von Dorothée Brüne

Letzens fragte mich ein Freund, weshalb ich immer noch Romane schreiben würde. Das sei doch unzeitgemäß. Ob ich nicht viel lieber an digitalen, kürzeren Formaten arbeiten wolle. Doch ich glaube an den Roman. Weiterhin. Die Freunde dieser Kunstform hatten immer schon damit zu kämpfen, dass sie als Romantiker, Weltfremde, Träumer verschrien waren. Man würde den Boden unter den Füßen verlieren, würde den Pflichten des Alltags ausweichen.

Die Leipziger Buchmesse ist wegen Corona abgesagt worden. Schon werden Stimmen laut, die behaupten, dass Buchmessen eh überholt seien. Wer lese noch? Der Roman habe ausgedient. Schaut man sich an, wie viele Romane geschrieben und gelesen werden, so sprechen die Zahlen allerdings eine andere Sprache. 8,5 Millionen Menschen lesen in Deutschland täglich Bücher. Der Belletristik-Anteil liegt bei über 30 %. Mehr als 70.000 neue Bücher erscheinen jährlich. Über 9.000 Millionen Euro wurden 2020 im deutschen Buchhandel verdient. Zwar gehen die kleinen Verlage ein, weil es immer mehr Selfpublisher gibt, aber: Es wird gelesen, es wird geschrieben. Die Gattung ist keineswegs am Ende.  

Was macht denn den Roman so interessant, dass Menschen nicht aufhören, ihn zu genießen? Warum diese lange Form der geschriebenen Prosa?

Bild´ dir doch mal was ein!

Auch wenn es schon oft und wiederholt erwähnt wurde: Beim Lesen eines Romans ist der Leser angehalten, eigene Bilder entstehen zu lassen. Er bekommt sie nicht fertig serviert wie bei einem Facebook-Post, einem YouTube-Video oder der Streaming-Serie. Er erschafft sich seine eigenen Bilder. Er wird zum Schöpfer. Er wird zum kreativen Menschen. Ja, diese Mühen mag so manch einer nicht auf sich nehmen. Vielleicht ängstigt es ihn sogar. Was, wenn ich mir dann immer mehr einbilde und die Grenze zwischen meinen Phantasien und der „wirklichen Welt“ verliere? Was aber – mit Verlaub – ist denn diese „wirkliche Welt“? Ist es nicht die eingebildete Welt, die ich von einem anderen Wesen, von einer Institution übernehme? Bilden wir uns alle nicht unsere jeweils spezifische eigene Welt? Müssen wir das nicht sogar?

Unser Geist braucht Bilder, wie auch Gerald Hüther immer wieder betont. An Bildern orientiert er sich. Bilder werden ihm zur Leitschnur, sie machen ihn handlungsfähig. Wir gehen in unsere vorgestellten Bilder hinein. Haben wir keine eigenen, so nimmt unser Geist die von anderen. Das mag sich eine Zeit lang angenehm anfühlen, aber meist naht schon bald ein Gefühl des Fremdbestimmtseins, der Depression.

Klimakatastrophe, Apokalypse und sonstige Alpträume

Schaue ich mir die Bilder an, die vielfach in medialen Welten gebildet werden, so sind sie nicht selten dystopischer Natur. Ein Weltuntergangsszenario nach dem nächsten wird in endlosen Netflix-Serien ausgebreitet. Von Klimakatastrophe, Zusammenbruch des Sozialsystems, Verlust der Demokratie wird gesprochen. Erzeugt werden apokalyptische Bilder. Solche dystopischen Visionen feiern immer wieder Konjunktur. Nicht erst seit biblischen Zeiten. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Untergang der Welt prophezeit. In den 80er-Jahren suchte eine weitere dystopische Welle Europa heim, gefeiert und besungen nicht zuletzt im SPIEGEL-Magazin. Schon damals ist die Welt mehrfach untergegangen. Welche eigentlich?

Auch in spirituellen Kreisen sind Apokalyptiker beheimatet. Da wird der Maya-Kalender herbeizitiert, die Prophezeiungen von Celestine, egal was, Hauptsache es belegt, dass wir vom Untergang bedroht sind. Meist gehen solche alptraumhaften Szenarien damit einher, dass es die EINE Lösung gibt, den EINEN Erretter, wir müssen ihm nur glauben und haben schon wieder die Bilder eines anderen in uns, folgen fremder Einbildungskraft. Was für ein Alptraum!

