Meine persönliche Erfahrung mit Männern und mit Beziehungen hat mich früh im Leben veranlasst, mich der Erforschung dieser Beziehungsdynamik hinzugeben. Wenn unsere Beziehungen nicht so sind wie sie sein sollen, dann beginnen die meisten Menschen an sich zu zweifeln. Sie interpretieren ihre Situation als persönliches Versagen. Ich glaube, das ist ungerecht. Dieses Thema ist zu groß für den Einzelnen. Ich glaube, unsere Schwierigkeiten in Beziehungen haben eine wesentlich größere Dimension. Im Grunde ist es größenwahnsinnig von sich zu erwarten, das individuell lösen zu wollen. Die meisten Probleme die wir in Beziehungen haben sind kollektiver Natur und sollten deshalb bei ihrer Heilung das Kollektive mit einbeziehen. Insofern wird es im Folgenden um allgemeine Muster oder Landkarten gehen mit dem sich die komplexe Landschaft des Beziehungsgefüges besser verstehen lässt. Mir persönlich hat das auf meinem Weg geholfen, mich und auch mein eigenes Handeln und Fühlen besser zu verstehen und natürlich auch das der Männer, mit denen ich eine Beziehung hatte.
Beginnen wir mit einem ganz schlichten Modell, das sehr anschaulich macht, was weiblich und was männlich ist..

Einführung in das männliche und weibliche Prinzip
Das männliche und das weibliche Prinzip sind die grundlegenden Prinzipien, die sich in der Evolution seit Millionen von Jahren bewährt haben. Sie sind nicht gleichzusetzen mit Mann und Frau, da jeder Mensch beide Prinzipien in sich trägt. Das weibliche und das männliche Prinzip beziehungsweise Yin und Yang wurden in der frühen ganzen Geschichte der Menschwerdung als das erkannt, was sie sind: einander ergänzende, komplementäre Prinzipien, die sich gegenseitig ausgleichen. Entsprechend wurden sie für ihre jeweiligen Qualitäten verehrt. Dass ein Prinzip wichtiger und wertvoller sein könnte als das andere, ist im Rückblick eine äußerst absurde Idee. Die Geschichte lehrt, dass solche Ideen und Vorstellungen sich verselbstständigen und eine eigene sogenannte kulturelle Evolution hervorbringen.

Das männliche Yang-Prinzip
Dem männlichen Prinzip oder dem Yang-Prinzip, das der Mann in der Sexualität in seiner Essenz erfahren will, liegt zugrunde, dass es den weiblichen Körper öffnet, in ihn eindringt und seinen Samen in die weibliche Vagina ergießt. Wir sehen, dass das männliche Prinzip bedeutet, im Schwarm von vielen Samenzellen im Wettkampf bis zur Eizelle vorzudringen, in sie einzudringen und mit ihr zu verschmelzen. Wir sehen ebenfalls, dass es höchstens eine Samenzelle schafft, während alle anderen absterben. Beim Yang-Prinzip stehen also Wettkampf, Konkurrenz und vor allem Zielorientierung im Zentrum. Das männliche Prinzip bedeutet, aktiv auf etwas
zuzugehen, vorzustoßen und etwas zu erreichen. Es bedeutet auch in neues, unbekanntes Terrain vorzustoßen. Damit eine  Samenzelle das Ziel erreicht, wird das Sterben vieler anderer Samenzellen in Kauf genommen. Das Männliche spürt sich durch Konkurrenz, Kampf und Sieg. Die Bedeutung von Kampf oder Wettbewerb sollten wir nicht unterschätzen. Er ist für das Yang-Prinzip existentiell. Dabei kann es auch ruhig etwas rauer zugehen.

