von Sven Werchan

Ob Einzeller, Pflanze, Tier oder Mensch – wir alle ernähren uns. Diese simple Tatsache verbindet uns mit allen Lebewesen auf diesem Planeten. Hunger gehört somit zu den ältesten und ursprünglichsten Impulsen des Lebens. Wie wir ihn stillen, hat viel mit unserem Bewusstsein zu tun. Und das in zweierlei Hinsicht:

Zu Beginn der Menschheitsgeschichte waren wir in der Regel den ganzen Tag mit der Nahrungsbeschaffung beschäftigt. Heute macht diese Tätigkeit nur noch einen Bruchteil unserer täglichen Arbeit aus. Doch während die Erzeugung der Nahrung inzwischen hochtechnisiert ist, bleibt die tägliche Auswahl unseres Essens weiter von alten, archaischen Bewusstseinsstrukturen geprägt.

Dieses Ungleichgewicht erschafft inzwischen ein enormes Leid- und Konfliktpotenzial. Bei der verwirrten Suche nach guten Ernährungs-Lösungen suchen wir oft im Außen, in neuen Diäten oder Ernährungsformen. Doch:

Wir brauchen zunächst eine bewusste Ess-Evolution im Innen

Wir brauchen eine ganzheitliche (Weiter)Entwicklung unseres Ernährungsbewusstseins. Davon hängen viele andere Zukunftsfragen ab. Denn hier liegt ein überaus effektiver Hebel für zwei wichtige Themen: unsere persönliche Gesundheit und die Gesundheit der Welt.

Als Kultur haben wir bis heute ein umfangreiches Wissen über Nahrung und ihre Wirkungen im Körper zusammengetragen. Doch führt dieses Wissen allein nicht zu den nötigen Veränderungen, weder auf persönlicher Ebene noch im politischen Rahmen. In Anbetracht der medizinischen und ökologischen Konsequenzen der westlichen Ernährungsweise braucht es akut offensichtlich mehr, als uns die die Ernährungsforschung geben kann.

Wir haben es nämlich mit Ess-Impulsen aus sehr urtümlichen Quellen zu tun. Sie sind tief in unserer Physiologie und Psyche verwurzelt und bleiben dort weitgehend unberührt von modernem Wissen. Daher wird ‚unser täglich Brot‘ nicht nur aus bestem Wissen belegt. Der Körper mit seinen Programmen ist eben sehr viel älter als unser Verstand.

Könnte das ein Grund sein für die Schere im Kopf, die so viele Menschen erleben? Die Schere zwischen dem, was wir wissen und dem, was wir tatsächlich tun. Das gilt ja für viele Bereiche und liegt wohl in der Natur der Dinge. Doch wird die Frage, wie wir mit dieser Schere umgehen, immer drängender – besonders im Bereich der Ernährung.

Denn der Umgang mit dieser Frage betrifft unsere eigene Gesundheit und die Gesundheit unseres Planeten gleichermaßen. Beide Themen greifen auf eine besondere Art ineinander. Simpel ausgedrückt: Was unserer Gesundheit gut tut, ist auch gut für‘s Klima und damit für unser aller Heimat – die Erde.

Das lässt sich an vielen Beispielen belegen. Zwei besonders drängende sind die industrielle Fleischerzeugung (1) und unser Umgang mit Zucker (2)

1.) Das drastischste ist sicher die industrielle Fleischerzeugung. Tiere, die uns vom Wesen und der Physiologie so nahe sind wie Schweine und Kühe werden in solchen Massen und unter so unsäglichen Bedingungen gehalten, dass es einem fundamentalen moralischen Aussetzer gleichkommt, dies als Kultur überhaupt zu tolerieren. Ein Blick auf die ökologischen Folgen in Bezug auf den CO2 Abdruck komplettiert diesen Irrsinn. Auf 20 bis 50% am Gesamt-CO2 Ausstoß der Menschheit wird allein der Anteil der Tierhaltung geschätzt. Je nachdem ob man z.B. den CO2 Ausstoß beim Transport der Sojabohnen von Brasilien in deutsche Schweineställe u.ä. dazurechnet oder nicht. Und wem das noch nicht reicht, kann die Folgekosten der Gülleentsorgung, das nitrathaltige Trinkwasser, multiresistente Keime durch überbordenden Antibiotikaeinsatz in der Tiermast u.v.a.m. hinzunehmen. Als Arzt und Ernährungsmediziner habe ich eine Ahnung, was die medizinischen Folgen dessen sind. Und dabei geht es noch nicht einmal um die grundsätzliche Frage – Fleisch ja oder nein. Es geht um die Menge an Fleisch, die wir konsumieren, seine Herkunft, die Qualität und schließlich den Preis, den wir bereit sind dafür zu bezahlen.

