Wenn wir nicht mehr versuchen, »normalen Sex« haben zu wollen, können wir uns den wichtigeren Fragen zuwenden. Sex ist bei uns Menschen mehr als ein »natürlicher Trieb«, wir drücken uns über unsere Sexualität als Menschen aus und treten mit ihr auf unsere eigene Art und Weise in Beziehung. Wir können mit unserer Sexualität jemanden lieben oder verachten. Wir können uns Bestätigung oder Entspannung holen. Wir können Matratzensport betreiben oder unsere Körper können im Bett miteinander verschmelzen. Wir können uns beim Sex anöden oder in ekstatische Zustände geraten. Wir können dabei die schönsten und die schrecklichsten Erfahrungen machen. Wir werden unsere Sexualität nur dann verstehen, wenn wir sehen, wie verwoben sie mit dem Rest unseres Lebens ist. 

Sie haben es vielleicht schon einmal erlebt: der Sex, mit jemandem, in den man frisch verliebt ist, ist aufregend und neu. Man ist süchtig nach Berührung des neuen Körpers und kann die Finger nicht voneinander lassen. Trotz schlaflos durchvögelter Nacht springt man danach gut gelaunt und beschwingt aus dem Bett.

Wenn wir frisch verliebt sind, rauscht ein ganzer Hormon-Cocktail durch unsere Blutbahn und vernebelt uns die Sinne. In dem Cocktail befinden sich neben den Geschlechtshormonen wie dem Testosteron eine Vielzahl von Botenstoffen wie das sogenannte Glückshormon Dopamin. Biochemisch gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen Verliebten und Drogensüchtigen. Sie schweben im siebten Himmel und wollen so viel wie möglich von ihrer »Droge« haben. Und frisch Verliebte verhalten sich ja auch so unzurechnungsfähig wie Drogensüchtige. Wenn man verliebt ist, werden im Gehirn die gleichen Rezeptoren besetzt wie bei Alkohol- oder Heroinsüchtigen. Doch dieser verliebte Hormonrausch-Sex hat ein Verfallsdatum. Nach einigen Wochen bis einigen Monaten legt sich der Rausch. Man muss sagen: glücklicherweise, denn in dem Zustand sind wir kaum arbeitsfähig und auch sonst zu wenig anderem zu gebrauchen.

Die Flaute im Bett

Ist man zu Beginn der Beziehung manchmal mehrmals am Tag übereinander hergefallen, sinkt die Frequenz im Laufe der Zeit deutlich ab und zwar weitgehend unabhängig vom Alter.  Nach drei bis fünf Beziehungsjahren ist die Verkehrsdichte auf durchschnittlich zweimal in der Woche gesunken. Nach dem zehnten Beziehungsjahr bleibt die Sexualität eines Paares dann aber über 20 bis 25 Jahre erstaunlich stabil, bei durchschnittlich einmal pro Woche, mit großen Abweichungen in beide Richtungen. Manche Paare tun es auch später noch häufiger, andere vielleicht zweimal im Jahr, wieder andere überhaupt nicht mehr. Es ist, was die Häufigkeit anbelangt, übrigens kaum von Bedeutung, ob man eine Beziehung mit 30 oder mit 60 Jahren beginnt. Der entscheidende Faktor ist die Dauer des Zusammenseins.

Klar ist also, Sie werden weniger Sex haben, wenn Sie länger zusammen sind als zu Beginn Ihrer Beziehung. Ich vermute, damit können Sie leben. Es ist übrigens weder gesetzlich noch in medizinischen Lehrbüchern festgeschrieben, wie viel Sex »normal« ist. Wenn beide sich mit ihrer gemeinsamen Verkehrsfrequenz wohl fühlen, ist alles in Ordnung – unabhängig davon, wie oft es mein bester Freund oder meine Kollegen (angeblich) tun. Auch Paare, die nur einmal im Jahr miteinander Sex haben, können damit glücklich sein. Wie heißt es so schön: «Ein Problem ist erst dann ein Problem, wenn es ein Problem ist.«

Schließlich verfügen wir in einer längeren Beziehung über eine Vielzahl von Möglichkeiten, uns unserer Verbindung zu versichern. Dazu zählen gemeinsame Projekte wie der Bau eines Hauses, ein Kind oder gemeinsame Urlaube und Unternehmungen. Ist der Sex zu Beginn einer Beziehung häufiger noch als Beziehungsbindemittel im Vordergrund, tritt er im Laufe der Zeit wieder zurück. So weit, so unproblematisch. Doch was ist, wenn die sexuellen Bedürfnisse auseinander gehen, wenn einer von beiden mit dem Sex unzufrieden ist, wenn es im Bett langweilig wird oder die Paarsexualität ganz einzutrocknen droht?

