Wie alle wünschen uns nährenden Kontakt und liebevolle Beziehungen. Doch unsere jahrzehntealten ­Abwehrmuster, die oft fordern, sich vor unserem ­Gegenüber zu schützen, verhindern die ersehnte ­Nähe. Die erreichen wir nur, indem wir unsere Tendenz, Recht haben zu wollen und dem ­anderen „Böses“ zu unterstellen, als Schutzmuster erkennen und uns für den ­dahinter liegenden Schmerz öffnen. Berührbarkeit für den Schmerz ist die Eintrittskarte in die Liebe. 

 

Die Dialektik von Liebe und Schmerz

Es gibt ein paradoxes Phänomen: wir sehnen uns einerseits nach Wertschätzung, Anerkennung und Liebe in den Kontakten, die wir eingehen. Wir wollen Resonanz und Reaktionen erzeugen, wir wollen gesehen und verstanden werden mit unseren Bedürfnissen und wir wollen bei Anderen etwas bewirken und berühren mit unserem Sein. Mindestens unbewusst wissen wir, wie die andere Person reagieren sollte, damit der Kontakt sich nährend anfühlen könnte.

Andererseits ist uns oft nicht wirklich klar, was „guter, nährender Kontakt“ konkret heißt. Wir wissen gut, was uns nicht gefällt, aber was tut uns gut? Was sollte die andere Person machen? Wie sollte der Kontakt positiv aussehen? Interessanterweise können wir nährenden Kontakt oft nicht konkret ins Bewusstsein lassen, geschweige annehmen, überhaupt wahrnehmen, ihn präsent und hingebungsvoll aufnehmen und empfangen. Freud nannte es den „Wiederholungszwang“, wenn wir uns chronisch in Beziehungen oder in Sehnsuchtstrancen wiederfinden, die uns nicht gut tun.

Dieses Paradox hat einen guten, weil schützenden Grund. Würden wir uns mit unseren verletzlichen Seiten von einem nährenden Kontakt berühren lassen, käme uns ins Bewusstsein, dass wir genau diesen liebevollen Kontakt bisher vermisst haben, wahrscheinlich seit Kindertagen. Und das tut weh. Ein neuer liebevoller Kontakt kann sogar sehr starke emotionale Schmerzen auslösen, weil wir bewusst fühlen, welche Kontaktqualität wir bisher nie erlebt haben.

Schmerz bewusst fühlen

Nähe ist das Ergebnis eines langen Prozesses von Vertrauen und Versicherung, ein langsames Aufeinander-Zugehen, ein gegenseitiges Streicheln und Zähmen der Seele, ein Aufrichten und Auffangen, Bereichern und Unterstützen – ohne absolute Absicherung auf ewige Verbindlichkeit. Eine solch neuartige Nähe durch Wertschätzung, Anerkennung und Liebe kann starke Schmerzen über die bisherige Entbehrung mit hervorrufen. Wenn wir uns auf den Weg zu umfassenderem Kontakt begeben, werden wir also auch Tränen und Schmerzen fühlen, die wir lange nicht fühlen wollten oder konnten. Solche Entbehrungsschmerzen sind unangenehm und doch ist es einzig heilsam, wenn wir sie bewusst fühlen, an uns heranlassen und durcharbeiten. Durch Schmerzen werden wir feiner, zarter und berührbarer.
Berührbarkeit (für neue Liebe und alten Schmerz) macht Angst, aber sie ist des Menschen wertvollste Ressource zur Heilung alter Wunden, sie weist uns den Weg mitten in den umfassenden Kontakt, raus aus dem Teufelskreis von Projektionen. Mit unserer Berührbarkeit machen wir uns bereit, unsere Bedürfnisse nachhaltig zu befriedigen, feine und zarte Facetten unseres Seins zu leben, bedeutungsvolle Beziehungen einzugehen.

Mut und Bewusstheit

Es braucht einerseits Mut, sich der Berührbarkeit anzuvertrauen, um aus alten Projektionen auszusteigen. Es braucht andererseits ein selbstkritisches Bewusstsein, um unsere Ängste und Projektionen kennen zu lernen. Wenn wir die Dialektik von Wertschätzung und Schmerz nicht kennen, halten uns Scham, Schuld und Angst vor Berührbarkeit in alten Projektionen gefangen und wir bleiben einsam in unserer Sehnsuchtsblase und Rechthaberei. Ängste verstärken sich sogar in Beziehungen und ziehen die andere Person mit in den eigenen Teufelskreis. Einzig durch Beziehung findet man zu einer Person, aber es braucht Bewusstheit und die mutige Bereitschaft, kritisch über sich nachzudenken und nachzufühlen – anders ist verlorenes Vertrauen nicht wieder herzustellen. Mut zu Berührbarkeit und Bewusstsein über Projektionen sind die notwendigen Zutaten um Geborgenheit in Freiheit zu üben.