Fragen an Marshall Rosenberg

Wie entwickelten Sie die Gewaltfreie Kommunikation?
Gewaltfreie Kommunikation entwickelte sich aus meinem Bestreben, mir darüber bewusst zu werden, was die Geliebte Göttliche Energie ist und wie ich mich mit ihr verbinden kann. Ich war sehr unzufrieden mit der klinischen Psychologie, weil sie sich an dem, was krank ist, orientiert und weil ich ihre Sprache nicht mochte. Sie verstellte mir die Sicht auf die Schönheit menschlicher Wesen. Nachdem ich meinen Abschluss erhalten hatte, entschloss ich mich deshalb, mehr der Richtung von Carl Rogers und Abraham Maslow zu folgen.
Ich entschied mich, diesen Blickwinkel einzunehmen und mir dabei die beängstigende Frage zu stellen: „Was sind wir und wozu sind wir bestimmt?“ Ich stellte fest, dass darüber in der Psychologie sehr wenig geschrieben worden war. Folglich besuchte ich einen Crashkurs in vergleichender Religionswissenschaft, denn ich erkannte, dass die Religionen sich mehr mit dieser Frage beschäftigten. Und bei jeder von ihnen tauchte immer wieder das Wort „Liebe“ auf.
Die Gewaltfreie Kommunikation entstand also tatsächlich aus meinem Bemühen, dieses Konzept der Liebe zu verstehen – wie sie sich zeigt und wie sie verwirklicht wird. Ich kam zu dem Schluss, dass es nicht einfach irgendetwas ist, das man fühlt, sondern etwas, das wir ausdrücken, etwas, das wir tun, etwas, das wir haben. Und worin besteht dieses Ausdrücken? Es besteht darin, dass wir auf eine ganz bestimmte Weise etwas von uns selbst schenken (engl. giving of ourselves).

Was verstehen Sie unter „Etwas von uns selbst schenken“?
„Etwas von uns selbst schenken“ heißt für mich, aufrichtig auszudrücken, was in uns in diesem Moment lebendig ist. Es interessiert mich, warum man sich in jeder Kultur bei der Begrüßung gegenseitig fragt: „Wie geht es dir?“ Dies ist eine so wichtige Frage. Welches Geschenk ist es, im jeweiligen Augenblick wissen zu können, was in jemandem lebendig ist.
Sich selbst zu schenken ist ein Ausdruck von Liebe. Es geschieht dann, wenn man sich im jeweiligen Augenblick offen und ehrlich zeigt, mit keiner anderen Absicht, als das zu schenken, was in einem lebendig ist. Nicht zu beschuldigen, zu kritisieren oder zu bestrafen – einfach nur: „Hier bin ich, und das ist es, was ich möchte.“ Das ist meine Verletzlichkeit in diesem Moment. Für mich ist es eine Ausdrucksform der Liebe.
Und die andere Art, etwas von uns selbst zu schenken, ist, wie wir die Botschaft eines anderen aufnehmen – sie einfühlsam aufzunehmen, verbunden mit dem, was in der anderen Person lebendig ist, ohne Urteile zu fällen. Nur zu hören, was im anderen Menschen lebendig ist und was er möchte. In diesem Sinne ist Gewaltfreie Kommunikation nichts weiter als ein Ausdruck dessen, wie ich Liebe verstanden wissen möchte.

Ging die Gewaltfreie Kommunikation aus Ihrem Wunsch hervor, Liebe auszudrücken?
Auch psychologisch-empirische Untersuchungen darüber, was gesunde Beziehungen ausmacht, und das genaue Beobachten von Leuten, die lebende Beispiele liebender Menschen waren, brachten mich weiter. Aus diesen Wurzeln entwickelte ich den Prozess, der mir dabei half, mich mit den Menschen in einer nach meinem Verständnis liebevollen Art zu verbinden.
Und dann sah ich, was geschah, wenn ich auf diese Weise mit Menschen eine Verbindung herstellte. Diese Schönheit, diese Kraft verbanden mich mit einer Energie, die ich Geliebte Göttliche Energie nennen möchte. Die Gewaltfreie Kommunikation hilft mir also, mit dieser wunderbaren Göttlichen Energie in mir selbst verbunden zu bleiben und mich mit ihr in anderen zu verbinden. Und was dann geschieht, wenn ich diese Göttliche Energie in mir selbst mit der Göttlichen Energie in anderen verbinde, kommt meiner Vorstellung einer Verbindung mit Gott am nächsten.

