von Oona Brose

Das Innere Kind ist eine von vier Bewusstseinsebenen in uns, über die wir das Leben wahrnehmen und darauf reagieren. Diese Ebenen formen unsere Persönlichkeit, mit der wir durchs Leben gehen. Frühe Erfahrungen und Prägungen können jedoch dazu führen, dass diese Ebenen verletzt oder fragmentiert sind. Dadurch können wir unser wahres Wesen nicht frei entfalten. Stattdessen entwickeln wir Verhaltensmuster, die uns limitieren oder immer wieder in denselben Kreisläufen festhalten. Wenn wir diese alten Belastungen auflösen, kann das Innere Kind seine positiven Eigenschaften entfalten.

Die Selbstintegration nach Judith Mücke ist eine Methode der Persönlichkeitsentwicklung. Es geht darum, diese Bewusstseins- und Erlebnisebenen unserer Persönlichkeit kennenzulernen und die Fragmentierungen zu integrieren, damit sie heilen können. Das erlaubt uns, wieder ganz zu uns selbst zu werden und führt dazu, dass wir unser Leben freier, selbstbestimmter und erfüllter leben können.

Was ist das Innere Kind?

Das Innere Kind ist die Ebene in uns, die in ihrer ursprünglichsten Form all unsere Offenheit, Mitgefühl, Feingefühl und Verbundenheit mit allem um uns herum beherbergt. Damit sich diese Ebene gesund entfalten kann, braucht sie viel liebevolle Aufmerksamkeit, Schutz und Zuwendung. Dieser Anteil braucht deswegen am meisten Zuwendung von uns, weil er meist am stärksten belastet ist. Wir fühlen uns dort oft einsam, allein, bedürftig, unsicher, verlassen und ängstlich. Wenn wir nicht in Kontakt mit unserem Inneren Kind sind, macht dieses es uns schwer, und trägt dies auch nach außen und in unsere Beziehungen. Dann reagieren wir auf unser Umfeld aus diesem verletzten Anteil, also aus unseren Prägungen und unserem Schmerz heraus. Dann versucht das Innere Kind das ganze System zu führen und mit Situationen im Alltag fertig zu werden, denen es gar nicht gewachsen ist, was sein Verletztsein und Überfordertsein verstärkt.

Unsere Eltern und Bezugspersonen haben in den meisten Fällen selbst nie erfahren und gelernt, was es bedeutet, anwesend und aufmerksam zu sein. Sie konnten uns oft nicht das geben, was wir unseren Bedürfnissen entsprechend gebraucht hätten, wie zum Beispiel das Gefühl von Schutz oder liebevolle Zuwendung. Vielleicht waren sie zwar aufmerksam, aber ihre Anteilnahme war beeinflusst von ihren eigenen Belastungen. Möglicherweise waren sie fordernd, kontrollierend, hatten starke Erwartungen an uns. Als Kinder nehmen wir hingebungsvoll und offen alles hin, was uns begegnet. Zum einen, weil es in der kindlichen Natur liegt, aber auch, weil wir keine andere Wahl haben. Aus Selbstschutz fangen wir unbewusst an, uns anzupassen. Wir stellen unsere eigenen Bedürfnisse hinten an und verlieren mit der Zeit unseren Bezug zu ihnen. Vielleicht entwickeln wir das Gefühl, falsch zu sein oder verlieren den Zugang zu unseren Gefühlen. Diese Abspaltung von uns selbst hält uns davon ab, unser Potenzial zu entfalten.

Jedes Innere Kind ist anders, hat andere Dinge erlebt und sie anders verarbeitet. Klar ist, dass wir in den ersten Lebensjahren alles von unseren Eltern abgucken. In dieser Zeit lernen wir von ihnen, wie Beziehungen funktionieren und was Sicherheit für uns bedeutet. Fehlt es uns an liebevoller Präsenz, halten wir emotionale Distanz für normal, was spätere Nähe bedrohlich wirken lassen kann. Wenn unsere Eltern übergriffig waren und emotionale Nähe von uns eingefordert haben, denken wir später, dass eine gesunde Beziehung bedeutet, für die Gefühle des anderen verantwortlich zu sein.

 

Meine Erfahrung

Da die Ebene des Inneren Kindes, bis wir älter werden, die einzige ist, mit der wir auf das Leben reagieren und schauen können, ist es klar, dass sich dort so viel Unverarbeitetes ansammelt.

Als ich mit der Arbeit an mir selbst angefangen habe, hatte ich starke Verlustangst. Ich bin in Beziehungen, zwischen dem Wunsch, mit der Person zu verschmelzen, und dem Drang nach vollständiger Unabhängigkeit, regelmäßig gewechselt und hatte immer Angst, etwas abzubekommen oder einfach das Gefühl falsch zu sein. Die Innere-Kind-Arbeit hat mir erlaubt überhaupt anzuerkennen und zu verstehen, dass es keinen plötzlichen, schockierenden Vorfall braucht, um als kleiner Mensch Trauma zu erleben. Regelmäßige bewusste oder unbewusste Vernachlässigung (damit meine ich nicht nur eine physische oder materielle Vernachlässigung, sondern auch und vor allem die emotionale) kann sehr gravierend sein.

