Lobsang Dargye, Meister der Tibetischen Kampfkunst Tsalgyang und Oberhaupt der Tibetischen Gemeinde in Berlin-Brandenburg, musste einen beschwerlichen Weg gehen, bevor er in Potsdam eine neue Heimat fand. Hunger, Verfolgung, Gefängnis und Folter: Lobsang verlor in scheinbar ausweglosen Situationen nie seinen Lebensmut und nahm unerschrocken jede Hürde, die ihm das Leben bot. Was ist das Geheimnis seiner inneren Kraft? Wie konnte er über sich hinauswachsen und seine Stärke in höchster Not bewahren? Was hielt seine Seele am Leben, um die Flucht aus Tibet zu überstehen?

von Elisabeth Biering

Bogenschießen, Yaks hüten, Pferde einreiten: Als Kind tibetischer Nomaden führte Lobsang ein unbeschwertes und friedvolles Leben. Doch das Blatt sollte sich schnell für ihn wenden. Es war der erste Tag der Schulferien, als ein befreundeter Mönch in die elterliche Behausung trat, um dem 13-jährigen Jungen ein verbotenes Buch in die Hand zu drücken. Es hatte den Titel „Meine Leute und mein Land“ und war vom im Exil lebenden Dalai Lama verfasst worden. In nur wenigen Tagen hatte Lobsang jede Zeile des Buches verschlungen und ihm wurde gewahr, wie sehr die Tibeter unter der Okkupation der Chinesen leiden mussten. Wieder im Schulalltag angekommen, verärgert und fest entschlossen etwas an der desolaten Situation zu verändern, schrieb er die ausdrucksstarken Worte „Free Tibet“ an die Tafel. Es folgte nicht nur der Ausschluss von der Schule, sondern auch die einwöchige Inhaftierung in einer Einzelzelle im chinesischen Gefängnis. Faustschläge, Elektroschocks, Daumenschrauben und stundenlange Verhöre waren nur einige Foltermethoden, die der Nomadenjunge über sich ergehen lassen musste.

Der innere Ort der Stille

Dank seines jahrelangen Kampfkunst- und Meditationstrainings hielt Lobsang dem psychischen und physischen Druck stand und verließ das Gefängnis nicht als gebrochene Persönlichkeit. Mit nachdenklicher Mine führt er aus: „Während des Verhörs und der nicht enden wollenden Folterprozedur zog ich mich in die Tiefen meiner Seele zurück, ähnlich wie bei einer Meditation. Ich versuchte die aufkommende Angst auszublenden und mich auf meinen inneren Ort der Stille zu fokussieren. Angst ist wie ein Raubtier, sie raubt uns die Kraft, nimmt uns die Lebensenergie und den eigenen Willen. Wer der Angst zu viel Spielraum lässt, zerstört sein eigenes Hier und Jetzt, seine Träume, Wünsche, Hoffnungen und Lebensziele. Der Geist ist wie ein mentaler Muskel. Er lässt sich genauso trainieren wie unsere Bauch- oder Beinmuskulatur. Die Kunst besteht darin, die Mentalkontrolle auf jede erdenkliche Situation zu übertragen und somit die Widrigkeiten des Lebens besser bewältigen zu können“. Nach dem mehrtägigen Gefängnisaufenthalt beschloss Lobsang schweren Herzens seine Familie zu verlassen und die Flucht aus Tibet vorzubereiten.

Physische und psychische Stärke lässt sich trainieren!

Ohne das Wissen seiner Eltern organisierte der mittlerweile junge Erwachsene einen Bergführer, der ihn und zwanzig andere tibetische Jugendliche bis hinter die Grenze Nepals geleiten sollte. Mit 15 kg Tsampa im Gepäck, warmer Kleidung und viel Wagemut im Blut brach die Gruppe auf. Sie wanderten durch tiefen Schnee und machten die Nacht zum Tage, um nicht vom chinesischen Militär aufgegriffen zu werden. Nach 15 Tagen Fußmarsch, diversen Verletzungen und einem tödlichen Verlust waren sie erschöpft und hungrig. „Aufgeben war keine Alternative, denn wir wussten, wir laufen in Richtung Freiheit. Freiheit, die wir uns immer erträumt hatten“, berichtet Lobsang. So nahm er auch die quälenden Schmerzen in Kauf, die sein angebrochenes Bein verursachte. Am 33. Tag waren die letzten Vorräte aufgebraucht. Wer überleben wollte, ernährte sich von karger Pflanzenkost und löschte seinen Durst mit Schneewasser. Bevor die Gruppe Nepal erreichte, folgten drei Tage purer Überlebenskampf. Kurz vor der nepalesischen Grenze wurden alle zwanzig Flüchtlinge festgenommen, inhaftiert, geschlagen und gefoltert. Doch das Glück war ihnen diesmal hold! Schon bald wurde die Gruppe von der tibetischen Exil-Regierung für 9 Euro pro Person freigekauft und nach Dharamsala gebracht. Nicht nur Lobsangs tiefer Glaube in die moralischen und spirituellen Grundlagen des Buddhismus verhalfen ihm den 36-tägigen Fußmarsch über den Himalaya zu überstehen, sondern auch jahrelange Schulung von Körper und Geist durch das tägliche Praktizieren der Tibetischen Kampfkunst Tsalgyang. „Kampfkunst bedeutet Selbstverteidigung, aber auch die Beherrschung seiner selbst, ohne dem „Selbst“ eine allzu große Rolle zukommen lassen zu wollen. Das Ausüben einer Kampfkunst vermittelt dem Übenden eine Selbsterkenntnis und Selbstbeobachtung, die ihm erlaubt die eigenen Fähigkeiten auszubauen und ebenso die Umgebung bessser einzuschätzen. So lassen sich klare Gedanken fassen und die Energie kann auf eine einzige Sache gebündelt werden“.

Fotos: Tsalgyang Kampfkunstschule E & L Biering GbR

 

 

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