Ein Erklärungsversuch von Dieter Halbach

Seit ca. fünfzig Jahren habe ich in verschiedenen Gemeinschaften gelebt (u.a. im Ökodorf Sieben Linden) und geforscht (u.a. in der Zeitschrift OYA). Immer wieder habe ich erleben müssen, wie einzelne Menschen und ganze Gemeinschaften sich in sektenhafte Strukturen begeben haben. Ich habe in diesem Text versucht, aus den eigenen und aus historischen Erfahrungen mit „Sektenbildungen“, die gemeinsamen Merkmale heraus zu filtern. Ich habe dafür viele Berichte aus heutigen Gemeinschaften ausgewertet (Osho, Otto Mühl, 12 Stämme, Andrew Cohen, Sogyal Rinpoche, Go & Change u.a.) und mir auch historisch Kommunismus, Faschismus (insbesondere die Eliteschulen Napola) und Islamismus angesehen. Diese Strukturen finden sich sowohl in politischen wie in spirituellen Gruppen und in Institutionen wie den Kirchen oder dem Militär wieder. Die unterschiedlichen Gewänder können uns immer wieder verblenden, aber die Mechanismen der Anziehung und Manipulation sind oft ähnlich, eben auch in Gemeinschaften.

 

1. Heilserwartung – das große Versprechen

Am Anfang steht ein Versprechen, das umfassend und utopisch ist. Es verspricht gleichzeitig die persönliche Rettung und die Heilung der Welt. Durch diese umfassende Versprechung und seine hohe Energie wird der Einzelne von der mühsamen Umsetzung entlastet und all seine eigenen Defizite zum Motor der Erwartung gemacht. Durch ihre Unerfüllbarkeit wird die Erwartung ständig aufrecht erhalten und an die Gruppe gebunden. Ganzheitlichkeit ist die gemeinsame Sehnsucht, aber die Frage ist „Was gehört alles nicht in dieses Ganze?“ Was wird ausgeschlossen? Wo wird nicht hingesehen? Eine Ganzheitlichkeit, die nicht wirklich alles – auch die eigenen Schatten- umfasst, wird dann schnell totalitär. Der überpersönliche Zweck heiligt die angewandten Mittel und erfordert die Unterordnung des einzelnen kleinen „Egos“. Du gehörst zum Kreis der Auserwählten. Aber nicht der einzelne Mensch steht im Mittelpunkt, sondern die Gruppe ist der Träger des Ideals. Wen die Gruppe fallen lässt, der fällt aus der Welt. Also lieber bleiben und glauben.                                                                     

 

2. Höhere Mächte – die einzige Wahrheit

Die Fähigkeiten der Heilung werden der Gruppe von höheren, unangreifbaren und unüberprüfbaren Mächten verliehen. Das kann ein Gott sein oder auch eine Ideologie, die als einzige Wahrheit daherkommt. Im Kommunismus waren es z.B. objektive Gesetzmäßigkeiten der Geschichte, die von der allwissenden Partei vollzogen wurden. In der Kirche war es der allwissende Gott. Man kann alles zu seinem Gott machen. Wichtig ist, dass der Einzelne sich als Teil eines Ganzen fühlen kann, das wichtiger und richtiger ist, als er selbst. Indem er sich selbst aufgibt und einordnet, kann er an der Gnade der Heilung teilnehmen. Endlich gibt es eine Gewissheit im bisher ungewissen Leben.

 

3. Traumaaktivierung – Grundlage der Neuprogrammierung

Der ganze Umwandlungsprozess basiert darauf den Einzelnen zu demontieren und mit seinen Schwächen zu konfrontieren, um ihn nach der Desillusionierung neu aufzubauen als „Kollektiv-Ideal-Ich“. Getrennt von seiner bisherigen Umwelt werden die Wunden der Biografie bewusst wieder aktiviert. Der Weg zum Ideal geht über traumatische Prozeduren. Die Erwählten erleben sich als ein Mängelwesen, das die Abweichung zum Ideal immer wieder hervorbringt. Die als therapeutischer Prozess gedeuteten körperlichen Qualen, psychischen Ausgrenzungen und ein Wiedererleben eigener Ängste werden kombiniert mit Erweckungserlebnissen und Lustgefühlen. Sie sollen als ein Reinigungsprozess verstanden werden, der die Grundlage für eine gesunde Neuprogrammierung bildet. Der Pychoterror der ständigen Produktion und der Eliminierung der Abweichung vom Ideal wiederholt in traumatischer Weise frühere Wunden und Entwicklungsstufen. Die Überwindung des eigenen „Totpunkts“ zielt auf die Wiedergeburt in der „zweiten Familie“ des Kollektivs. Rituale zur Überwindung des „Totpunktes“ (oft Männlichkeitsrituale, wie im Krieg oder in der Wildnis, heute eher psychodynamische Situationen) sind zentraler Teil jeder kollektiven Neuprogrammierung. Erst muss der Einzelne gebrochen werden, dann kommt das Paradies.

