Beobachtungen und Gedanken zum Gesang der Vögel

von Jürgen Motog

Schon seit einigen Wochen singen sie wieder, die geflügelten, dem Lichte, der Leichtigkeit und Freiheit verbundenen Wesen, gleich erdverbundenen Engeln: unsere Singvögel, die jetzt im Crescendo des grünenden Frühlings unsere Gärten, Parks und Wälder und die grünen Inseln in unseren Städten mit ihrem Gesang, ihrem Zwitschern, Zetern, Pfeifen, Trillern, Klopfen, Krächzen und Tirilieren beleben.

Und wer kennt von all den gefiederten Sängern, Percussionisten und Melodikern, die an dieser Stelle ungenannt bleiben müssen, nicht sie oder ihn: die Schwarzdrossel, zur Familie der Amseln gehörig!  – Sie, die schwarzgefiederte Königin, besser: den König (denn das Männchen ist der eigentliche Sänger) mit seinem prächtig orangefarbenen Schnabel, dessen leuchtender Farbton einem erscheint wie eine Abfärbung seiner lichten Tonmotive …

Die Amsel oder Schwarzdrossel ist ein wahrhaft königlicher Sänger – an Erfindungsreichtum und musikalischer Lernbegabung der nachtzauberischen  Nachtigall gleich, wenn nicht gar überlegen, wenn man den Forschungen über die Amsel folgt (z.B. denen von Heinz Thiessen und David Rothenberg.)

Verzaubert und verherrlicht die äußerlich so unscheinbare Nachtigall mit ihrem elegischen Gesang die Mondnacht und die in ihrem Schutz sich Liebenden, so tut dies die Amsel mit dem Gestirn des Tages.

Schmelzender Gesang der Amsel

Sie beginnt schon vor Tagesanbruch ihren schmelzenden, weithin tragenden Gesang anzustimmen, wenn die Nacht noch dunkel ist, so, als könne sie den Sonnenaufgang kaum erwarten. Vielleicht ist sie genarrt durch die künstliche ewige Sonnenhelle unserer Straßenbeleuchtungen und verfrüht sich irrtümlich? Auch an bedeckten, schwül-warmen Tagen mit Sommerregen erklingt ihr beschwörender Sonnengesang. Mit dem Höhersteigen der Sonne entfaltet sie ihre Aktivitäten dann wieder im Licht und Schattenspiel um die Mittagszeit herum; später am Abend feiert sie den Abschied vom Tag, und ihre Melodien werden eins mit der Ruhe und dem letzten Licht und Farbenspiel der untergehenden Sonne.

Kein Baumwipfel, keine Tannenspitzen, kein Hausgiebel und keine Straßenlaterne sind dabei der Schwarzdrossel hoch genug, um sich wirkungsvoll zu platzieren. Und wie liebt dieser Vogel neben der sichtbaren und exponierten Thronlage auch die Höfe und Straßenzüge z.B. in Berlin, deren hohe Fassaden und Mauern einen herrlichen Resonanzraum abgeben, der dem Klang doppelte Stärke zu verleihen vermag. So erlebte ich einmal nachts an einer belebten Straßenkreuzung eine erstaunlicherweise noch singende Amsel, die hoch oben auf dem Ampelmast sitzend über dem dumpfen Motorenlärm der wartenden und anfahrenden Autos sich mühelos Gehör verschaffte – durch geschlossene Autofenster hindurch.

Ihr Gesang im Übergang vom Vorfrühling in den Frühling, der vom Geläute der Meisen markiert wird, verstärkt noch den Zauber des alljährlichen Neuanfangs in der Natur nach der langen, todverwandten Winterruhe.

Unvergesslich bleibt mir ein vorösterlicher Amselgesang am schwedischen Vänersee, wo sie noch ein Waldvogel ist, nachdem sie in unseren Breiten schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts aus den Wäldern in die Gärten, Parks und Städte emigrierte – ein Phänomen, das seit einigen Jahren bei vielen Vogelarten zu beobachten ist: Zurück in die Stadt!

Vor mir liegt eine noch vereiste Bucht, während weit draußen das Binnenmeer eisfrei und wieder offen ist. Der auflandige Wind wirft weiße Schaumkronen auf. Doch hier, im Windschatten bewaldeter, lang hingestreckter Felsenufer und einer kleinen Insel, ist es dagegen ganz windstill. Es ist ein grauer, vorösterlicher Spätnachmittag, dessen Stille jedoch von einem immer wieder unheimlich an-und abschwellenden donnerartigen Grollen unterbrochen wird.

Ich bleibe stehen, lausche beklommen diesem unerfindlichen dunklen Tönen und versuche dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Plötzlich peitscht ein lauter Schuss auf, doch nicht aus einem Gewehrlauf, sondern vom Eis her, wo sich ein klaffender, langer Riss auftut. Die riesige Eisfläche ist es, die vibriert, wie eine ungeheuerliche, riesige, kristallene Membran: der See und seine eisige Bespannung – sie singen und raunen, vom bewegten Wasser unter dem Eis unsichtbar in Schwingung versetzt.