Glaubst du an Wunder?

Als ich 2019, zu Zeiten wo es noch Festivals gab, beim Celebrate Life von Thomas Hübl war, brachte eine der Referentinnen die Frage ein, ob wir uns alle schon einmal vorgestellt haben, dass die Klimakatastrophe NICHT passiert, dass wir sie verhindern können. Ob wir dafür ein Bild haben. Sie machte deutlich, dass das, was wir uns vorstellen, unsere Wirklichkeit wird. Ja, unsere Phantasie ist mächtig, unser Glaube versetzt Berge – oder erschafft Weltuntergänge.

Seitdem habe ich einen neuen Frieden mit meinem Schreiben von Romanen gefunden. Ich habe erkannt: Es geht um die Schulung der Einbildungskraft. Es geht um das Trainieren der Fantasie. Ich möchte mich darin üben, positive Bilder zu imaginieren. Nicht blind für jetzige Welten, aber doch entschieden im Blick auf das positiv Veränderbare. Vor allem geht es darum, an Wunder zu glauben. Ja, Wunder sind möglich, wenn wir sie für möglich halten. Jeder Einzelne von uns.

Doch um den Glauben an Wunder steht es oft schlecht. Da wird die Macht der Kirchen zitiert, die sich des Wunders bedient hätten. Übersehen wird dabei, dass es gerade die kirchlichen Institutionen waren, die dem Wunderglauben ein Ende bereiten wollten. Denn wenn Wunder möglich sind, dann braucht es keine Kirchen, dann braucht es nur Wege, den Einzelnen zum Wundertätigen zu machen. Wunderglaube ist eine Form der Selbstermächtigung. Aus selbstverschuldeter Unmündigkeit – möchte ich mit Kant anführen.

Mach´ das Unmögliche möglich! So lautet einer der Vorträge von Veit Lindau, in dem er Mut macht, an Wunder zu glauben. Weil sie sowieso geschehen. Die meisten passieren unbewusst. Warum dann nicht bewusst und mit klarem Verstand an Wunder glauben? Nutzen wir unsere Möglichkeit, Wunder wirklich werden zu lassen! Werden wir Schöpfer und Erschaffer von Wundern! Nutzen wir das Wunderbare! Üben wir uns darin!

Lob der Polyperspektivität

Mein Credo für Romane könnte an dieser Stelle enden, doch ich mag mich noch weiter ergießen in der Lobpreisung des fiktionalen Langtextes. Spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts werden Romane aus mehreren Perspektiven erzählt. Da gibt es in der Regel eine Hauptfigur, doch der Autor versetzt den Leserin die Lage, das Geschehen auch aus der Perspektive der anderen Charaktere anzusehen. Diese Multiperspektivität oder Polyphonie des Romans verschafft Möglichkeiten, die sonst nur eine Familienaufstellung oder systemische Therapieformen bieten. Als Leser schlüpfe ich in die Rolle verschiedener Agierender. Ich darf meinen Standpunkt wechseln und damit meinen Blick auf Welt erweitern. Dieses Anliegen des neuzeitlichen Romans – so behaupte ich keck – ist bislang noch keineswegs in alle Bevölkerungsgruppen eingedrungen. Diese Schulung haben bislang zu wenige kosten dürfen, weil sie durch langweilige Deutschlehrer, Notendressur und kurrikulare Interpretationsdiktatur davon abgehalten wurden.

Diese Multiperspektivität bringt das mit sich, was ich gerne die Schaffung eines Einbildungsraumes oder Einbildungsfeldes nenne. Wir sind als Menschen nämlich nicht nur in der Lage, uns Bilder zu erschaffen, nein, wir können ganze Räume kreieren, in denen es sich leben lässt, in denen unsere Körper mit allen Sinnen wandeln können. Um das zu können, braucht es den Perspektivwechsel. Es braucht die Fähigkeit, fremde Räume zu betreten.