 

4. Das Kollektiv – vom nährenden zum strafenden Prinzip

Der Einzelne wird Teil eines umfassenden Kollektivs. An die Stelle der bisherigen Kontakte zu Freunden und Familie, tritt das Kollektiv als alleinige soziale Bindung. Zu Beginn hat das Kollektiv nährende und mütterliche Qualitäten. Der Einzelne wird zunächst aufgewertet und umsorgt, er kann sich als etwas Besonderes fühlen. Emotional, spirituell und materiell ist er geborgen wie in einem Mutterleib und findet endlich seine Heimat. Es findet eine Regression statt, eine beinahe kindliche Abhängigkeit wird geschaffen. Doch sobald diese Bindung installiert ist, tritt das Kollektiv auch mit strengeren Zügen auf. Das weiche „mütterliche“ Prinzip wird durch das harte „väterliche“ Prinzip überformt. Das Kollektiv wird jetzt fordernd, strafend und droht mit Ausgrenzung, wenn der Einzelne sich nicht unterordnet. Die Zuwendung muss verdient werden und dient jetzt als Mittel der Herrschaft. Der Einzelne muss im Namen der Liebe und der Erlösung auch hart sein können, seine Mitmenschen und seine eigenen Ängste kontrollieren und für seinen Glauben nach innen und außen bereit sein zu kämpfen.

 

5. Verkörperung – der Repräsentant der Wahrheit

Der Glaube braucht eine Figur, einen Führer an den wir leibhaftig glauben können. Das darf jedoch keine erkennbare Person mit Schwächen und Fehlern und einem stinknormalen Alltag sein. Die Person muss vollständig hinter der Rolle zurücktreten, um eine vollständige Identifikation zu ermöglichen. Die gekonnte Inszenierung ist ein Merkmal dieser Überhöhung. Der Repräsentant bezieht seine Weisungen direkt von der höheren Erkenntnis, er ist nur ein Werkzeug dieser Wahrheit. Ihn zu kritisieren oder zu hinterfragen bedeutet die Wahrheit selbst anzugreifen. Für den Gläubigen aber bietet diese Figur – oder auch die von ihm eingesetzten Statthalter – ein weiße Leinwand der ungehinderten Projektion aller Wünsche nach Erlösung. Für die Führungsfigur selbst bedeutet das jedoch eine beinahe unmögliche Herausforderung sich als Mensch all den Versuchungen der gottgleichen Macht zu entziehen. Die Skandale um Missbrauch der Macht sind vorprogrammiert.

 

6. Double Bind – das Gefängnis der unwahren Beziehung

Durch die Inszenierung und die Gruppenideologe entsteht ein Graben zu dem inneren intuitiven Wissen der Teilnehmenden, eine bedrohliche Ahnung der Unstimmigkeit. Der Widerspruch zwischen der inneren Wirklichkeit und den sie umdrehenden Worten und Inszenierungen führt, statt zu Loslösung und Kritik, eher zu einer noch engeren Bindung. Das ist der Effekt des double-bind, wie wir ihn aus der Familiengeschichte kennen: „Mama hat dich ganz doll lieb“ wird in einem drohenden Ton gesagt und der Körper weit weg gehalten. Also klammere ich mich noch enger an sie. Der Führer sagt „ich liebe euch alle“ und „ihr seid frei“ (oder wie Osho immer sagte „glaubt mir nicht!“) und jeder weiß, dass er tief fallen wird, wenn er nicht gefügig ist. Die Zweifel, die im Gläubigen permanent entstehen, werden zu einer „inneren Prüfung“ umgedeutet und zu einer Bringschuld gegenüber der Gruppe und ihrem Führer. Die doppelte Bindung profitiert so auch noch durch den Zweifel.

 

7. Spirituelle Keule – Konflikte ohne Gegenüber

Wenn es dennoch zu einem Konflikt kommt, sind es ausschließlich der Führer und die Repräsentanten des Systems, die ihn interpretieren dürfen. Der Kritiker wird als krank bzw. noch nicht so weit entwickelt dargestellt. Seine Kritik ist nur eine Projektion seiner inneren Konflikte. Es gibt jedoch umgekehrt keine Möglichkeit der Kritik des Systems, da die Gruppe und ihr Repräsentant ja davon befreit sind. Nur sie haben die Macht der Interpretation. Jede Kritik beweist nur den Widerstand gegen die eigene Befreiung. „Schau bei dir selbst! Du trägst den Konflikt in Dir selbst, DU musst dich entwickeln.“, ist eine gerne benutzte spirituelle Keule. „Ich helfe dir nur dabei, dich selbst zu erkennen!“ sagt der Guru und entzieht sich dem Feedback und damit dem irdischen Kontakt. Es gibt keine sachbezogene, intersubjektive Auseinandersetzung, da es keine Wirklichkeit außerhalb der „wahren“ Wirklichkeit mehr gibt. Das Zulassen von horizontalem, gegenseitigem Feedback ist der Weg aus der Beziehungsfalle. Gerade eine gute und dienende Führung braucht wahrhaftiges und angstfreies Feedback.