Lichtvolle, traurige Vogelmusik

Doch bald ist es wieder still. Mein Auge folgt einem eilig dahinfliegenden, laut zeternden schwarzen Vogel, der sich auf der Spitze einer hohen Kiefer niederlässt, dem einzigen mir sichtbaren Lebewesen außer mir in dieser stillen Bucht, auch wenn ich weiß, dass hundert Augen mich längst gesehen haben, bevor ich auch nur ein fremdes Wesen erblicke.

Seine schwarze Silhouette wirkt auf mich vor dem hohen Himmel, der Weite des Sees und der schier endlos sich hinstreckenden waldgesäumten Uferanhöhen wie ein unübersehbares Ausrufungszeichen. Ist das wirklich eine Amsel?

Aber alle Zweifel verfliegen, als der Vogel beginnt, seinen schmelzenden Hymnus anzustimmen – ein Lied, das an diesem Ort und dem Trauerschleier dieser grau -vorösterlichen Zeit wie eine weltverlorene süß – wehmütige Klage ertönt, wie ein Bachsches „Air“ in einer rätselhaften, uneindeutigen Tonalität, die zugleich Dur und Moll in sich trägt. Eine fremdartige, doch tiefes Vertrauen, Helle und Zufriedenheit einflößende Tonsprache, die, wie so häufig in der Musik des Barock, etwas Trauriges freudig und lichtvoll zu sagen versteht und, umgekehrt,  oft das Freudige und Helle mit einem sehnsuchtsvoll- traurigen Unterton ausspricht, was der Musik Corellis, Händels, Bachs oder dem musikalischen Zwillingsbruder Bachs, Silvias Leopold Weiss, ihre unauslotbare Tiefe verleiht.

Die Amsel singt, erfindet und entwickelt, ja komponiert geradezu ihre variationsreichen Melodien (siehe dazu z.B. das Buch von David Rothenberg: „Warum Vögel singen“ ) im Einklang mit dem Ort, der Landschaft, des Lebensraumes, die sie sich für ihr Sesshaftwerden, Lieben und Fortpflanzen gesucht hat. Sie ist kein ausgesprochener „Spezialist“ für Rhythmen und Percussion wie z.B. der Specht, der Storch oder der Ziegenmelker. Nur wenn Gefahr oder Konkurrenz droht, kann sie zu einem geradezu aggressiven und nervenden Rhythmiker werden, dessen metallische, hartnäckig wiederholten, eintönigen Warnsignale sogar eine Katze oder eine Eule in die Flucht schlagen können.

Aber – all dies, was wir als Gesang, als Musik deuten und benennen – was sind das für Lieder ohne Worte? Gesänge welchen Inhaltes? Empfindet die Amsel die Schönheit einer Morgen- oder Abendstimmung, einer Landschaft und ihres eigenen Tönens? Ist es nicht ein unzulässiger vermenschlichender Fokus, wenn man von „Musik der Vögel“ spricht, und damit eine Ästhetisierung vornimmt?

Wenn wir so fragen, berühren wir etwas, das über das biologisch-Funktionale (Balz, Revierabgrenzung usw.), hinausführt. Die Schriftstellerin Anne Duden hat ihre Beobachtungen über die Singvögel als „erdgebundene Engel“ einmal so ausgedrückt:

Es könnte doch sein, dass diese Geflügelten unter den Wirbeltieren, die weder zu kriechen noch auf allen Vieren zu gehen brauchen noch auch wie Menschen über Stock und Stein stets aufrecht daherkommen müssen, – dass diese erdgebundenen Engel unter anderem aus Gründen der Schönheit, ja zum Zweck ihrer Entfaltung – wenn diese, zugegebenermaßen beflügelte Hypothese hier einmal erlaubt sei – auf die Welt gekommen sind.

Vögel als Gottes Engel

Im mittelalterlichen „Roman de la rose“ wird dem Gesang der Vögel noch eine weitere, nämlich religiös-spirituelle Dimension zugeschrieben:

Die seit langen Monaten verstummten Vögel sangen wieder voller Hingabe ihre Frühlingshymnen. Nie zuvor hörte ich einen derartigen Vogelgesang, süß und liebessehnend, wie ein Konzert von hoch und tief gestimmten Instrumenten. Ich blieb stehen und lauschte: Nachtigallen, Häher, Schwärme von Staren, Zaunkönige, Turteltauben,  Distelfinken, Schwalben, Lerchen und Meisen. Die Amseln und Drosseln aber schienen die anderen Vögel mit ihrem Gesang noch übertreffen zu wollen. Es war wie ein Gottesdienst, in dem die Vögel wie Gottes Engel ihre Lieder sangen “.