Das weibliche Yin-Prinzip
Das weibliche Prinzip ist, wie der weibliche Körper auch tatsächlich komplexer: Das weibliche Prinzip oder Yin-Prinzip besteht darin, sich zu öffnen, erst den männlichen Penis und dann den Samen aufzunehmen, mit ihm zu verschmelzen, indem die Eizelle sich den Samen einverleibt, und dann dieses durch Samen und Eizelle neu entstandene Leben aktiv zu nähren und ununterbrochen zu versorgen. Dabei ist es nicht unbedingt der erste, schnellste Samen, der in die Eizelle eindringt. Viele der Samenzellen, die es überhaupt bis zur Eizelle geschafft haben, umringen die rund hundertmal größere Eizelle und versuchen durch ihre Membran in sie einzudringen. Ein einziger Samenkopf wird durchgelassen. Nach welchen Kriterien die Eizelle diesen Samenkopf und nicht jenen aufnimmt, ist noch völlig unbekannt.
Anschließend verschließt sie sich sofort wieder, so dass kein weiterer Samenkopf eindringen kann. Die Eizelle spielt also auch beim Befruchtungsvorgang eine äußerst aktive Rolle und keine passive.
Das Weibliche bedeutet, über den konkreten Vorgang der Befruchtung hinaus, an dem männliches und weibliches Prinzip beteiligt sind, viel Energie und Zeit aufzubringen, um das neu entstandene Wesen werden und wachsen zu lassen. Das Weibliche gibt ihm dafür Raum und Zeit. Dieses Gewähren von Raum und Zeit ebenso wie das permanente Zuführen von Energie in Form von  Nährstoffen ermöglicht Transformation. Darauf folgt das Gebären des neuen Lebens und die Fortsetzung des Prozesses des Nährens, Pflegens und Hegens außerhalb des eigenen Körpers. Die Energien fließen jetzt hauptsächlich über die Brust. Der aktive
Beitrag des weiblichen Prinzips an der Entstehung und Erhaltung de s Lebens ist also ungleich höher als der des Männlichen. Diese Tatsache wird oft übersehen.
Das Yin-Prinzip besteht neben dem Öffnen, Aufnehmen und Verschmelzen darin, einen Rahmen zu bieten, in dem Menschen, Dinge, Prozesse sich entwickeln und entfalten können und zusätzlich mit weiblicher Energie versorgt werden. Sie werden
genährt. Das nun folgende Modell die Polarität der Geschlechter macht deutlich, dass diese Prinzipien sich bei Mann und Frau unterschiedlich zeigen, was einerseits die Unterschiede zwischen Mann und Frau ausmacht, andererseits zu einer gegenseitigen Anziehung führt.

Polarität der Geschlechter
In dieses Modell fließen unterschiedliche Quellen ein. Das Magnetstabmodell mit Plus und Minus stammt von Diana Richardsen, die in ihrem Buch Zeit für Weiblichkeit wunder bar diesen Energiefluss in der Sexualität beschrieben hat. Beide Energiepole sind komplementär. Dann haben wir hier das Wissen aus der Tradition nordamerikanischer Ureinwohner/innen über die unterschiedliche Form der Energieaufnahme von Männern und Frauen integriert. Wir stellen das Ganze zusätzlich in den Zusammenhang von Yin und Yang.Beginnen wir mit der Energieaufnahme. Indigene Völker haben oft uraltes Wissen bewahrt: Frauen beziehen einen Großteil ihrer Energie von unten aus der Erde, denn von da kommt die Yin-Energie. Die Energie strömt die Beine hinauf (oder wird direkt
durch die Vagina aufgenommen), sie spiralt und potenziert sich das erste Mal in den Eierstöcken, wird dann nach oben in die Brüste gebracht, dort spiralt und potenziert sie sich ein weiteres Mal und wird dann an die Welt zurückgegeben beziehungsweise in die Welt gebracht. Dies kann in materieller Form durch die Abgabe von Milch über die Brust geschehen, aber auch über ein Liebesgefühl. Es kann über die Augen geschehen, über die Haut, über Worte oder einfach energetisch. Entscheidend ist, dass die Energien ins Fließen kommen. Frauen sind erfüllt und fühlen sich lebendig, wenn ihre Liebe fließen kann. Liebe ist transformierte Energie. Fülle und Überfluss folgen, wenn die Liebe fließen darf und nicht irgendwo im Körper blockiert wird.
Männer beziehen den Großteil ihrer Yang-Energie von oben aus dem Himmel (deswegen sind alle heute bekannten männlich dominierten Religionen ebenso wie die meisten gängigen spirituellen Konzepte nach oben ausgerichtet). Sie läuft von oben nach unten gerade durch, spiralt und potenziert sich zum ersten Mal in den Hoden und wird dann häufig über den Penis wieder an die Welt abgegeben, materialisiert in Form von Sperma. Männer wollen ihre Energie, ihre Bewegung, ihre Kraft und ihre Ausdauer spüren und geben. Mit ihrer wachen Präsenz bringen sie die Energien der Frau ins Fließen. Männer wollen ihre Stärke und ihre Bewegungsenergie verschenken.
Männer sind nicht in gleicher Weise geerdet wie Frauen. Sie müssen sich bewusst mit der Erde verbinden. Männer, die nicht mit der Erde oder, anders ausgedrückt, mit dem Umfeld verbunden sind, laufen Gefahr, abzuheben. Sie verlieren die Bodenhaftung. Es gibt unzählige Beispiele unverbundener Männer und ihrer Taten. Verbundene Männer treffen Entscheidungen, die dem Umfeld zu Gute kommen. Bei den amerikanischen Ureinwohnern heißt das konkret, dass eine Entscheidung daraufhin überprüft werden sollte, ob sie für die nächsten sieben Generationen einen Nutzen darstellt. Nur dann wird sie umgesetzt! Sicherlich kann das für unsere heutige
Zeit so nicht übernommen werden, dennoch gibt diese kurze Formel einen Hinweis darauf, was gemeint ist. Entscheidungen werden immer für die Gemeinschaft mit getroffen. Das Ganze wird im Blick behalten, es geht nicht um individuelle Macht
oder Status, das ist mit Verbundenheit gemeint.
In unserer Kultur geht es sehr häufig um den eigenen kurzfristigen Nutzen, die Folgen für das Umfeld sind zweitrangig. Wir brauchen uns nur klarzumachen, in welchem Zustand unsere Erde ist, um diesen Zusammenhang zu verstehen. Alte indigene Völker haben Rituale, in denen es darum geht, die Verbundenheit mit der Erde immer wieder neu herzustellen. Die Schwitzhüttentradition der
nordamerikanischen Ureinwohner ist ein Beispiel für ein solches Ritual. Ursprünglich war dieses Ritual nur für Männer, weil Frauen durch ihren Zyklus natürlicherweise diese Verbindung haben und sich einmal im Monat erneuern. Dann gehen sie in die Mondhütte, um gemeinsam mit den anderen Frauen zu visionieren. Heute ist die Schwitzhütte bei Frauen genauso beliebt und aufgrund unserer kulturellen Abtrennung von der Erde auch für Frauen außerordentlich hilfreich, um sich an ihre zyklische Natur zu erinnern und die Verbundenheit mit der Erde wiederzubeleben.
Ursprünglich sind Frauen natürlicherweise über ihren Zyklus mit allen Rhythmen der Erde, des Mondes und des Universums verbunden. Männer müssen diese Verbundenheit erst herstellen, sie ist ihnen nicht natürlicherweise gegeben. Eine weitere Möglichkeit für Männer, diese Verbundenheit herzustellen, ist die sexuelle Vereinigung. Für den Mann ist es möglich, darüber nicht nur die eigene Schöpferkraft zu spüren, sondern auch Verbundenheit mit der gesamten Schöpfung zu erfahren.
Auch deswegen sucht der Mann die Frau. Durch die Geschichte aller Jahrtausende und der Menschwerdung hindurch sucht der Mann die Frau.
Die Sexualität hatte ursprünglich immer auch eine rituelle Bedeutung. Sie diente der Rückverbindung des Mannes mit dem Ursprung und sorgte gleichzeitig dafür, die weiblichen Energien ins Fließen zu bringen, damit Leben und die Fülle der Schöpfung sich entfalten können. Alle alten Religionen haben gemein, dass ihre tiefsten Wurzeln jeweils zur sexuellen Vereinigung des Männlichen und des
Weiblichen führen. Hierin liegt das eigentliche Mysterium der Schöpfung.