Wie vermeiden Sie, dass das Ego Ihre Verbundenheit mit Gott stört?
Indem ich das Ego als etwas anerkenne, das sehr eng daran gebunden ist, wie mich mein kulturelles Umfeld zu denken und zu kommunizieren gelehrt hat. Und wie mir meine Kultur beigebracht hat, meine Bedürfnisse auf eine bestimmte Art und Weise zu erfüllen und meine Bedürfnisse mit den Strategien zu verwechseln, durch die ich diese Bedürfnisse vielleicht erfüllen könnte. Deshalb versuche ich, diese drei Richtungen im Bewusstsein zu behalten, mit denen das kulturelle Umfeld mich auf Dinge programmiert hat, die mir wirklich nicht gut tun, nämlich mehr aus dem Ego als aus der Verbundenheit mit der Göttlichen Energie zu handeln. Ich habe mich um eigene Strategien zur Bewusstwerdung dieser kulturell erlernten Denkstrukturen bemüht, und dann habe ich sie in die Gewaltfreie Kommunikation integriert.

Dann sind Sie der Meinung, dass die Sprache unserer Kultur uns hindert, unsere Göttliche Energie tiefer zu erfahren?
Oh ja, eindeutig. Meiner Meinung nach macht es uns unsere Sprache sehr schwer, insbesondere die Sprache, die wohl den meisten durch die Erziehung in unserer Kultur mitgegeben wurde, und auch die Assoziationen, die „Gott“ bei den Menschen hervorruft. Wie ich über die Jahre beim Lehren der Gewaltfreien Kommunikation festgestellt habe, gehören urteilendes Denken oder Richtig-Falsch-Denken zu den Dingen, die am schwersten zu überwinden sind. Alle Leute, mit denen ich arbeite, sind zur Schule gegangen und haben eine religiöse Erziehung genossen, und wenn sie Gewaltfreie Kommunikation mögen, fällt es ihnen leicht zu sagen, dies sei der „richtige Weg“ zu kommunizieren. Es wird dann sehr schnell angenommen, dass Gewaltfreie Kommunikation selbst das Ziel sei.
Ich habe eine buddhistische Parabel abgewandelt, die sich auf diese Frage bezieht. Stellen Sie sich einen wunderbaren, vollkommenen und heiligen Ort vor. Und stellen Sie sich vor, dass Sie an diesem Ort Gott tatsächlich erkennen könnten. Aber nehmen wir an, dass sich ein Fluss zwischen Ihnen und diesem Ort befindet, und um dorthin zu gelangen, müssen Sie den Fluss überqueren. Deshalb beschaffen Sie sich ein Floß, und dieses Floß ist genau das richtige Hilfsmittel, um Sie über den Fluss zu bringen. Sobald Sie den Fluss überquert haben, können Sie die restlichen Kilometer zu diesem wunderbaren Ort zu Fuß gehen. Nun endet die buddhistische Parabel, indem sie sagt: „Der ist ein Narr, der sich das Floß auf seinen Rücken lädt, wenn er zu dem heiligen Ort weitergeht.“
Gewaltfreie Kommunikation ist ein Werkzeug, um mir über die Erziehung in unserer Kultur hinwegzuhelfen, sodass ich an diesen Ort gelangen kann; sie ist nicht der Ort selbst. Wenn wir uns von dem Floß abhängig machen, uns an das Floß ketten, wird es uns schwerer fallen, diesen Platz zu erreichen. Menschen, die gerade beim Erlernen der Gewaltfreien Kommunikation sind, verlieren manchmal den Ort aus dem Blick. Wenn sie sich zu sehr an das Floß klammern, wird der Prozess mechanisch.
Die Gewaltfreie Kommunikation ist eines der wirksamsten Hilfsmittel, die ich gefunden habe, um mich so mit Menschen zu verbinden, dass ich an den Ort gelange, an dem wir mit dem Göttlichen verbunden sind und wo das, was wir füreinander tun, aus der Göttlichen Energie kommt. Das ist der Ort, an den ich gelangen möchte.

Stellt das die spirituelle Grundlage der Gewaltfreien Kommunikation dar?
Die spirituelle Grundlage liegt für mich in dem Bemühen, mich mit der Göttlichen Energie in anderen und die anderen mit dem Göttlichen in mir zu verbinden, weil ich glaube, dass wir dann, wenn wir wirklich mit dieser Göttlichkeit in anderen und in uns selbst verbunden sind, nichts lieber tun, als zum gegenseitigen Wohlergehen beizutragen. Das heißt für mich, dass wir genießen werden was geschieht, wenn wir mit dem Göttlichen in anderen und in uns selbst verbunden sind. Dies stellt die spirituelle Grundlage dar. An diesem Ort ist Gewalt einfach nicht möglich.