Der Philosoph Kant vernahm im Gesang der Vögel etwas Ähnliches: In seiner Kritik der Urteilskraft fragt er, warum wir nie müde würden, den Melodien der Vögel zu lauschen, während wir bei einem Menschen, der zwei oder drei Töne immerfort wiederholt, bald müde würden und uns verschlössen. Vogelgesang, so Kant, sei nicht schön, sondern erhaben, er sei etwas, was für unser Verständnis wunderbar fremd sei. Anziehend, aber unerreichbar, erhaben über unsere physische Welt.

Spielerische Höchstleistung

Und der Verhaltensforscher Konrad Lorenz kam aufgrund strenger Beobachtungen und nicht aufgrund philosophischer Spekulationen zu folgenden berührenden Schlüssen: 

Wir wissen wohl, dass dem Vogelgesang eine arterhaltende Leistung bei der Revierabgrenzung, der Anlockung des Weibchens, der Einschüchterung von Nebenbuhlern zukommt. Wir wissen aber auch, dass das Vogellied seine höchste Vollendung, seine reichste Differenzierung dort erreicht, wo es diese Funktionen gerade nicht hat.

Ein Blaukehlchen, eine Schama, eine Amsel singen ihre kunstvollsten und für unsere Empfindungen schönsten, objektiv gesehen kompliziertesten gebauten Lieder dann, wenn sie in ganz mäßiger Erregung dichtend vor sich hinsingen.

Wenn das Lied funktionell wird, wenn der Vogel einen Gegner ansingt oder vor dem Weibchen balzt, gehen alle höheren Feinheiten verloren; man hört nur eintönige Wiederholungen der lautesten Strophen, wobei bei den sonst spottenden Art wie dem Blaukehlchen die schönsten Nachahmungen völlig verschwinden und der kennzeichnende, aber unschön schnarrende angeborene Teil des Liedes stark vorherrscht. Es hat mich immer wieder geradezu erschüttert, dass der singende Vogel haargenau in derselben biologischen Situation und in eben   d e r  Stimmungslage seine künstlerische Höchstleistung erreicht wie der Mensch, dann nämlich, wenn er in einer gewissen Gleichgewichtslage, vom Ernst des Lebens gleichsam abgerückt, in rein spielerischer Weise produziert.

 Wenn in Grimms Märchen vom Zaunkönig  die Rede von den alten Zeiten ist, in denen jeder Klang noch Sinn und Bedeutung hatte, auch die Vögel ihre eigene Sprache hatten, die jedermann verstand, und die heutzutage nur noch wie ein Zwitschern, Kreischen, Pfeifen und bei einigen Vögeln wie Musik ohne Worte klinge – vielleicht verbergen sich noch weitere, bislang nur zu ahnende Dimensionen im Gesang der Vögel und harren der (Wieder-)Entdeckung? Löste nicht erst der musische Blick auf die Bienen ihr Rätsel, indem er ihre Bewegungen als Tanz zu lesen vermochte?

Verkörperung unserer Sehnsucht nach Licht und Jubel

Der Komponist und große Ornithologe Olivier Messiaen, der  ca. 700 Vogelstimmen voneinander unterscheiden  konnte und ihre komplexen Töne, Rhythmen, Klangfarben und Melodien präzise aufzuzeichnen in der Lage war (und sie in Musik transformierte), vernahm im Vogelgesang und in den Vögeln geradezu das Gegenteil der Zeit und „verkörpern unsere Sehnsucht nach Licht, nach den Sternen, nach Regenbögen und jubilierendem Gesang.

Vögel sind für ihn angeschlossen, verbunden mit etwas viel Größerem, als dem menschlichen Bewusstsein, das an die Sinne und den Verstand gebunden ist zugänglich ist.

In meinen schwermütigen Stunden, in denen mir plötzlich meine eigene Geringfügigkeit bewusst wird, in denen mir jede musikalische Ausdrucksweise – klassisch, orientalisch, altertümlich modern oder ultramodern – nur noch als bewundernswert akribisches Experimentieren ohne endgültige Rechtfertigung erscheint, bleibt mir nichts anderes übrig, als das wahre, verloren gegangene Gesicht der Musik irgendwo draußen im Wald, auf den Feldern, in den Bergen oder an der Küste zu suchen – bei den Vögeln … 
Angesichts so vieler entgegengesetzter Schulen, überlebter Stile und sich widersprechender Schreibweisen gibt es keine humane Musik, die dem Verzweifelten Vertrauen einflößen könnte. Da greifen die Stimmen der unendlichen Natur ein.

Provozieren die Vogelstimmen uns nicht zum Hinhören, Aufhorchen. Lauschen? Vielleicht lautet ja eine ihrer Botschaften: Lausche, höre – so wird Deine Seele leben!

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