Für mehr Mitgefühl

Diese Fähigkeit, in andere Räume eindringen zu können und nicht traditionell an Althergebrachtem kleben zu bleiben, erschafft noch ein anderes weiteres Wunderwerk: Wir lernen mitzufühlen, wir werden empathisch. Um empathisch zu sein, muss ich mich in einen anderen hineinversetzen können, ich muss meinen Standpunkt verlassen. Wie sieht eine Welt aus, in der ich Mitgefühl mit einem Meer voll Plastik habe? Was verändert sich, wenn ich das Leiden eines verseuchten Flusses erfühlen kann? Nicht um zu verzweifeln, sondern um auch von diesem Raum aus handeln und visionieren zu können.

Hier komme ich nochmals auf mein Credo für den Roman zurück. Ich habe gelernt, wissenschaftliche und Sachtexte zu schreiben. Als promovierte Geisteswissenschaftlerin war das unabdingbar. Zwar sind auch solche Sachtexte in der Lage, sich eines emotionalen Themas anzunehmen, jedoch in einer sehr nüchternen, wissenschaftlich genannten Sprache. Da haben Subjektivität und Emotionalität nichts zu suchen. 

Sicherlich gibt es auch sehr handlungsgetriebene Romane. Nicht zuletzt der Krimi sowie der Thriller verdanken ihren Erfolg ihrer Handlungsorientheit. Aber es gibt auch diese anderen, diese emotionaleren Prosatexte, die von Innenwelten, die von Körpersensationen, die von Gedanken und die von Gefühlen erzählen. Das können Romane. Dafür liebe ich sie. Dafür schreibe ich sie. Romane, die mit anderen Menschen mitfühlen lassen. Romane, die so etwas Verrücktes wagen, wie sich in einen Großflughafen hineinzuversetzen. Magische Romane.

Das Genre des magischen Realismus

Der aktuelle Belletristik-Markt ist durch eine erstaunenmachende Genre-Fixiertheit gekennzeichnet. Obenauf dominieren Krimis und Thriller den Markt, dem folgen Science Fiction, Fantasy, Gothic, Liebesromane, ja, es gibt tatsächlich auch das Genre des Frauenromans. Was auch immer das heißt.

In den 60ern bis 80ern entstand in Lateinamerika das Genre des magischen Realismus. Manche Wissenschaftler beschränken den Begriff alleine auf diese Zeitepoche. Es waren zumeist Geschichten, die von einer harten, bitteren sozialen Realität erzählten, in der sich plötzlich etwas Wunderbares, etwas Magisches auftat. Das waren keine Fantasy-Stoffe, die von vorneherein in abgelegenen phantastischen Welten spielten, nein, es war die Realität oder zumindest das, was durch Fakten als Realität ausgewiesen ist. 

Diese Geschichten waren Mutmacher, waren Befreier, waren Hoffnungsschenker. Auch heute noch werden solche Geschichten geschrieben: „Der Tag, an dem die Männer verschwanden“ von James Cañón bspw. Das Eindringen von Guerillatrupps in einem venezuelischen Dorf führt zum Tod aller Männer. Das ermöglicht wahre Wunder unter den Frauen des Ortes.

Auch die Romane Haruki Murakamis werden dem Genre zugeordnet. In literaturwissenschaftlichen Kreisen sprach man früher von fantastischer Literatur, zu der auch E.T.A. Hoffmann gehörte.

Ich halte dieses Genre für sehr unterschätzt und möchte eine Lanze dafür brechen, es auch in Deutschland wieder zu beheimaten, auch hier Romane in dieser Tradition zu schreiben und zu lesen. Sie führen in kein Traumreich, setzen in faktischem, objektivierbarem Dasein an und erinnern dann daran, dass Wunder möglich sind, dass sie auch heute geschehen können. Dazu braucht es Einbildungskraft und Tatkraft. Dazu braucht es Ausdauer, Übung und lange Schulung. Das geht nicht in einem kurzen Post, auch nicht mit einer Kurzgeschichte. Dazu braucht es den langen Text.

Also, lesen und schreiben wir weiter lange Prosatexte. Lassen wir uns schulen in Empathie, Polyperspektivität und Einbildungsvermögen. Lernen wir durch den Roman, an Wunder zu glauben.

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