Ist der Mangel an Verbindung mit der Göttlichen Energie für die Gewalt in der Welt verantwortlich?
Ich würde es so ausdrücken: Meiner Meinung nach wurde uns das Geschenk der Entscheidung gegeben, die Welt unserer Wahl zu schaffen. Und uns ist von dieser großartigen und reichen Welt alles gegeben worden, um eine Welt der Freude und Zuwendung zu erschaffen. Aus meiner Sicht kommt die Gewalt in der Welt dann zustande, wenn wir von der Göttlichen Energie entfremdet oder getrennt werden. Wie aber können wir uns mit ihr verbinden, wenn wir dazu erzogen wurden, von ihr abgeschnitten zu sein? Ich glaube, es ist unsere kulturelle Prägung und Erziehung, insbesondere unsere religiöse Erziehung, die uns von Gott trennt.

Wie überwinden wir diese Prägung?
Ich bin häufig mit Menschen zusammen, die mit sehr viel Schmerz leben. So erinnere ich mich an meine Arbeit mit zwanzig Serben und zwanzig Kroaten. Einigen dieser Menschen waren Familienmitglieder von der Gegenseite getötet worden, und ihnen allen waren seit Generationen vergiftende Gedanken über die Gegenseite in ihre Köpfe eingehämmert worden. Sie verbrachten ganze drei Tage damit, einander ihre Wut und ihren Schmerz auszudrücken. Glücklicherweise waren wir ungefähr sieben Tage dort.
Ein Wort, das ich bisher in diesem Zusammenhang noch nicht benutzt habe, ist das Wort „Unvermeidlichkeit“. So viele Male habe ich beobachtet, dass es – egal, was vorher geschehen ist – unvermeidlich ist, dass Menschen, wenn sie sich auf diese bestimmte Weise verbinden, es letztendlich genießen werden, einander zu beschenken. Es ist unausweichlich. Für mich ist meine Arbeit wie das Anschauen einer Zaubervorstellung. Es ist einfach zu schön, um es in Worte zu fassen.
Aber manchmal arbeitet diese Göttliche Energie nicht so rasch, wie ich es gerne hätte. Ich erinnere mich daran, wie ich inmitten dieser ganzen Wut und dieses Schmerzes saß und dachte: „Göttliche Energie, wenn du dieses ganze Zeug heilen kannst, warum lässt du dir so viel Zeit, warum lässt du diese Menschen das alles durchmachen?“ Und die Energie sprach zu mir, und sie sagte: „Du trägst einfach mit allem, was dir möglich ist, dazu bei, eine Verbindung herzustellen. Bring deine Energie ein. Verbinde dich und hilf den anderen Menschen, sich zu verbinden, und dann überlass mir den Rest.“ Aber obwohl das in einem Teil meines Gehirns so ablief, wusste ich doch, dass Freude unvermeidlich war. Wenn wir nur verbunden blieben mit unserer eigenen Göttlichen Energie und mit der der anderen.
Und so geschah es. Es geschah in großer Schönheit. Am letzten Tag redeten alle über Freude. Und viele von ihnen sagten: „Weißt du, ich habe nach allem, was wir durchgemacht haben, nicht mehr daran geglaubt, mich je wieder freuen zu können.“ Dieses Thema war in aller Munde. So haben an diesem Abend die zwanzig Serben und zwanzig Kroaten, deren Verhältnis sieben Tage zuvor allein durch unvorstellbaren Schmerz geprägt war, miteinander die Freude am Leben gefeiert.

Erlangen wir diese Verbindung zueinander, indem wir Gott erkennen?
Auch in diesem Fall möchte ich eine intellektuelle Beschäftigung mit Gott vermeiden. Wenn wir mit „Gott erkennen“ diese innige Verbindung mit der Geliebten Göttlichen Energie meinen, dann können wir den Himmel auf Erden erleben.
Ich erreiche den Himmel, wenn ich erkenne, dass Gott diese Unvermeidlichkeit ist. Egal, was an Schrecklichem passiert sein mag: Es ist unvermeidlich, dass wir es genießen werden zu geben und dass wir dem Leben etwas zurückgeben werden, wenn wir zu diesem Grad der Verbindung miteinander gelangen, wenn wir mit der Göttlichen Energie in uns und anderen in Berührung kommen. Wenn wir diese Qualität der Verbundenheit erreichen, wird uns gefallen, wohin sie uns führt.
Ich bin erstaunt, wie wirkungsvoll es ist. Ich könnte Ihnen einander ähnelnde Beispiele erzählen von politisch-religiös radikalen Israelis auf der einen Seite und dem Pendant auf palästinensischer Seite und solche von Hutus und Tutsis und solche von Christen in Nigeria. Bei ihnen allen bin ich immer wieder verblüfft, wie leicht es ist, Versöhnung und Heilung herbeizuführen. Auch hier ist alles, was wir tun müssen, beide Seiten dazu zu bringen, sich mit den Bedürfnissen der jeweils anderen Person zu verbinden. Für mich sind Bedürfnisse der schnellste und direkteste Weg, um mit der Göttlichen Energie in Verbindung zu kommen. Alle Menschen haben dieselben Bedürfnisse. Bedürfnisse entstehen, weil wir lebendig sind.

