auf den Corona-Demos ruft er den Menschen zu: »Mal Handzeichen: Wer möchte einfach eine bessere Welt hier? Ich würde sagen, dass sind alle!« Er meint, wir leben jetzt im Moment der Wahrheit: »Es gibt irgendwann keine andere Seite mehr. Wir lösen einfach die andere Seite auf. Ob es eine andere Hautfarbe ist oder eine andere politische Meinung, das verschwindet alles und wir kommen als eine Menschheit zusammen.«

Ein weiteres Beispiel ist die Gründung der Partei Widerstand 2020. Ihr Mitgründer Bodo Schiffmann träumt als Gegenbild zur vermeintlichen Corona-Diktatur von indianischen Redestab-Runden in seiner Partei, die er später auch im Parlament anwenden möchte. Mit dem einfachen Motto »Freiheit!« hatte die Partei in kürzester Zeit per Klick ca. 150.000 sogenannte Mitglieder. Jetzt hat sie keine mehr und Schiffmann ist zurückgetreten und sagt: »Jeder kann alles machen, funktioniert so nicht.« Dennoch spricht er weiterhin von »dem Volk« und gründete innerhalb von Tagen seine eigene Partei »WIR 2020«.

Inneres Demokratiebild

Beide Beispiele berühren mich merkwürdig. Im Gegensatz zu Bodo Schiffmann habe ich hunderte von Redestab-Runden erlebt und weiß um ihre gute, aber auch ihre begrenzte Wirkungsweise, die sich allein schon mit der Schnelligkeit und Größe ihrer Partei nicht verträgt. Bei meiner Selbsterforschung merke ich auch, dass der »Mann im roten Shirt« mich zugleich traurig und wütend macht. Wahrscheinlich, weil ich selbst einmal so naiv, aber auch so vereinnahmend war. Ich fühle die gemeinsame Suche nach Verbundenheit, aber die Selbstüberhöhung und gesellschaftliche Blindheit stößt mich ab. Denn auch Naivität kann gefährlich sein: Den fatalen Abkürzungsweg von individueller Ganzheitssuche zu kollektivem Ganzheitswahn hat uns die Lebensreformbewegung Anfang 1900 in Deutschland vorgeführt. Ihre Kommunen, Lichtkünstler und Heilssuchenden sind massenweise in der Hitlerbewegung gelandet.

Dem heutigen »Freiheits-Narzissmus« mit dem Grundgesetz in der Hand und dem Faschismusvorwurf auf den Lippen liegt ein Demokratiebild zugrunde, das sich als direkte Selbstbestimmung eines homogenen Volkes sieht: »Wir sind das Volk!« und »Ich bin göttlich!« sind dann nah beieinander. Wobei jeder sich sein »Volk« und sein göttliches »Ego« selbst zusammenbastelt. Der Philosoph Alexander Grau sagt über diese vielen Millionen Götter der Moderne: »Der emanzipierte Individualist unserer Gegenwart will sein Leben radikal autonom führen – und seine Sicht auf sich selbst ist die einzig wahre.« Als kleinem Selbsterlösungsgott verlangt es den Individualisten jedoch nach einer Echokammer: »In einer Gesellschaft, in der jeder anders sein will, wird die Zugehörigkeit zu einer Minderheit zum Beleg authentischen Selbstseins: Ich bin Minderheit, also bin ich.« (NZZ 20.6.2020 oder Evolve-Magazin, ohne Schranke)

Es ist diese Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Zugehörigkeit und Verbundenheit, die auch viele meiner Freunde anspricht. Demgegenüber ist Demokratie in einer individuellen und aufgeklärten Kultur eine Repräsentation der Vielen und ein komplexes System der Gewaltenteilung. Hier gibt es keine einfache »Wahrheit« und kein Aufgehen im »Ganzen«. Demokratie erfordert erwachsene Menschen, die ihre eigenen Widersprüche und die der anderen integrieren können. »Verunsicherungsfähigkeit« ist eine Kernkompetenz in Krisenzeiten. Zum »Erleuchtungsweg« gehört es heute, nicht zurück in homogene Kollektive zu gehen, sondern nach vorne in eine Gemeinschaft von acht Milliarden Menschen und unterschiedlichen Kulturen.

Wie herausfordernd eine solche »Verunsicherungsfähigkeit« ist, kennt jeder aus seinen eigenen Beziehungen. In sich selbst als einem widersprüchlichen und verletzbaren Wesen zuhause zu sein, ist die Voraussetzung, um auf dem »Marktplatz der Welt« heimisch zu werden. Für eine reale Demokratisierung brauchen wir eine »innere Demokratie« in jedem von uns, damit wir die ganze vielfältige Gesellschaft in uns umarmen können.

 

Evolve-Magazin
Erstveröffentlichung in der evolve Ausgabe 27 / 2020:
SCHÖNHEIT in einer zerrissenen Welt

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