 

8. Kirche und Staat – wenn die spirituelle zur politischen Macht wird

Um ihre Interpretationshoheit durchzusetzen, ist es zwingend notwendig, dass die spirituelle Führung gleichzeitig auch die politische Macht besitzt. Sonst könnten ja alle plötzlich wieder gehen. Selbst wenn wir anerkennen, dass es spirituelle Lehrer und höhere Bewusstseinsstufen gibt, sollten wir vermeiden uns in eine umfassende Abhängigkeit zu begeben. Wir können lernen unsere Hingabe zu erforschen und dennoch freie Menschen mit einem eigenen Leben bleiben. Die Trennung von Kirche und Staat ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die wir zu leicht vergessen. Ein spirituelles Lehrer-Schülerverhältnis basiert auf Freiwilligkeit, es kann individuell eingegangen und beendet werden. Die politisch – materielle Führung einer Gemeinschaft aber muss demokratisch gewählt werden und darf nicht feudal durch spirituelle Führerschaft geerbt werden. Denn auch „weniger bewusste“ Mitglieder haben Menschenrechte und dürfen in einer Demokratie wählen. Mit anderen Worten: Vorsicht, wenn du mit deinem Guru zusammenlebst – gebe ihm nicht die Macht über die Haushaltskasse/das Eigentum/die Entscheidungen usw.! Denn wenn unsere individuelle „Kirche“ zum Herrscher über unser Leben wird, wenn sie zum feudalen Staat wird, dann ist unser Leben real in Gefahr. Denn dann verlieren wir nicht nur unsere innere, sondern auch unsere äußere Freiheit. Der Einzelne hat dann keine eigenständigen Rechte mehr, am besten auch keinen Besitz und kein Privatleben, er würde ohne die Gemeinschaft nicht existieren können. Es wird ihm suggeriert, erst dann hätte er alle Hürden und Ängste überwunden und erst dann dient sein Leben der Befreiung. Jede Unterdrückung kann damit als Maßnahme der Befreiung interpretiert werden. Selbst kluge Menschen begeben sich durch ihre Sehnsucht in diese totalitäre Abhängigkeit einer Zeit vor der Aufklärung und der Menschenrechte.

 

9. Missachtung der Gesellschaft – vom Entzug des Resonanzraumes

Nur in deiner Gemeinschaft bist du sicher. Die bestehende Gesellschaft ist krank und hat schlechte Absichten. Sie ist eine Bedrohung und kein Ausweg. Sie ist die Ursache deines Leidens. Der Beweis: Du trägst die Wunden dieser Gesellschaft in dir.  Die Gesellschaft ist ein monolithischer Block, sie besteht nicht aus unterschiedlichen Menschen und Strömungen. Alle ihre Bemühungen und Argumente sind nur Ausflüchte, weil sie die Wahrheit nicht zulassen will. Alle Beziehungen zur Gesellschaft, zur Familie und zu Freunden und zu allen weniger bewussten Menschen sollten abgebrochen werden oder sollten alleine der Missionierung dienen. Durch diese Abwertung des gesellschaftlichen Umfeldes wird die Isolation vollendet und der aktuelle Verursacher der Probleme – nämlich das Kollektiv und der Guru – wird zum einzig möglichen Retter verklärt. Ein weiterer Schritt zur Bindung an die Gemeinschaft. Wie ein Kind sind ihre Mitglieder nun auf deren seelische und praktische Nahrung angewiesen.

 

Diese Muster sind sehr allgemein beschrieben. Dennoch können sie hoffentlich mit eigenen Erfahrungen in Kontakt gebracht werden. Ich möchte für diese Muster sensibel machen, denn sie können auch aus eigentlich positiven Motivationen hervorgehen Wie immer spielen auch unsere eigenen Traumatisierungen und regressiven Sehnsüchte dabei eine Rolle. Gemeinschaften sind ja oft auch der Wunsch nach „Anders-Sein“ und nicht unbedingt nach Anerkennung unseres immer noch vorhandenen „So-Seins“. So kann aus ersehnter Ganzheitlichkeit ein totalitärer Entwurf werden, aus Müdigkeit in Basisdemokratien die Sehnsucht nach Führung, aus nicht erreichbaren Idealen die Sehnsucht nach Erlösung durch eine höhere Wahrheit, aus eigener Unzulänglichkeit der Wunsch nach radikaler Selbstveränderung, aus Selbstzweifeln der Wunsch nach Führung durch eine höher entwickelte Leitung usw.

So können auch harmlos scheinende Gruppen sich zu geschlossenen Systemen entwickeln. Doch es gibt auch Anlass zur Hoffnung: In der großen gesellschaftlichen Entwicklung zu mehr Bewusstheit und Selbstverantwortung können all diese Herausforderungen uns zu einem realistischen und achtsamen inneren Wachstum dienen. Die wiederkehrenden Muster können zu Warnzeichen in der eigenen bewussteren Wahrnehmung werden. Und unsere Gemeinschaften können zu Orten der respektvollen und sicheren Begegnung in Vielfalt werden.

Mit der Weite des Wohlwollens zwischen uns.

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*