2.) Unser Umgang mit Zucker ist ein anderes, vor allem gesundheitlich relevantes Thema. Warum wir Zucker mögen, ist aus Sicht unserer früheren Lebensbedingungen gut verständlich. Vor 500.000 Jahren fanden wir ihn ausschließlich in reifen Früchten. Vielleicht ist unsere süße Vorliebe einfach ein Wink der Evolution – „komm iss mich, dann bekommst Du viel Gutes“. Das stimmt für Früchte heute immer noch. Allerdings findet sich derselbe Zucker inzwischen in vielen Nahrungsmitteln, die leider nicht mehr viel Gutes enthalten. Siehe zuckerhaltige Getränke – da ist längst das Gegenteil der Fall. Unsere Zunge begreift das aber nicht. Sie ist geprägt auf: Zucker = gut für mich. Das stimmt für reife Erdbeeren, aber eben nicht für Donats. Und auch nicht für viele andere Dinge, die uns aus ökonomischen Gesichtspunkten mit reichlich Zucker angeboten werden.

Zwei Beispiele für die verheerenden ökologischen bzw. gesundheitlichen Konsequenzen, die diese Schere in unserer Welt hervorbringt. Im Grunde sind uns die Informationen bekannt. Aber wir hinken den Tatsachen irgendwie hinterher. Wie lange können wir uns das noch leisten?

Ich glaube, wir können dieses Thema weder rein politisch, noch allein über Aufklärung oder nur medizinisch lösen. Könnte die Lösung in einem umfassenderen Verständnis von Entwicklung liegen?

Warum wir Ernährungs-Bewusstsein brauchen

Weil unsere Zunge den notwendigen Dreh allein nicht hinbekommt. Bewusstsein umfasst sehr viel mehr als nur den Geschmack als Auswahlkriterium – zum Beispiel unser Ernährungswissen. Daran wird allerorten viel gearbeitet. Aber auch Wissen ist nur ein Aspekt unseres Bewusstseins. Es macht den logisch-rationalen Teil unseres Ernährungsbewusstseins aus. Essen ist jedoch eine Tätigkeit, ist ein Verhalten, das mitnichten allein logisch gesteuert ist. Bei genauerem Hinsehen, spielen sehr viele Faktoren in unserem Ess-Verhalten eine Rolle. Allein die Frage, was mich bei der Auswahl des Essens alles beeinflusst, ist kaum zu überblicken. Von aktuellen Stimmungen und Emotionen, über Gewohnheiten, anderen Menschen, bis hin zum Zeitfaktor oder der simplen Frage, was der Kühlschrank oder die Speisekarte gerade hergeben – all das hat Einfluss auf das, was und wie viel ich esse.

Eine Entwicklung unseres Ernährungsbewusstseins geschieht durch all diese Bereiche unseres Seins. Deshalb brauchen wir Ansätze, die alle Bereiche mit einbeziehen – sie integrieren. Natürlich ist Essen auch eine Frage der Lust, was mir schmeckt und wie ich mich damit fühle. Wir brauchen daher dringend eine Integration der sinnlichen Ebene, mit der Ebene der physiologischen Wirkung (Genuss und Gesundheit) einerseits und der ökologischen Perspektive andererseits. Können wir anerkennen, dass Ess-Verhalten tiefe kulturelle Wurzeln hat und mit familiären und ortsgebundenen Traditionen verknüpft ist? Denn wenn wir das tun, verstehen wir, auch warum der Bauer eben nicht isst, was er nicht kennt. Solche Sprüche sind tiefer wahr als uns bewusst ist. Dieser ‚Konservativismus‘ beim Essen war früher sinnvoll. Heute jedoch macht er es uns schwer, sogar wünschenswerte Veränderungen erfolgreich zu meistern. Wieder ein Beispiel für ein altes Programm, das uns jetzt nicht mehr dienlich ist. Davon gibt es viele. Sie alle laden uns ein, nach neuen Wegen im Umgang mit uns selbst zu suchen.

Nach einer anderen Beziehung mit unserem evolutionären Erbe. Das meine ich mit Ess-Evolution. Dafür brauchen wir mehr als nur ein intellektuelles Verständnis, was Ernährung ist. Ernährungsbewusstsein in diesem Sinne ist sehr viel umfassender. Es stellt den Menschen in all seinen Lebensbezügen in den Mittelpunkt der Betrachtung.

Wege der Bewusstheit

Achtsamer werden

Wir können lernen, unseren süßen Zahn nicht mehr als Sünde zu brandmarken, sondern mit einem gewissen Abstand auf ihn zu schauen. Achtsamkeit bietet diese Möglichkeit. Denn sie deckt nicht nur auf. Die der Achtsamkeit innewohnende Freundlichkeit ist beim Essen eine ganz wichtige Ressource. Freundlich auf das zu schauen, was wir in diesem Bereich tun oder auch nicht tun, ist stets ein erster, wichtiger Schritt hin zu einer wirklichen Entwicklung. Unser Essverhalten allein mit Ernährungswissen abzugleichen, führt leider oft zu Verurteilung und Schuldgefühlen. Achtsamkeit schaut mit Güte auf diese Themen.