Auch wenn Sie alles »richtig« machen, werden Sie es nicht verhindern können, dass Ihr Sexualleben Krisen durchläuft; dass Sie Phasen durchleben, in denen Sie sexuell frustriert sein werden oder selbst keinen Bock auf Ihre Partnerin haben; Phasen, in denen Sie schlicht keine Zeit und Kraft mehr füreinander haben und Ihnen Ihr Schlaf wichtiger sein wird als Sex. Ihr Körper und der Ihrer Partnerin verändern sich, so tun es auch Ihre Bedürfnisse und Ihr Sexualleben. Auch wenn Sie zu Beginn sexuell wunderbar harmonieren sollten, wird der Sex allmählich an Attraktion einbüßen und in der praktizierten Form langweilig werden. Genauso wie es Ihnen wahrscheinlich langweilig würde, wenn Sie jeden Tag Ihr Lieblingsgericht essen müssten.

Was also tun gegen »die Flaute im Bett«, gegen den »Tod im Schlafzimmer«? In Sexratgebern wird an dieser Stelle üblicherweise empfohlen: »Bringen Sie Abwechslung in Ihr Sexualleben!« Viele Paare versuchen dann, wieder mehr Schwung in ihren Sex zu bringen, indem sie mit neuen Elementen experimentieren: sexy Wäsche, andere Stellungen, Sex an ungewöhnlichen Orten, Sexspielzeug, Swinger Clubs, heimliche Affären, »offene Beziehung«, BDSM und was es sonst noch Schönes gibt. Ich will Sie keineswegs davon abhalten, Neues auszuprobieren. Solange es beiden Spaß macht, ist alles erlaubt. Nur: Versprechen Sie sich davon nicht die dauerhafte Rettung Ihrer Paarsexualität. Warum nicht?

Eine neue Stellung, ein Quickie im Aufzug oder Sex mit wechselnden Partnerinnen, stellen, neurologisch gesprochen, einfache Reize dar. Unsere Sinne gewöhnen sich relativ schnell daran. Beim ersten Mal ist es noch aufregend. Aber schon beim dritten oder vierten Mal tritt ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Wir müssen dann die Reize verändern und verstärken, damit sich etwas bei uns regt. Wir müssen die Dosis erhöhen, bis wir uns auch daran gewöhnt haben. Aus demselben Grund nimmt man eine neue Armbanduhr schon nach kurzer Zeit nicht mehr wahr. Der neue Reiz wird bald von unserem Nervensystem als Normalität eingepreist.

Man könnte sagen, all diese Veränderungen finden auf der gleichen, der horizontalen Ebene statt. Es sind lediglich Variationen zum Thema, aber es gibt darin keine Weiterentwicklung. Diese Art von Abwechslung fühlt sich früher oder später schal an. Sie haben alles Mögliche ausprobiert und es befriedigt Sie nicht wirklich, so wie ein Actionfilm mit atemberaubenden special effects, aber ohne eine Geschichte, die Sie emotional anspricht.

Früher oder später hat mindestens einer der Partner in einer Beziehung auf diese Art von Sex keine Lust mehr (in Heterobeziehungen sind es erfahrungsgemäß häufiger die Frauen, aber diese Entwicklung gibt es genauso bei schwulen und lesbischen Paaren). Man fragt sein Gegenüber ratlos: »Was ist denn nun los, bisher hast du das doch immer gemocht?«

Diese einfachen Formen sexueller Abwechslung können die Sexualität nicht dauerhaft vor der Veränderung bewahren, denn ihnen fehlt das, was die menschliche Sexualität so einzigartig macht – Bedeutung und persönliche Tiefe. Die Tiefe kann unsere Sexualität erst im Laufe unseres Lebens bekommen, denn, wie der Sexualtherapeut David Schnarch anmerkt, zu Beginn unseres Sexuallebens kennen wir uns ja selbst kaum, wie können wir da dem anderen zeigen, wer wir wirklich sind?

