von Selina Kühlwein und Marita Rosowski

Kindheitserfahrungen wirken stark in unserem Erwachsenenleben. Ein Zitat des Trauma-Experten Gabor Maté zeigt eine Auswirkung zum Beispiel in unserer Partnerwahl: „Wir suchen immer nach den Dysfunktionen unserer Eltern in unserem Partner.“

Matés Zitat zeigt auf einer tiefenpsychologischen Ebene die Wiederholung bekannter Muster, die Suche nach dem Vertrauten und die Sehnsucht nach Heilung und Wachstum. Hier kann das Konzept des inneren Kindes helfen, diese Dynamiken besser zu verstehen.

Das innere Kind

Das Konzept des inneren Kindes führt uns tief in die emotionale Welt unserer Kindheit. Es zeigt die prägenden Erfahrungen und Glaubenssätze, die uns damals geformt haben und die oft im Verborgenen unser Erwachsenenleben beeinflussen. Unsere Psyche ist wie ein Mosaik aus inneren Stimmen – verletzte, verzweifelte und traumatisierte Anteile, die sich nach Heilung sehnen, aber auch neugierige, verspielte und gesunde Seiten, die voller Lebendigkeit sind.

Bereits im Mutterleib beginnt der Prozess der Prägung. Die Gefühle der Mutter gegenüber dem Ungeborenen und die Bedingungen während der Schwangerschaft formen erste Glaubenssätze. Beispielsweise kann ein sicheres Umfeld dazu beitragen, dass ein Kind unbewusst den Glaubenssatz „Ich bin gewollt“ verinnerlicht. Umgekehrt können Stress oder Ablehnung durch die  Mutter Glaubenssätze wie „Ich bin eine Last“ begünstigen.

Das innere Kind in fünf Lebensphasen

Das erste Lebensjahr ist entscheidend für das Gefühl der Existenzberechtigung und des Sicherheitsgefühls. In einem stabilen und liebevollen Umfeld entstehen Glaubenssätze wie „Die Welt ist ein sicherer Ort“. Ein unsicheres oder vernachlässigendes Umfeld kann jedoch zu Glaubenssätzen führen, wie „Ich darf nicht existieren“ oder „Ich werde nicht gehört“.

In der Autonomiephase, die zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr liegt, entwickelt sich die erste Selbstständigkeit, die Fähigkeit, Grenzen zu setzen, und das Empfinden von Kontrolle. Ein Kind, das ermutigt wird, seine Bedürfnisse und Emotionen auszudrücken, verinnerlicht Glaubenssätze wie „Ich bin wichtig“, „Es ist okay, wenn ich nein sage“ und „Ich darf Fehler machen“. Werden diese Impulse jedoch unterdrückt oder bestraft, entstehen Glaubenssätze, wie „Ich darf meine Gefühle nicht zeigen“ oder „Meine Grenzen zählen nicht“.

Bis zur Einschulung erweitert sich das Bewusstsein des Kindes für seinen Einfluss auf die Umwelt. Es testet Grenzen, um sein Bedürfnis nach Autonomie oder Führung zu befriedigen. In einem stabilen Umfeld lernt es dabei Glaubenssätze wie „Ich kann lernen, mit meinen Gefühlen umzugehen“ oder „Es ist normal, verschiedene Gefühle zu haben“. Fehlt die einfühlsame Unterstützung von Bezugspersonen, entstehen Glaubenssätze wie „Ich bin eine Belastung“ oder „Ich bin alleine mit meinen Gefühlen“.

Von sechs bis zwölf Jahren reift das Bewusstsein für die eigenen Gefühle und die Verantwortung für das eigene Handeln. Gleichzeitig entwickelt sich ein gesundes Selbstwertgefühl. Erfahrungen wie Anerkennung und Erfolg führen zu Glaubenssätzen wie „Ich bin gut so, wie ich bin“ oder „Ich kann etwas erreichen“. Erfahrungen, wie übertriebene Kritik oder Zurückweisung, festigen Sätze wie „Ich muss perfekt sein“ oder „Ich bin nicht gut genug“.

Die Pubertät und das junge Erwachsenenalter stabilisieren oder festigen diese Glaubenssätze, die in den früheren Phasen geformt wurden. Zwar entstehen auch in dieser Zeit noch neue Anteile, doch die Grundlage dafür ist bereits gelegt.

Grundsätzlich gilt: Fühlt sich ein Kind sicher, verstanden, angenommen und geliebt, entwickelt es ein „gesundes“ inneres Kind, das auf Ressourcen zurückgreifen kann. Erfährt ein Kind hingegen übermäßige Kritik, Ignoranz, Verletzungen, Überbehütung oder Ablehnung, entwickelt es ein verletztes inneres Kind mit oftmals starken Überlebensstrategien. Diese Strategien können bis ins Erwachsenenalter unbewusst bleiben und sich in destruktiven Verhaltensmustern oder wiederkehrenden Konflikten zeigen.

Sabrina und ihr inneres Kind

Um diese Dynamik greifbarer zu machen, ein Beispiel: Sabrina wächst in einem strengen Elternhaus auf, in dem sie ihre Gefühle nicht zeigen darf, bzw. es gefährlich ist, emotional zu reagieren; besonders Wut ist verpönt. Bei Äußerungen von Wünschen oder Bedürfnissen wird sie übergangen oder nicht ernst genommen. Stattdessen muss sich Sabrina um die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder, vor allem der ihrer Mutter kümmern.