Neugierig sein

Die kann z.B. mit der Frage beginnen, was mich persönlich in meinen Ess-Entscheidungen beeinflusst. Und dann im Alltag schauen: Wie wähle ich aus? Und warum dieses? Ein solcher Prozess der Bewusstwerdung ist nicht nur spannend und erhellend, er befreit unsere Ernährung zunehmend aus alten Zwängen und Gewohnheiten.

Mit Liebe

Dies umso mehr, wenn wir liebevoll auf das schauen, was wir beobachten, auch und gerade, wenn es uns nicht gut tut. Denn oft sind schädigende Verhaltensweisen nur das Resultat schmerzhafter Erlebnisse oder ein Versuch, aktuell schwierige Erfahrungen oder Gefühle zu ‚managen‘. Ein freundlicher Blick darauf bringt uns dort mehr Heilung als Vorwürfe oder Selbstanklage. Und wenn es das ist, was wir noch tun, dann verdient eben das unsere liebevolle Zuwendung.

Ausprobieren

Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen: das kreative Spielen mit meinen Essgewohnheiten, mal zu fasten, mal dieses und mal jenes wegzulassen, hat mich viel gelehrt. Zum Beispiel, was mir wirklich gut tut. Dass ich nicht gleich verhungere, wenn ich mal länger nichts esse. Oder dass manches, was mir gut schmeckt, mir gar nicht gut tut usw. In meinem Erleben war es sehr viel kraftvoller (und damit transformierender) das zu erleben als es nur irgendwo zu lesen. Das ist wohl der Unterschied zwischen Ernährungswissen und Ernährungsbewusstsein. Es umfasst die Ebene der Erfahrungen. Das schließt auch das erlebte Wissen um tiefere Zusammenhänge meiner Ess-Gewohnheiten und frühen Prägungen ein. All das konnte ich mir nicht anlesen. Es hat sich Stück für Stück offenbart. Heilung geschah dabei meist eher beiläufig, als ein Nebenprodukt meiner wachsenden Bewusstheit. Die wuchs im Alltag, wenn ich bei Stress alles vergaß, was ich gelernt hatte und danach mit liebevollem Blick auf einen solchen Moment schauen konnte. In solchen Augenblicken passierte immer wieder und ganz still eine kleine Heilung, weil mein System eine neue Erfahrung machte. Darüber wächst das Bewusstsein. Und es wächst in Spiralen. Mal langsamer, mal schneller. Mit Stagnation und Rückfällen. Wie bei allem Wachstum.

Ernährung ist in vielerlei Hinsicht ein vorzüglicher Einstieg in unsere bewusste Entfaltung. Sie bietet uns jeden Tag neue Gelegenheiten. Sie hängt mit fast jedem Lebensbereich zusammen. Eine bewusste Entwicklung ist heute aus vielen persönlichen und kollektiven Gründen heraus sinnvoll. Und wir profitieren auf allen Ebenen von einem solchen Prozess. 

Der eigene Weg

So schließt sich der Kreis mit der Frage: Bin ich bereit und motiviert, meine Ess-Evolution aktiv zu unterstützen? Die Ausgangslage ist dabei für jeden von uns verschieden und damit auch unsere persönliche Motivation. Mache ich das:

  • Für meine Gesundheit (jetzt und in Zukunft)?
  • Für den Klimawandel (meine Zukunft und die Zukunft meiner Kinder)?
  • Für meine aktuelle Lebensqualität?
  • Für mein Aussehen, mein Gewicht, meine Leistungsfähigkeit?
  • Oder weil es unser Körper über Krankheit oder Symptome einfordert?

Das sind einige der Quellen, die uns motivieren können. Es spielt keine Rolle, wo Sie überall ein Häkchen machen. Sie sind immer gleichzeitig wahr. Egal warum wir in unsere eigene Ess-Evolution einsteigen, alle Ebenen profitieren schließlich davon. An kaum einem Thema hängen so viele andere Themen wie am Essen. Mit anderen Worten: es lohnt sich in vielerlei Hinsicht.

Essen ist sehr persönlich und ein überaus intimes Thema. Daher sollten wir es auch nicht auf die reine Verhaltensebene begrenzen. Denn es hat ebenso mit unserer Identität, mit Heimat und Herkunft zu tun. Deshalb ist Bewusstsein ein so viel geeigneterer Ansatz uns diesem Thema zu nähern. Es umfasst unser ganzes Menschsein  

Dem ist meine und unsere Arbeit gewidmet. „Essen lieben lernen“ heißt das Projekt, wo wir in verschiedenen Formaten, z.B. Seminaren, zusammenkommen und gemeinsam unsere Ess-Welten erforschen. Und egal ob Sie schon weit gegangen sind oder sich noch ganz am Anfang fühlen. Wichtig ist allein, ob Sie auf einem Weg der bewussten Ess-Evolution sind.

Es ist wichtig. Zu unserem eigenen und unser aller Wohl.

 

Informationen zu aktuellen Möglichkeiten der Teilnahme finden Sie unter:
www.integrale-ernaehrung.de

 

 

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