Unvergesslich bleibt mir in Erinnerung, als ich in Skandinavien an einem trüben Karfreitag in der Abenddämmerung auf eine noch zugefrorene Bucht eines weit draußen schon eisfreien Sees zuwanderte. In der vollkommenen Stille schien die Welt den Atem anzuhalten. Je näher ich jedoch dem Ufer kam, desto vernehmlicher wurde ein dumpfes, unheimlich an- und abschwellendes Donnergrollen, bis es sich schließlich in mehreren lauten, knallenden Schüssen entlud. Die vibrierende Eisdecke barst dabei in langen Rissen auf . Nun erhob sich ein raunender Wind, und in die darauf wieder einsetzende Stille setzte der weithin tragende Gesang einer einzelnen Schwarzdrossel ein, die hingebungsvoll ihr einsames Lied von der höchsten Spitze einer Kiefer verströmte.
Oft entdeckt das suchende Auge, das dem Ohr folgt, diesen vielleicht wunderbarsten unserer gefiederten Sänger – die Amsel oder Schwarzdrossel – auf der höchsten Krone oder Spitze eines Baumes, einer Fernsehantenne oder einem hohen Hausgiebel. Ja sogar spät abends von einer hohen Straßenlaterne auf einer erhellten Verkehrsinsel, inmitten einer belebten Straßenkreuzung habe ich das Lied der Drossel überrascht vernommen. Die lichte, obertonreiche, glockenreine Klangfarbe durchdrang mühelos das Gebrumm des Verkehrslärms.

Im Vogelgesang drückt sich weit mehr aus als das Funktionale von Revierabgrenzung, Werbung, Lockung, Vertreibung von Rivalen. Warum sonst würden Singvögel in Gefangenschaft, unabhängig von Balz und Revierabgrenzung das ganze Jahr über singen?
Vögel sind die einzige Art von Lebewesen, die mit uns Menschen durch ihre besonderen musikalisch-seelischen Lautäußerungen, ihren Gesang verbunden sind, ausgenommen an dieser Stelle Delphine und bestimmte Walarten. So wurden auch schon im mittelalterlichen „Roman de la Rose“ (Frankreich, um 1200) die seelischen Qualitäten des Vogelgesangs in ihrer Beziehung zu menschlichen Seelenqualitäten und menschlicher Musikalität eindrücklich beschrieben: „Die seit langen Monaten verstummten Vögel sangen wieder voller Hingabe ihre Frühlingshymnen. … Nie zuvor hörte ich einen derartigen Vogelgesang, süß und liebessehnend, wie ein Konzert von hoch und tief gestimmten Instrumenten. Ich blieb stehen und lauschte: Nachtigallen, Häher, Schwärme von Staren, Zaunkönige, Turteltauben, Distelfinken, Schwalben, Lerchen und Meisen. Die Amseln und Drosseln aber schienen die anderen Vögel mit ihrem Gesang noch übertreffen zu wollen. Es war wie ein Gottesdienst, in dem die Vögel wie Gottes Engel ihre Lieder sangen …“.

Im „Roman de la Rose“ klingt noch ein anderes Motiv an: Die Vogelseele lebt vogelfrei von Erdenschwere und räumlicher Begrenzung zugleich in tiefer Verbundenheit mit der Erde und dem sie umhüllenden Luftraum. Dadurch hat seit Urzeiten die Befreiung des Körpers von der Erdenschwere und die Klangwelt der Vögel eine tiefe Faszination auf uns Menschen ausgeübt. Kein anderer unserer Singvögel verbindet diese beiden Elemente wohl so sehr wie die Lerche, die selbst während ihres vertikalen Auffliegens noch aus voller Brust zu singen vermag. Ja, sie scheint während ihres Aufsteigens ganz und gar jubelnder Gesang zu werden, und dabei ihre körperliche Hülle im Blau des Äthers aufzulösen. Wo würde wohl deutlicher, dass Vogelgesang auch Ausdruck höchster, befreiter und befreiender Lebensfreude ist?

Vor allem fasziniert auch die Überwindung der Erdgebundenheit im Vogelflug, und je größer und schwerer ein Vogel ist, um so wunderbarer berührt uns dieses Wunder, wie etwa bei den Kranichen und Schwänen.
Das Wunder des Fliegens wird vielleicht noch übertroffen vom Wunder der großen Vogelzüge im Frühjahr und im Herbst. Daneben ist es aber auch der Gesang, ja sogar die Sprechfähigkeit bestimmter Vogelarten- man denke an Papageien oder unsere heimischen Rabenvögel, allen voran der hochintelligente Kolkrabe, dessen Stimm – und Gehörorgan differenzierter ausgebildet ist als bei unseren musikalischsten Singvögeln.

Es klingt auch schon im „Roman de la Rose“ an, wenn der Gesang der Vögel mit dem Gesang der Engel Gottes verglichen werden: Fliegende Vögel sind schon in ihrer physischen Erscheinungsform und Lebensweise vermittelnde Wesen zwischen „oben“ und „unten“, zwischen Himmel und Erde, und werden in allen Mythen der Welt auch als Vermittler zwischen Irdischem und Geistigem angesehen, als himmlische Boten, Schicksalskünder und Bringer von Glück oder Unglück. Die zwei Raben Hugin (Gedanke) und Munin (Erinnerung), welche die oberste Gottheit Wotan (bzw. in Nordeuropa Odin) begleiteten, flüsterten ihm Kunde ins Ohr, die sie mitbrachten von ihren Aus-Flügen hinunter ins Reich des Irdisch-Zeitlichen.

Und so kann auch der Vogelgesang verstanden werden als klangliche Brücke zwischen Erde und Himmel, zwischen der an den erdenschweren Leib gebundenen Menschenseele und der die Schwerkraft spielend leicht überwindenden Vogelseele.
Und der Sänger und Musiker Harald Knauss berichtet von seinen Schamadrosseln, dass diese in Dur und Moll singen, Gesangsübungen nachahmen und geradezu mit dem probenden Sänger und seiner Frau, die ebenfalls Sängerin ist, im Duett bzw. Quartett singen. „Da das Gefühlsleben der Vögel eine verhältnismäßig hohe Stufe der Entwicklung erreicht hat, und da sie nur in Tönen ausdrücken, was sie bewegt, können die Triebfedern ihres Singens nicht zu einseitig veranschlagt werden.“(H. Tiessen, „Die Musik der Natur“).

Von der Lerche, diesem Vogel der Hoffnung und der österlichen, austreibenden Frühlingskräfte heißt es, dass sie noch vor Sonnenaufgang zu solcher Höhe aufsteigt, dass sie die Sonne, die hinter dem Horizont aufsteigen wird, schon erblickt und sie, trotz der Dunkelheit, ihr Erscheinen verkündet.

Foto: Karl Dichtler / pixelio.de