Alexandra Schwarz-Schilling

Auszug aus ihrem Vortrag im Sommercamp ZEGG Juli 2011  

Abb: © ZEGG

Über den Autor

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Jahrgang 1964, Studium der Anthropologie, Ethnologie und Vor- und Frühgeschichte, Diplom-Kauffrau, Diplom-Psychologin, Gründerin und Geschäftsführerin der Coaching Spirale GmbH, Buchautorin, LehrCoach mit internationaler kulturübergreifender Erfahrung, Anbieterin einer Coaching Ausbildung

Sie ist spezialisiert auf das Erkennen und Nutzen komplexer Zusammenhänge, um zum Beispiel die kollektive Dimension von Paarbeziehungen zu verstehen und zu transformieren und die Entwicklung von menschen- und lebensfreundlichen Visionen zu unterstützen.

Mehr Infos

28.6. – 1. 7. Die Polarität von Mann und Frau: Unsere persönlichen und kollektiven Verletzungen heilen
mit Alexandra Schwarz-Schilling, Dolores Richter, Rocco Hammes
Wenn unsere Beziehungen nicht so sind, wie sie sein sollen, dann beginnen die meisten Menschen an sich zu zweifeln. Dieses Thema ist zu groß für den Einzelnen. Unsere Schwierigkeiten in Beziehungen haben eine wesentlich größere Dimension. Die meisten Probleme, die wir in Beziehungen haben, sind kollektiver Natur und sollten deshalb bei ihrer Heilung das Kollektive mit einbeziehen. Insofern wird es in diesem Seminar um allgemeine Muster oder Landkarten gehen, mit dem sich die komplexe Landschaft des Beziehungsgefüges besser verstehen lässt. Wir geben mit theoretischem Wissen und vielen praktischen Übungen Einblick in:
• das weibliche und das männliche Prinzip
• die kollektive Entwicklung des Weiblichen und Männlichen
• die Ursache unserer kollektiven Verletzung
• Möglichkeiten der Heilung