Im Fall von Sabrina entsteht ein inneres Kind, welches glaubt: „Ich darf keine Bedürfnisse haben“ und „Ich bin es nicht wert, dass meine Bedürfnisse erfüllt werden“. Als Erwachsene ist Sabrina von diesen Prägungen stark beeinflusst. Sie nimmt ihre eigenen Bedürfnisse kaum wahr, da ihr von klein auf eingetrichtert wurde, dass sie gar keine haben darf. Ihre Überlebensstrategie besteht darin, sich selbst ihre Bedürfnisse zu verbieten, um der Enttäuschung zu entgehen, wieder übergangen zu werden oder Wünsche nicht erfüllt zu bekommen. Was nicht gewünscht wird, kann nicht enttäuscht werden. Dieser Mechanismus führt jedoch zu einem inneren Konflikt: Während ein Teil von ihr danach schreit, endlich gesehen und wahrgenommen zu werden, verbietet ein anderer Teil ihr genau das. Der aufgestaute Frust entlädt sich dann häufig in destruktivem Verhalten anderen gegenüber, da sie selbst keine Verantwortung für ihre Bedürfnisse übernimmt und diese stattdessen auf andere projiziert.

Wie genau sieht dieses Verhalten in der Praxis aus? Hier eine mögliche Szene:

Sabrina ist nun erwachsen und hat eine Familie gegründet. Ihre zwei Kinder und ihr Partner leben zusammen mit ihr in einer Wohnung. Nach einem langen Arbeitstag hat Sabrina das Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung. Aufgrund ihrer Struktur kann sie ihre Bedürfnisse nicht richtig wahrnehmen. Sie bemerkt etwas in sich, etwas beginnt zu rumoren. Sie kann es aber nicht einordnen. Also kocht sie das Abendessen und kümmert sich auch um das Tischdecken. Währenddessen wächst ihre innere Anspannung. Als die Familie zum Tisch kommt, entlädt sich ihre innere Anspannung, indem sie wegen jeder Kleinigkeit, wie etwa der Krümel auf der Tischdecke, zu meckern beginnt.

In der Therapie verbildlichen wir so eine Situation: „Der Erwachsene hat sein inneres Kind auf den Schoß des anderen gesetzt“ – in diesem Fall ihrem Ehemann und den Kindern. Zu diesen sagt es dann: „Erfülle mir mein Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung.“

Sabrina müsste jetzt bewusst werden, dass sie das Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung hat. Denn dann kann sie Verantwortung für ihr Bedürfnis übernehmen und ihr inneres Kind wieder zu sich holen.

Dieses Bewusstwerden wird allerdings erschwert durch ihre unbewussten Glaubenssätze „Ich darf keine Bedürfnisse haben“ und „Ich bin es nicht wert, dass meine Bedürfnisse erfüllt werden“. Selbst wenn Sabrina den ersten Glaubenssatz wahrnehmen und auflösen könnte, hält der zweite – immer noch unbewusste – sie noch davon ab, ihr Bedürfnis erfüllt zu bekommen oder es sich selbst zu erfüllen. Das System der Überlebensstrategien hält sich in sich geschlossen, um den alten Schmerz bzw. die schwere Verletzung nicht wieder spüren zu müssen.

Perspektivwechsel: Der liebevolle Blick auf sich selbst

Dieses Beispiel macht deutlich, wie Überlebensstrategien im Erwachsenenalter funktionieren und wirken können. Häufig mit dem Ziel sich vor altem Schmerz und intensiven Gefühlen, wie Verzweiflung, Panik, Angst oder Scham zu schützen.

Die Arbeit mit dem inneren Kind bedeutet in erster Linie, destruktive Verhaltensmuster nicht länger als Schwäche oder Fehler zu bewerten. Vielmehr sollen sie als Wege begriffen werden, die uns einst geholfen haben, schwierige Situationen zu überstehen. Indem wir diese Perspektive einnehmen, können wir beginnen, mit uns selbst verständnisvoller und liebevoller umzugehen.

Du kennst doch bestimmt Momente, in denen dich dein Verhalten im Nachhinein „tierisch“ ärgert. Vielleicht hast du dir geschworen, beim nächsten Mal anders zu reagieren – doch irgendwie klappt es nicht. Genau diese Verhaltensweisen können ein Hinweis auf dein inneres Kind sein und dir zeigen, wo alte Muster wirken und wo du heilen kannst.

Indem du einen neuen, bewertungsfreien Kontakt zu dir selbst findest, entsteht auch ein neuer, authentischer Kontakt zu anderen. Heilung beginnt bei dir – und strahlt nach außen.

 

Selina Kühlwein

Selina Kühlwein ist integrative Gestalttherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie mit eigener Praxis in Potsdam. Ihr therapeutischer Ansatz basiert auf dem tiefem Verständnis für die individuelle Lebensgeschichte ihrer KlientInnen und der Überzeugung, dass persönliche Entwicklung und Heilung durch Selbstwahrnehmung und authentischen Ausdruck möglich sind. Ihre therapeutische Arbeit beinhaltet auch körperorientierte Methoden, darunter Pilates und PMR.

Mehr Infos: www.gestalttherapie-in-potsdam.de

Kommende Veranstaltung: www.sein.de/brandenburg/der-inneres-kind-prozess-nach-rosowski-und-kuehlwein

 
 

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