Wie bringen Sie Feinde zu der Erkenntnis, dass es notwendig ist, einander zu geben?
Wenn Sie Menschen auf dieser Ebene miteinander in Verbindung bringen, ist es schwer, Feindbilder aufrechtzuerhalten. Gewaltfreie Kommunikation ist in ihrer Klarheit der kraftvollste und schnellste Weg, den ich gefunden habe, um Menschen weg von lebensfeindlichen Denkweisen, bei denen sie nur einander verletzen wollen, zur Freude am gegenseitigen Geben zu bringen.
Wenn ein paar Menschen sich gegenübertreten, Hutu und Tutsi, deren Familien jeweils durch die gegnerische Seite getötet worden sind, ist es schon erstaunlich, dass wir sie in zwei bis drei Stunden dazu bringen können, einander zu unterstützen. Es ist unvermeidlich. Unvermeidlich. Darum verwende ich diesen Ansatz.
Es erstaunt mich, wie leicht es ist angesichts der fortlaufenden Anhäufung von Leid, und wie rasch es geschehen kann. Gewaltfreie Kommunikation heilt wirklich schnell, wenn Menschen viel Schmerz erfahren haben. Deshalb wünschte ich, es möge noch schneller geschehen, denn unsere jetzige Vorgehensweise braucht doch ihre Zeit.

Wie wesentlich ist das Bedürfnis, einander zu geben?
Meiner Meinung nach ist das Bedürfnis, das Leben zu bereichern, eines der wesentlichsten und stärksten Bedürfnisse, die wir haben. Anders ausgedrückt: Wir wollen durch die Göttliche Energie in uns handeln. Ich glaube, dass wir dann, wenn wir sozusagen diese Göttliche Energie „sind“, nichts lieber tun, an nichts mehr Freude haben als daran, das Leben zu bereichern, unsere enorme Kraft für ein reicheres Leben einzusetzen.
Aber wenn wir unser Bedürfnis, diese Göttliche Energie zu „leben“, erfüllen wollen, wenn wir zum Leben beitragen wollen, dann ist dies mit einer Bitte verbunden: Wir haben den Wunsch nach Rückmeldung von all denen, deren Leben wir zu bereichern suchen. Wir wollen in der Tat wissen: „Sind meine Absicht und meine Handlung angekommen?“ Gab es Erfüllung?
In unserer Kultur ist diese Bitte durch unser Denken verzerrt, wir hätten ein „Bedürfnis“ danach, dass die andere Person uns dafür liebt, was wir getan haben, unser Handeln anerkennt und ihm zustimmt. Aber dadurch wird die Schönheit des ganzen Prozesses verzerrt und ins Gegenteil verkehrt. Nicht ihre Anerkennung war es, die wir gebraucht haben. Unsere eigentliche Absicht war die, unsere Energie zur Bereicherung des Lebens einzusetzen. Aber wir sind auf eine Rückmeldung angewiesen. Wie soll ich erfahren, ob meine Anstrengungen erfolgreich waren, wenn ich keine Rückmeldung erhalte?
Diese Rückmeldung hilft mir zu erkennen, ob ich aus der Göttlichen Energie heraus gehandelt habe. Dass mein Handeln aus der Göttlichen Energie stammt, weiß ich dann, wenn mir Kritik genauso wertvoll ist wie ein Dankeschön.

Marshall B. Rosenberg, Ph. D.
Quelle: http://www.cnvc.org/de/die-spirituelle-grundlage-der-gewaltfreien-kommunikation

Workshops & Übungsgruppen in Potsdam:

Eine Sprache des Herzens mit Astrid Schütte

Gwaltfrei in Potsdam mit Beate Lerch

 

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*