Zu Beginn unserer sexuellen Aktivitäten mit einer Partnerin sind wir Männer heilfroh, wenn alles irgendwie funktioniert: Erektion bekommen, gehalten, ins Ziel gebracht – wir sind drin! Jetzt nicht zu schnell kommen! Hat sie ihren Spaß? Sieht so aus. Super Sex! Wir bleiben meist bei dem, was funktioniert – »never change a running system« – bis es eben nicht mehr funktioniert.

Ich hatte Ihnen doch noch die gute Nachricht versprochen. Hier kommt sie. 

Unsere sexuelle Entwicklung ist hier nicht zu Ende. David Schnarch sagt in seinem Buch: Die Psychologie sexueller Leidenschaft, dass Jungen eher lernen, auf ihre genitalen Empfindungen zu achten, während Mädchen Sex mit Liebe und Intimität in Verbindung bringen. Doch das ist für ihn nur der Anfang der Geschichte. Schnarch erklärt:

»Wer aber meint, wir würden über diese kindliche Stufe nie hinauskommen, der verwechselt sexuelle Unreife mit grundsätzlichen Geschlechtsunterschieden. Tatsache ist, dass Frauen sich im Laufe der Jahre mehr auf die eigenen genitalen Empfindungen einlassen und die sexuelle Begegnung mehr genießen können. Unterdessen wächst das Interesse der Männer an Intimität und einer engen emotionalen Verbundenheit.«  

Als erwachsene Menschen wollen wir, dass der Sex mit einem Partner, mit dem wir eine Beziehung führen, neben dem körperlichen Vergnügen, etwas bedeutet. Wir wollen, dass der Sex, den wir haben, mehr ist als eine Art gemeinsamer sexueller Entleerung. Wir wollen irgendwann von der Person, mit der wir körperlich so nah zusammen sind, gesehen werden als der, der wir wirklich sind und wir möchten unsererseits den Menschen sehen – »…und sie erkannten einander«, heißt passenderweise die biblischen Umschreibung für Sex.

Diese Tiefendimension des Sex können wir die vertikale Ebene nennen. Hier passiert etwas grundlegend Neues und Aufregendes, wir erlauben es unserer Sexualität, persönlich, intim und entspannter zu werden.

Eine große Schwierigkeit ist, dass wir kulturell keine Vorbilder einer reifen Sexualität kennen, ebenso wenig wie wir ein Verständnis davon haben, wie eine reife Beziehung aussieht. In den meisten Geschichten und Filmen gibt es, wenn es um Paare und Sex geht, eigentlich nur diese beiden Stereotype: entweder zwei sind frisch verliebt und können die Finger nicht voneinander lassen oder das Paar ist schon länger zusammen, schweigt sich an oder streitet sich. Der Sex ist öde beziehungsweise nicht mehr existent.

»Wenn es bei uns nicht mehr klappt, passen wir vielleicht doch nicht zusammen, wir sind zu verschieden oder wir lieben uns nicht mehr!«, denken sich dann viele Paare. Wir bekommen beim Übergang von der Anfangssexualität zu einer fortgeschrittenen Paarsexualität kaum Hilfestellung. Paare, die hier nicht aufgeben, machen die Erfahrung, dass die (unvermeidliche) sexuelle Krise uns zu einer viel tieferen, wahrhaftigeren und entspannteren Sexualität führen kann. Eine Sexualität, bei der wir so sein dürfen, wie wir tatsächlich sind – bei der wir keine Ziele erreichen und bei der wir uns nichts mehr beweisen müssen. 

 

Make Love. Das Männerbuch
Marc Rackelmann
Gebundene Ausgabe: 250 Seiten
Verlag: Kein & Aber;
Auflage: 1 (4. Oktober 2017)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3036957731
ISBN-13: 978-3036957739
Größe  17,5 x 2,5 x 23,8 cm

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