Meine Verletzungen und mein Schmerz, die in meinem Inneren Kind lagen, haben meine Beziehungen oft schwer gemacht. Immer wieder habe ich, durch das Gelenktsein von meinen alten Gefühlen, die Erfahrungen gemacht, die dieselben verstärken und bestätigen.

Ich habe viel persönlich genommen und war schnell verletzt. Die Begegnung mit meinem Inneren Kind hat mir ein Meer an Schmerz, Traurigkeit und Verletzung gezeigt. Darüber war ich mir zwar teilweise bewusst, aber nicht reif und erwachsen genug, mich diesen mit Mut und Verantwortung zu stellen.


Während der Inneren-Kind-Arbeit konnten sich meine Belastungen – Schicht für Schicht, wie bei einer Zwiebel – langsam zeigen und anfangen zu heilen. Außerdem konnte mein Erwachsenen-Ich, die Frau, die ich inzwischen bin, reifen und die Führung und Verantwortung für mich und mein Leben übernehmen. Meine Selbstfürsorge und Selbstliebe sind tiefgreifend gewachsen, ich kann meine Bedürfnisse spüren und habe keine Angst mehr, diese zu kommunizieren. Meine Beziehungen sind viel harmonischer geworden; ich bin ehrlicher, klarer und liebevoller und zweifle weniger an mir. Meinen Selbstzweifel schwinden zu sehen, ist wahrscheinlich eine der wertvollsten Veränderungen. Ich hatte zwar schon immer ein gutes Gespür – sowohl für mich als auch meine Mitmenschen -, habe dem aber oft nicht vertraut, auch wenn es sich meist als zutreffend herausgestellt hat. Dass ich nun in mich selbst und meinem Gefühl immer mehr vertraue, bereichert mein Leben erheblich. Es gibt mir Kraft, Zuversicht und Klarheit, die mich tragen und voranbringen.

 

Mit dem Inneren Kind in Kontakt kommen

Was wir heute also verstehen und erkennen können, ist, dass uns als Kinder die Instanz des Erwachsenen in uns fehlte. Wir waren vollkommen abhängig von unseren Eltern und unserer Umgebung. Heute können wir diese entdecken und stärken, Verantwortung übernehmen und uns geben, was uns fehlte. Der Kontakt zum Inneren Kind ist der Schlüssel dazu.

Wie können wir in Kontakt mit unserem Inneren Kind kommen? Es ist der Teil in uns, der besonders feinfühlig, offen und verbunden ist. In die Natur zu gehen oder Begegnungen mit Tieren kann ein guter Weg sein. Sich einen ruhigen Raum zu schaffen, einfach mal seine Augen zu schließen und seinen Körper zu spüren, ist ein anderer. Wenn wir dann mit dem Inneren Kind in Kontakt kommen, kann es sein, dass Gefühle, wie zum Beispiel Traurigkeit, Einsamkeit, Unverbundenheit, Wertlosigkeit oder auch Scham und Gefühllosigkeit, zum Vorschein kommen. Versuche, dann nicht aus dem Kontakt mit dir selbst zu gehen und dich abzulenken. Dass sich diese Gefühle – so unangenehm sie auch sein mögen – zeigen können, ist der erste Schritt zur Heilung. Lass sie zu und bleibe präsent.

Wenn wir dann gestärkt und bewusst in unserer Erwachsenenebene sind, können wir den Gefühlen Raum geben, ohne dass sie uns und unseren Alltag regieren. Wir können die entsprechenden Schritte machen, um auf unserem Selbstheilungsweg voranzuschreiten und wieder ganz zu uns selbst zu werden.

 

Bild unten: © Petra auf Pixabay

Über den Autor

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Mehr Infos

29, aus Potsdam, ist Trainerin für Selbstintegration (nach J. Mücke), Sängerin und ausgebildete Zenthai-Shiatsu-Praktikerin. Mit ihrer Leidenschaft für Musik, Natur und Bewegung begleitet sie Menschen auf dem Weg zu mehr Selbstintegration und Persönlichkeitsentwicklung. Sie ist Teil des Praxis-Teams des Instituts für Persönlichkeitsentwicklung in Ferch. Ihre Arbeit, geprägt von ihrem vielseitigen Wissen, inspiriert zu mehr Leichtigkeit, Selbstliebe und Authentizität.

c/o IP – Institut für Persönlichkeitsentwicklung Judith Mücke 
Burgstraße 13
14548 Ferch



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